Eine Frau und ein Mann gehen in der vom Beben betroffenen türkischen Stadt Antakya durch Gebäudetrümmer
APA/AFP/Sameer Al-Doumy
Erdbebenkatastrophe

Anwälte zeigen Erdogan wegen Tötung an

Über 48.000 Menschen haben bei dem verheerenden Erdbeben in der türkisch-syrischen Grenzregion vor gut zwei Wochen ihr Leben verloren. Weitere Tote gab es bei jüngsten Nachbeben Anfang der Woche. Gleichzeitig stellt sich weiterhin die Frage nach der Verantwortung: Zahlreiche Anwältinnen und Anwälte haben Anzeige gegen den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und etliche weitere Amtsträger eingereicht.

Dem Präsidenten, Ministern, Gouverneuren und Bauunternehmen werfen sie etwa vorsätzliche sowie fahrlässige Tötung und Amtsmissbrauch vor, wie aus der Strafanzeige hervorgeht. „Als Juristen dieses Staates können wir unsere Augen nicht vor so einer Ungerechtigkeit verschließen“, sagte Anwältin Pinar Akbina Karaman. 61 Juristinnen und Juristen hätten bisher unterschrieben.

In der Türkei wird weiterhin diskutiert, wie und ob das Ausmaß der Erdbebenkatastrophe hätte verhindert werden können. Die türkische Opposition wirft der Regierung etwa vor, nicht genügend in die Vorsorge und Erdbebensicherheit der Gebäude investiert zu haben und auch jetzt in der Krisenantwort zu versagen. Vielfach waren Gebäude im Zuge der Erdstöße zusammengestürzt.

Regierung weist Vorwürfe von sich

Die türkische Regierung weist derartige Vorwürfe unter anderem als Fehlinformationen von sich und argumentiert, eventuelle Schwierigkeiten seien dem Ausmaß der Katastrophe geschuldet.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan mit Rettungskräften in der vom Beben betroffenen türkischen Provinz Hatay
APA/AFP/Yasin Akgul
Erdogan mit Rettungskräften in der Provinz Hatay – die Kritik am Katastrophenmanagement der türkischen Regierung hält an

Tausende Nachbeben

Unterdessen wurden bisher Tausende Nachbeben registriert. Der türkischen Katastrophenschutzbehörde AFAD zufolge wurden mehr als 7.000 Nachbeben aufgezeichnet. Nach zwei weiteren starken Beben in der südosttürkischen Provinz Hatay Dienstagabend wurden aus der Türkei sechs, aus Syrien fünf Tote gemeldet.

Die Behörden riefen die Menschen dazu auf, nicht in ihre Häuser zurückzukehren. Medien berichteten, dass es in der Provinz Hatay zu wenig Zelte gebe und viele Menschen dennoch in beschädigten Häusern übernachteten. Die Katastrophenschutzbehörde teilte nun mit, sie habe bereits in der Nacht 6.000 weitere Zelte in die Region geliefert.

Erneut Beben zwischen Schuttbergen

Ein weiteres Erdbeben im syrisch-türkischen Grenzgebiet hat wieder Opfer in beiden Ländern gefordert. Bei den zwei Nachbeben kamen mindestens elf Menschen ums Leben, hundert weitere wurden verletzt. Die Kritik an den Hilfsmaßnahmen wird unterdessen immer lauter.

Vorwürfe gegenüber Katastrophenschutzbehörde

Der Bürgermeister der Gemeinde Samandag, Refik Eryilmaz, sagte am Dienstag in einem bei YouTube veröffentlichten Interview mit dem Journalisten Cüneyt Özdemir, dass es einen dringenden Bedarf an Zelten gebe. Demnach seien 15.000 Zelte notwendig. Eryilmaz warf der Katastrophenschutzbehörde AFAD logistische Fehler vor.

So seien zunächst keine individuellen Zelte verteilt worden, weil ein Zeltcamp errichtet werden sollte. Zudem fehle es an dringend benötigten sanitären Einrichtungen. Erst kürzlich habe AFAD angefangen, Zelte zu verteilen. Die Menschen seien sehr wütend und würden die Nächte draußen in der Kälte verbringen, sagte Eryilmaz.

Menschen in Syrien in Panik

Auf syrischer Seite gerieten Bewohnerinnen und Bewohner in den Orten Aleppo, Tartus und Hama in Panik und sprangen von ihren Häusern, teilte die in Großbritannien ansässige Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit.

Die Aktivisten meldeten bereits kurz nach den erneuten Erdstößen 470 Verletzte, davon 320 in den von der Regierung kontrollierten Regionen und 150 in den Rebellengebieten. Auch der Chef der Rettungs-NGO Weißhelme, Raed al-Saleh, meldete 150 Verletzte für die syrischen Regionen, die von Rebellen gehalten werden.

In der Türkei stieg unterdessen die Zahl der Toten infolge des Erdbebens auf 42.310, wie AFAD am Dienstag mitteilte. In Syrien wurden bisher rund 5.900 Tote im Zusammenhang mit den verheerenden Beben gezählt. Die Zahlen werden nur noch unregelmäßig aktualisiert – von über 48.000 Toten ist aber jedenfalls auszugehen.

Schuttberge laut UNO beispiellos

Das Beben war nach Angaben der Vereinten Nationen nicht nur nach Todesopfern das schlimmste in der türkischen Geschichte. Auch die Berge an Schutt und Geröll seien beispiellos, sagte Louisa Vinton, die Vertreterin des UNO-Entwicklungsprogramms (UNDP) in der Türkei, am Dienstag in einem UNO-Briefing in Genf.

In der Türkei hätten die Behörden inzwischen 70 Prozent der 927.000 in Mitleidenschaft gezogenen Gebäude inspiziert. 118.000 davon seien eingestürzt oder so beschädigt, dass sie abgerissen werden müssten.

Viele Millionen Tonnen Schutt und Asche

Das UNDP schätzt den Umfang von Schutt und Asche auf 116 bis 210 Millionen Tonnen. Nach Angaben von Vinton fielen bei dem letzten großen Erdbeben 1999 in der Türkei 13 Millionen Tonnen Schutt und Asche an. Die Vereinten Nationen fürchten die Ausbreitung von Krankheiten. Sie hätten unter anderem Abfallcontainer und Desinfektionsmittel in die betroffene Region in der Türkei geschickt. Dringend benötigt würden tragbare Toiletten. 1,5 Millionen Menschen seien obdachlos geworden.