Nicolas Philibert mit Preis
APA/AFP/Tobias Schwarz
73. Berlinale

Goldener Bär für Dokufilm „Sur l’Adamant“

Der Dokumentarfilm „Sur l’Adamant“ des französischen Regisseurs Nicolas Philibert hat den Goldenen Bären der Berlinale gewonnen. Der Film erzählt von einer Hilfseinrichtung für Menschen mit psychischen Problemen in Paris. Ein Silberner Bär ging an die Österreicherin Thea Ehre als beste Nebendarstellerin. Für die beste schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle wurde eine Achtjährige ausgezeichnet.

„Sind Sie verrückt, oder was?“ Ungläubig reagierte der französische Regisseur Nicolas Philibert, als sein Dokumentarfilm „Sur l’Adamant“ am Samstagabend mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde, dem höchsten Preis der Berlinale. Der Film schildert den Alltag in einer Tagesheimstätte für Menschen mit psychischen Erkrankungen, die auf einem schwimmenden Gebäude auf der Seine mitten in Paris untergebracht ist.

Sowohl die, die L’Adamant als Patientinnen und Patienten besuchen, als auch jene, die sie betreuen, sprechen im Film als Expertinnen und Experten ihres eigenen Lebens. „Ich wollte das Bild differenzieren, das wir von Verrückten haben, das sonst so stigmatisierend ist“, so Philibert in seiner Dankesrede.

Thea Ehre mit Preis
Reuters/ Jorg Carstensen
Thea Ehre mit ihrem Silbernen Bären für ihre Darstellung in „Bis ans Ende der Nacht“

Preis für österreichische Schauspielerin

Für die beste schauspielerische Leistung in einer Nebenrolle gewann die österreichische Schauspielerin Thea Ehre einen Silbernen Bären. In Christoph Hochhäuslers Krimi „Bis ans Ende der Nacht“ spielt die Welserin eine Transfrau, die gemeinsam mit einem Polizisten verdeckt im Drogenmilieu ermitteln soll.

Für die beste Leistung in einer Hauptrolle wurde die spanische Nachwuchsdarstellerin Sofia Otero ausgezeichnet, sie spielt in „20.000 especies de abejas“ („20.000 Species of Bees“) ein achtjähriges Kind, das auf der Suche nach seiner geschlechtlichen Identität ist. Auf der Bühne bedankte sie sich beim Filmteam und bei ihrer Familie.

Sofia Otero
Reuters/Fabrizio Bensch
Nach Angaben des Festivals ist die achtjährige Sofia Otero die bisher jüngste Preisträgerin

Den Silbernen Bären für die beste Regie gewann der französische Filmemacher Philippe Garrel für „Le grand chariot“ (Dt.: „Der große Wagen“). Der Film erzählt die Geschichte einer Puppenspielerfamilie. Garrels eigene Kinder Louis, Esther und Lena spielen die erwachsenen Kinder, die nach dem Tod des Vaters mit der Frage konfrontiert sind, ob und in welcher Form sie die Tradition fortsetzen wollen.

Musik und Feuer

Mit dem Jurypreis wurde Joao Canijos bittere Familienaufstellung „Mal Viver“ (Dt.: „Schlecht leben“) ausgezeichnet, für die Bildgestaltung in „Disco Boy“ die französische Kamerafrau Helene Louvart, für das beste Drehbuch Angela Schanelec für ihr undurchschaubares Ödipus-Drama „Music“.

Den Großen Preis der Jury bekam Christian Petzolds „Roter Himmel“. Der Wiener Thomas Schubert spielt darin einen Schriftsteller, der bei einem Arbeitsaufenthalt in von Waldbränden bedrohten Gegend so sehr mit sich selbst beschäftigt ist, dass er dabei fast den Zusammenbruch seiner Welt übersieht.

Die argentinisch-österreichische Koproduktion „Adentro mio estoy bailando“ (Dt.: „The Klezmer Project“) aus der Reihe „Encounters“ gewann den Preis für den besten Erstlingsfilm, Regie führte das Duo Leandro Koch und Paloma Schachmann, der Film wurde durch das ORF-Film/Fernsehabkommen unterstützt.

Und der Dokumentarfilm „De Facto“ von Selma Doborac in der Reihe „Forum“ erhielt den Caligari-Filmpreis 2023 für einen Film, der aus Sicht der Jury „eine neue Form künstlerischer Zeugenschaft ermöglicht, die auch unseren Glauben an Gerechtigkeit herausfordert“.

Sommersex und Animation

Es war die erste reguläre Festivalausgabe unter dem Leitungsduo Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek, die die Berlinale 2020 von dem als Adabei-Intendant umstrittenen Dieter Kosslick übernommen haben. Die beiden vergangenen Festivaljahrgänge waren speziell, 2021 zunächst in einer reinen Onlineausgabe, 2022 in einer von Regiestars gespickten Luxusedition unter pandemischen Sicherheitsmaßnahmen.

Heuer allerdings fehlten dem Wettbewerb die großen Namen empfindlich, bis auf ein paar ewige Berlinale-Haudegen wie Petzold und Hochhäusler. 19 Filme umfasste der Wettbewerb, in einer bemerkenswerten Bandbreite filmischer Formen. Da gab es das große, etwas sperrige Schriftstellerinnenbiopic „Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste“ von Margarethe von Trotta.

Kirsten Stewart
Ali Ghandtschi
Mariette Rissenbeek, Jurypräsidentin Kristen Stewart, Jurymitglied Golshifteh Farahani und Carlo Chatrian

Es gab komödiantische Untertöne wie in der kanadischen Tech-Satire „BlackBerry“ über Aufstieg und Fall des gleichnamigen Smartphone-Produzenten, dessen Marktdominanz für einen kurzen, glücklichen Moment fix schien. Hochromantischen, hochsommerlichen Sex gab es in Emily Atefs flirrender Wenderomanze „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“, fantastische Erzähltechniken wiederum in dem japanischen Animationsfilm „Suzume“.

Eine rigide Gesellschaftsparabel ist Rolf de Heers australischer Film „Das Überleben der Freundlichkeit“, in dem eine geknechtete Frau sich befreit und durch Outback und Gebirge wandert, auf der Suche nach jenen, die sie dem sicheren Tod überlassen haben.

Kunststudenten und Superkräfte

Immer wieder stand bei den Wettbewerbsfilmen das Private im Vordergrund, und gesellschaftliche Umstürze und Katastrophen geben dafür nur die Kulisse, etwa beim chinesischen Animationsfilm „Art College 1994“, der von einer Gruppe von Kunststudenten zwischen akademischer Tradition und Postmoderne handelt.

Dass in einem internationalen Wettbewerb mit 19 Beiträgen keiner den Versuch von wesentlichen Aussagen zum Zustand der Welt unternimmt, wirkt wie ein Zeugnis der Resignation angesichts einer zunehmend komplexen, bedrohlichen Weltlage – zumal sich die Berlinale seit vielen Jahren in der Rolle des politischsten der europäischen A-Festivals gefällt.

Die Politik und insbesondere der Ukraine-Krieg waren in diesem Jahr dafür abseits des Wettbewerbs dauerpräsent, von der live gestreamten Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj bei der Eröffnung über Sean Penns Doku „Superpower“ bis zu den Solidaritätsbekundungen am Freitagabend anlässlich des Jahrestages des Angriffskrieges.

Falsche Nasen, echte Goldbären

Unter den Filmen, die Weltstars nach Berlin brachten, war auch so mancher Fehlgriff dabei, wie das schmierenkomödiantische Biopic „Golda“, in dem Helen Mirren mit falscher Nase und Perücke die israelische Premierministerin Golda Meir während des Jom-Kippur-Krieges im Oktober 1973 spielt, und Robert Schwentkes Satire „Seneca“, in der John Malkovich den Philosophen im Dienste Kaiser Neros als politisch impotenten Schwafler darstellt.

Bono und Steven Spielberg
Berlinale 2023/Richard Hübner
Der fabelhafte Mr. Spielberg an der Seite von Laudator Bono

Den Goldenen Bären für sein Lebenswerk bekam Steven Spielberg schon am Donnerstag. Die Laudatio hielt U2-Sänger Bono, der den Regisseur als „meisterlichen Geschichtenerzähler“ bezeichnete. Bei der Berlinale war nicht nur Spielbergs jüngster, autobiografischer Film „Die Fabelmans“ zu sehen, sondern unter anderem auch der stilbildende „Weiße Hai“ und sein erster und womöglich bester Film, „Duell“, den Spielberg mit nur 24 Jahren gedreht hat.

Bis zur Wochenmitte waren rund 267.000 Tickets verkauft worden, vonseiten der Berlinale freute man sich über volle Säle. Es ist das erste Jahr, in dem das Festival wieder ohne Pandemiebeschränkungen stattfand. Im vergangenen Jahr hatte nur die Hälfte der Plätze besetzt werden dürfen. Damals wurden rund 156.000 Tickets verkauft. Vor der Pandemie waren es rund 330.000 Karten gewesen.