Junge Frau steht an einem Fenster
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Psychische Gesundheit

Junge in der Dauerkrise

Bereits unter der Coronavirus-Pandemie haben junge Menschen stark gelitten: Depressionen, Angstzustände und Suizidgedanken nahmen seit 2020 stark zu. Eine Verschnaufpause gibt es mit Krieg, Teuerung und Klimakrise nicht, sagen Fachleute gegenüber ORF.at. Sie fordern dringend Hilfe. Priorität hat das Thema inzwischen auch in Brüssel.

Wie dringlich das Problem ist, zeigt ein Blick auf die Zahlen: Fast jeder zweite junge Mensch in Europa litt in der Pandemie unter psychischen Problemen und erhielt dafür nicht die notwendige Hilfe. Zu diesem ernüchternden Ergebnis kam die OECD in einem Bericht Ende 2022. Junge Menschen waren stärker betroffen als ältere. In Österreich traten 2021 etwa bei 41 Prozent der 18- bis 24-Jährigen Symptome einer Depression auf, bei der Gruppe der Erwachsenen insgesamt waren es 24 Prozent.

Ähnlich besorgniserregend sind die Österreich-Daten zur internationalen HBSC-Studie (Health Behaviour in School-aged Children Study), bei der Tausende Schülerinnen und Schüler im Alter von zehn bis 17 Jahre zwischen November 2021 und Juli 2022 befragt wurden. Die mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen verschlechterte sich in der Pandemie demzufolge weiter. Besonders deutlich zeigt sich das bei den älteren Mädchen – mehr dazu in science.ORF.at.

Entspannung ist angesichts multipler Krisen nicht in Sicht. Der Anteil junger Menschen mit Symptomen einer Depression und Angstzuständen sei im Vergleich zu Vorpandemiezeiten nach wie vor erhöht, sagte Doron Wijker von der OECD im Gespräch mit ORF.at. Sie verweist dabei auf Befragungen von 18- bis 29-Jährigen in Frankreich und Belgien Ende 2022.

Teuerung und Krieg nun größte Belastungen

Schulbezogene Sorgen, familiäre Probleme, Teuerung und Krieg würden Junge inzwischen mehr belasten als die Pandemie, sagte Christoph Pieh, der an der Donau-Universität Krems zum Thema forscht, über jüngste Erkenntnisse auf ORF.at-Anfrage. Das stimmt mit den Erkenntnissen des „Mental Health Report“ des Versicherungskonzerns Axa – durchgeführt vom Meinungsforschungsinstitut Ipsos – überein.

Von den befragten 18- bis 24-Jährigen in Deutschland sagten 90 Prozent, dass die steigenden Preise negativen Einfluss auf ihre emotionale Verfassung hätten. Drei Viertel der Befragten nannten auch Krieg und das eigene Körperbild als wichtige Einflussfaktoren auf ihre emotionale Verfassung. Fast zwei Drittel der 18- bis 24-Jährigen sehen sich zudem durch soziale Netzwerke belastet. Auch die Angst vor dem Klimawandel ist unter Jungen bekanntlich groß.

Expertin: Risikofaktoren durch multiple Krisen erhöht

„Das Zusammentreffen dieser Krisen hat die Risikofaktoren für eine schlechte psychische Gesundheit erhöht und viele der Schutzfaktoren für eine gute psychische Gesundheit geschwächt“, sagte Wijker. Mit Risikofaktoren sind mitunter finanzielle Instabilität und Arbeitslosigkeit gemeint, mit Schutzfaktoren hingegen soziale Kontakte, Arbeitstätigkeit und Bildung.

Welche Rolle finanzielle Schwierigkeiten in dem Zusammenhang spielen, zeigte sich schon in der Pandemie. „Junge Menschen in prekären finanziellen Umständen waren anfälliger für Depressionen“, so Wijker.

„Erhebungsdaten zeigen, dass im EU-Durchschnitt zwei Drittel der jungen Menschen (im Alter von 18 bis 29 Jahren) mit finanziellen Schwierigkeiten als depressiv eingestuft werden könnten, verglichen mit knapp der Hälfte derjenigen, die keine finanziellen Schwierigkeiten angaben“, erläuterte Wijker. Als besonders gefährdet galten dem OECD-Bericht zufolge im Laufe der Pandemie vor allem auch junge Frauen sowie Angehörige sexueller sowie ethnischer Minderheiten.

Frauen und Minderheiten besonders belastet

Ähnliches zeigte sich laut Untersuchungen der Gesundheitsbehörde CDC auch in den USA. Fast drei von fünf Mädchen im Teenageralter verspürten im Jahr 2021 anhaltende Traurigkeit, doppelt so viele wie Burschen. Eines von drei Mädchen erwog demnach ernsthaft einen Suizidversuch. Die CDC verwies darauf, dass sich depressive Symptome bei Mädchen und Burschen unterschiedlich äußern. Burschen neigen demnach zu mehr Aggressivität.

Die Ergebnisse, die auf Umfragen basieren, die unter Teenagern in den gesamten USA durchgeführt wurden, zeigten auch ein hohes Maß an Gewalt, Depressionen und Selbstmordgedanken unter lesbischen, schwulen und bisexuellen Jugendlichen. Mehr als jeder Fünfte dieser Gruppe gab an, im Jahr vor der Umfrage einen Suizidversuch unternommen zu haben. In den USA wie auch in Europa reißen Klagen über den Mangel an Hilfsangeboten sowie monatelange Wartezeiten nicht ab.

EU-Kommission arbeitet an Aktionsplan

In der EU gibt man sich indes im Kampf gegen psychische Erkrankungen entschlossen: Im September kündigte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrer Rede zur Lage der Union einen EU-Aktionsplan für psychische Gesundheit an. Für viele war das ein historischer Moment. Es sei ein erster Schritt, um gegen die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen anzukämpfen, betonte EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides jüngst bei einem Gespräch mit jungen Menschen aus der ganzen EU und der Ukraine.

Stella Kyriakides
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EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides will im Juni einen EU-Aktionsplan zum Thema präsentieren

Doch die Ernüchterung nach der Ankündigung setzte bei der studierten Psychologin schnell ein: „Ich dachte mir, wo fangen wir an?“, sagte sie. Bis Juni will die Kommission die Strategie in ihren Grundzügen erarbeiten und präsentieren. Der Dialog mit Betroffenen liegt der Zypriotin nach eigenen Angaben am Herzen. Die Initiative könne nicht auf alle Fragen Antworten finden, sie würde aber erstmals in allen Mitgliedsstaaten Aufmerksamkeit für das Thema schaffen. Die Initiative sei nur ein Anfang, räumte die Kommissarin auch ein.

Enttäuschung bei NGO

„Es ist fantastisch, dass diese Initiative auf den Weg gebracht wurde. Aber sie ist nicht legislativ, was eine Schande ist“, sagte Fatima Awil von der NGO Mental Health Europe gegenüber ORF.at. „Mit dem, was da ist, müssen wir sicherstellen, dass es korrekt gehandhabt wird“, sagte Awil auch.

Konkret forderte sie mehr Forschung und Budget für das Thema. Unter den Vorschlägen der NGO, die die Koalition für psychische Gesundheit und Wohlbefinden im EU-Parlament unterstützt, zählen auch ein zentralisiertes Datensystem in der EU, die Einführung von Koordinatoren sowie die Umsetzung des psychosozialen Modells.

Es müsse viel mehr communitybasierte Unterstützungssysteme geben, so Awil. Sie forderte weiters die Entwicklung einer europäischen Strategie. Psychische Gesundheit müsse in allen Bereichen berücksichtigt werden. Die aktuelle Initiative könne ein Anfang sein, aber nicht mehr.

Für einen bereichsübergreifenden und ganzgesellschaftlichen Ansatz sprach sich auch OECD-Forscherin Wijker aus. Zu ihren Empfehlungen zählt auch die Stärkung von Telemedizin, die psychische Betreuung niederschwellig und zu einem niedrigen Preis verfügbar mache. Lobend erwähnte Wijker zudem Island und Finnland, wo sozioemotionale Fähigkeiten an der Schule gelehrt werden.

Monatelange Wartezeiten in Österreich

Dass es auch hierzulande Handlungsbedarf gibt, verdeutlichen nicht zuletzt die 138.000 Unterschriften für das Jugendvolksbegehren im vergangenen Frühjahr. In einem Entschließungsantrag wurden Mitte Februar eine bessere psychosoziale Versorgung und mehr Bewusstsein für das Thema psychische Gesundheit in Schulen gefordert.

Laut einer Datenerhebung der Österreichischen Liga für Kinder- und Jugendgesundheit (Kinderliga) waren 2020 knapp 39.000 Kinder bei Psychotherapeutinnen und -therapeuten in Behandlung, 41.000 bei klinischen Psychologinnen und Psychologen. Sie mussten allerdings im Schnitt rund vier beziehungsweise dreieinhalb Monate auf ihre Termine warten.

Die „Therapielücke“ müsse geschlossen werden, fordert auch Diakonie-Sozialexperte Martin Schenk. Es gehe um „kassenfinanzierte Therapie, um bessere regionale Versorgung und um diversere Formen der Angebote“ wie Primärversorgungszentren, regionale Therapiezentren oder mobile Teams, heißt es in einem Statement an ORF.at. Um die Benachteiligung chronisch kranker Kinder in Schulen und Kindergärten zu beenden, sprach er sich zudem für Stützkräfte sowie Schulassistentinnen und -assistenten aus.