Kaja Kallas
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Estland

Putins „eiserne“ Gegnerin vor Wahlkrimi

In Estland finden am Sonntag Parlamentswahlen statt – damit verbunden ist die politische Zukunft von Premierministerin Kaja Kallas. Die 45-Jährige machte sich mit ihren mahnenden Worten vor Kriegsausbruch in der Ukraine sowie ihrem harten Kurs gegen Russland europaweit einen Namen. Selbst als künftige NATO-Chefin wird sie in Brüssel von manchen gehandelt. Dass sie Regierungschefin bleibt, gilt nicht als gesetzt.

„Europas Kassandra“, „Estlands eiserne Lady“ oder auch „Frontfrau des Widerstands gegen Russland“ wird Kallas in Medienberichten genannt. Der Krieg machte sie in Europa unverhofft zum politischen Shootingstar. Der Grund? Während andere europäische Staatschefs Anfang 2022 noch auf Russland einzureden versuchten, setzte Kallas bereits erste Hebel für Waffenlieferungen an die Ukraine in Gang. Die Gefahr für einen Krieg sei „real“, sagte sie fast ein Monat vor Kriegsbeginn.

In den Tagen, Wochen und Monaten nach Kriegsausbruch sollte die Regierungschefin eines Landes, das gerade einmal 1,3 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner zählt, breites Gehör finden. „Meine Mutter meinte immer, es sei unhöflich zu sagen, ‚Ich hab’s dir ja gesagt‘“, sagte Estlands erste Premierministerin in einer vielzitierten Rede im Europäischen Parlament vor beinahe einem Jahr.

Mit „Flucht, Deportationen und Russland“ hätten die Esten einiges an Erfahrung gesammelt, sagte Kallas. Sie selbst sei das „Kind einer Deportierten“, wird die estnische Regierungschefin in den vergangenen Monaten nicht müde zu wiederholen. Ihre Mutter war im Alter von sechs Monaten gemeinsam mit deren Mutter und Großmutter auf dem Viehwagen nach Sibirien gebracht worden. Damals herrschte Josef Stalin. Kallas plädiert für einen langen Atem: „Der Frieden wird nicht morgen ausbrechen.“

Kallas’ Reformpartei stürzt in Umfrage ab

Ihre klare Haltung zum russischen Angriffskrieg in der Ukraine verschaffte Estlands erster Regierungschefin auch im eigenen Land hohe Beliebtheitswerte. Ob sie Premierministerin bleibt, ist aber unklar. Laut einer am Donnerstag von der Zeitung „Postimees“ veröffentlichten Umfrage liegt die Reformpartei nun bei 24 Prozent, die am rechten politischen Rand stehende Estnische Konservative Volkspartei (EKRE) kommt auf 22 Prozent.

Größer ist der Vorsprung weiterhin in der Poll of Polls von „Politico“. Noch vor Kurzem hatte der Abstand zwischen den beiden Parteien rund zehn Prozentpunkte betragen. EKRE war nach den Wahlen vor vier Jahren gemeinsam mit der Zentrumspartei und Vaterlandspartei (Isamaa) an der Regierung beteiligt. EKRE-Politiker sorgten damals mit sexistischen, rassistischen und den Nationalsozialismus relativierenden Aussagen für Skandale.

Menschen geben in Pärnu ihre Stimme ab
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In Estland kann bereits seit Anfang der Woche gewählt werden – per Vorausstimme auf Papier und E-Voting

Schwierige Koalitionsbildung?

Ruhig wurde es um die Partei auch seither nicht: So kursierten etwa Berichte, wonach der Chef der russischen Wagner-Gruppe, Jewgeni Prigoschin, 2019 mit Hilfe von Influencer-Netzwerken versucht haben soll, zugunsten der Partei in den estnischen Wahlkampf einzugreifen. EKRE vertritt eine EU-feindliche Politik. Unklar ist, inwieweit EKRE-Politiker darüber Bescheid wussten.

Eine Koalition zwischen EKRE und Reformpartei gilt jedenfalls als unwahrscheinlich, die Regierungsbildung dürfte infolge der Wahl also schwierig werden. Die derzeitige Koalition aus Reformpartei, Sozialdemokraten und der national-konservativen Vaterlandspartei hätte Umfragen zufolge keine Mehrheit mehr im neuen Parlament. Eine wichtige Rolle könnte die Mitte-links stehende Zentrumspartei spielen – in den Umfragen liegt sie auf Platz drei, gefolgt von der wirtschafts- und sozialliberalen Partei Estland 200, der Vaterlandspartei und den Sozialdemokraten.

Martin Helme
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Martin Helme führt die rechte Estnische Konservative Volkspartei (EKRE) an

Ukraine-Krieg dominiert Wahlkampf

Doch was hätte es für die Ukraine-Politik Estlands zu bedeuten, wenn das Land künftig nicht mehr von Kallas, sondern von EKRE-Chef Martin Helme regiert würde? An der offiziellen Linie dürfte sich wenig ändern, meint der Politologe Tonis Saarts (Universität Tallinn) im Gespräch mit ORF.at – egal, wer letztlich an der Regierungsspitze steht.

Ein anderes Paar Schuhe sei aber, wie EKRE in inoffiziellen Kanälen kommuniziere. Tatsache ist, dass Helme im Wahlkampf einen vorsichtigeren Ton in puncto Waffenlieferungen angeschlagen hatte. Estland laufe Gefahr, „mit leeren Händen“ dazustehen und sich nicht selbst verteidigen zu können, sagte der Politiker.

Kallas: Verpatzte Anfangsphase?

Kallas – klammert man ihre klare Haltung im Ukraine-Krieg aus – ist auch nicht so unumstritten, wie man in Europa vielleicht glauben mag. Zu Beginn ihrer Amtszeit 2021 habe sie sich „sehr schlecht“ geschlagen, sagte Saarts. Krisenkommunikation und Krisenmanagement wollten ihr weder im Zuge der Coronavirus-Pandemie noch im Zuge der Energiekrise gelingen, so der Experte.

„Bis zum Krieg und auch danach war ihre Amtszeit zum Scheitern verurteilt“, sagte Saarts. „Ich kann mich an keinen Premierminister erinnern, der so unerfahren war wie Kaja Kallas“, sagte er über ihr innenpolitisches Schaffen. Dabei brachte die Juristin politische Erfahrung mit: Von 2014 bis 2018 war sie Europaparlamentarierin. Vor allem auch Vergleiche mit ihrem Vater Siim Kallas muss sich die Estin immer wieder gefallen lassen. Siim Kallas war Mitbegründer der Unabhängigkeitsbewegung Estlands, Premierminister und EU-Kommissar.

Ursula von der Leyen, Kaja Kallas und Jens Stoltenberg
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EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und NATO-Chef Jens Stoltenberg feierten den estnischen Unabhängigkeitstag

Regierungschefin schafft Neuerfindung

„Doch mit dem Krieg verbesserte sich ihr internationales Standing. Sie wurde prominent“, so Saarts. Das hatte Folgen: Sie habe mehr Selbstbewusstsein gewonnen, mehr Autorität im eigenen Kabinett erlangt und wurde auch in der Bevölkerung beliebter. Selbst nachdem im Sommer die Koalition mit der Zentrumspartei zerbrochen war, gelang es ihr, wieder eine Regierung zu bilden.

Dass Kallas von manchen hinter verschlossenen Türen als geeignete Nachfolgerin für NATO-Chef Jens Stoltenberg angesehen wird, schadet dem Ansehen der 45-Jährigen ebenso wenig. Welche Koalition es letztlich wird, ist unklar, hielt der Experte auch fest. In Europa wartet man jedenfalls mit Spannung auf den Ausgang der Wahlen in dem kleinen baltischen Land.