Frau mit Kindern sitzt auf Bank
ORF.at/Zita Klimek
Kinder, Küche, Kabinett

Konzept von Kernfamilie als „Korsett“

Wie eine Frau zu sein hat, welche Rollen sie im Laufe ihres Lebens einnehmen soll und wie sie diese am besten ausfüllt, ist immer noch stark von gesellschaftlichen Vorstellungen geprägt – vor allem wenn es um das Thema Mutterschaft und Beruf geht. Laut der Soziologin Ulrike Zartler sind Familienbilder in Österreich nach wie vor stark traditionell verhaftet. Sie erklärt, warum eng geschnürte Familienkonzepte aber längst nichts mehr mit der Realität zu tun haben. Und plädiert, sich von vorgegebenen Normen zu befreien – schließlich könne man es als Frau zwischen Karriere und Kind ohnehin „nie richtig machen“.

Zartler ist Professorin für Familiensoziologie an der Universität Wien und forscht unter anderem zu der Frage, wie Familienbilder und Frauenrollen von Normen geprägt werden. Warum sie das tut? „Weil es unglaublich erstaunlich ist, wie traditionell hier die Einstellungen noch immer sind. Und zwar quer durch die Bevölkerungsschichten.“

Egal ob in unzähligen Gesprächen mit Erwachsenen oder mit Kindern selbst – noch immer gebe es „hartnäckige und zählebige“ Vorstellungen, was Familien und Rollen in Familien betreffe. Doch was bedeuten „traditionelle Familienbilder“ eigentlich? Und wie wirken sich diese auf das Erwerbsleben von Frauen aus? ORF.at fragte anlässlich des Frauentags nach.

Kind hält Zeichnung, die eine Familie zeigt
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Was ist Familie? In Österreich ist die Antwort auf diese Frage immer noch eine sehr klassisch-konservative

Vater, Mutter, Kind: Kindergartenspiel vs. Realität

Zentral sei bei klassischen Familienmodellen die Dominanz des „Kernfamilienmodells“, also die Ansicht, dass es ideal sei, wenn zwei Elternteile gemeinsam mit biologischen Kindern leben. Dieses Modell, so legten es Studien nahe, stehe bei einer „Hierarchisierung von Familienformen ganz klar an oberster Stelle. Andere Familienformen – und ganz besonders Ein-Eltern-Familien – würden hingegen als nachteilig gelten.“

Ulrike Zartler
citronenrot
Ulrike Zartler forscht an der Universität Wien zu Familiensoziologie

Diese Vorherrschaft zeige sich auch in den unterschiedlichsten Bereichen des Lebens: „Das beginnt damit, wie Wohnungen ausgerichtet sind, bis hin zu Urlaubsangeboten oder Werbebotschaften.“ Alles zugeschnitten und ausgerichtet auf die vermeintlich „normale“ oder „ideale“ Familie.

Doch die Kindergartenspiele „Zimmer, Küche, Kabinett“ sowie „Vater, Mutter, Kind“ scheinen eben aus einem bestimmten Grund solche zu sein. Ein Blick auf die Realität zeichnet nämlich ein anderes Bild – sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart. Die „Kernfamilie“ sei eigentlich ein Konzept aus dem entstehenden Bürgertum des 18. Jahrhunderts.

Historisch habe es aber lediglich einen „ganz kurzen Zeitraum“ gegeben, wo ein überwiegender Teil der Bevölkerung dieses Familienideal auch wirklich habe leben können – nämlich ungefähr von den 1950er bis 70er Jahren. „Das ist ganz spannend, weil wir das Modell nach wie vor als ideale Familienform betrachten“ – ganz egal, was sich hinter diesem Label dann eigentlich verberge, so Zartler.

Regenbogenfamilien, Patchwork und Alleinerziehende

„Wir sind schnell versucht zu sagen, eine ‚normale‘ Familie. Aber wenn wir eine Lebensform als normal bezeichnen, heißt das, dass alle anderen Lebensformen in dieser Denkweise als nicht normal betrachtet werden – und damit als nicht wünschenswert. Das ist auch angesichts der empirischen Situation nicht sinnvoll.“ Denn: „Die Kernfamilie als Idealfamilie wird nicht gestützt von empirischen Erhebungen, dass das tatsächlich die beste Form für Kinder ist aufzuwachsen oder die einzige Form, in der Kinder sich gut entwickeln können.“ Dafür seien weniger die Familienstrukturen wichtig, sondern vielmehr die Frage, „wie Familie konkret gelebt wird“.

Schließlich existiere eine Vielzahl an Lebensformen – Regenbogenfamilien mit gleichgeschlechtlichen Eltern, Patchwork-Konstellationen, Pflegeeltern und natürlich Ein-Eltern-Familien, wobei hier immer noch neun von zehn alleinerziehende Frauen seien, so Zartler. Und Kinder, so erklärt Zartler, würden eben auch mit „sehr vielen ganz unterschiedlichen Rahmenbedingungen ganz gut zurechtkommen“. Das Wichtigste sei, dass sie in einer liebevollen, sicheren Umgebung leben und ausreichend Zuwendung bekommen.

Zwei Frauen und ein Kind an einem Esstisch
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„Kinder können sich in ganz unterschiedlichen Lebens- und Familienformen gut entwickeln“

Kinder leiden, wenn Mutter berufstätig ist?

Da jedoch immer noch suggeriert werde – ob durch Werbung, Filme, Bücher –, dass dieses Modell das beste für Kinder sei, gebe es eben auch eine starke Motivation, sich an dieses zu halten, sagt Zartler. Sie spricht hierbei von einem „Korsett“, in das vor allem Frauen gedrängt würden. "Das Kernfamilienmodell beinhaltet auch eine klare Rollenverteilung, also dass der Vater breadwinner (zu Deutsch: „Brotverdiener“), die Mutter homemaker (zu Deutsch etwa: „Hausfrau") ist.“

Gerade in Österreich würden diese klassischen Geschlechterrollen immer noch sehr stark umgesetzt – unter anderem deshalb, weil „konservative, traditionelle Werthaltungen intensiver tradiert wurden als in anderen Ländern“, so Zartler.

Das zeigt sich etwa in der Teilzeitquote von Frauen, die die zweithöchste in der EU ist, oder am Bezug des Kinderbetreuungsgeldes, wo laut Rechnungshof-Bericht nur fünf Prozent der Tage von Vätern genommen würden.

Zudem sei hierzulande eine extreme Polarisierung festzustellen, stimme doch die Hälfte der österreichischen Bevölkerung dem Satz „Kinder leiden darunter, wenn die Mutter berufstätig ist“ zu. „Und dann ist es als Mutter schwierig, gegen den Strom zu schwimmen.“

Mann mit Kind auf einem Spielplatz
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Väter beziehen derzeit nur einen Bruchteil des Kinderbetreuungsgeldes

Wahlfreiheit für alle?

„Der Grundtenor sei zwar ‚Wahlfreiheit für alle‘, aber sobald man darunter blickt auf die latente Ebene, sind nach wie vor sehr traditionelle Einstellungen vorherrschend.“ Es gebe ein geringes Verständnis für die Erwerbstätigkeit von Müttern – vor allem unter dem Kindesalter von zwei Jahren und schon gar nicht, wenn das Argument der Mutter „Selbstverwirklichung“ oder „Freude am Beruf“ laute, so Zartler. Am ehesten werde mütterliche Erwerbstätigkeit akzeptiert, wenn es das Familienbudget erfordere.

Speziell Vollzeiterwerbstätigkeit stößt „auf ganz großes Unverständnis“. Zugleich herrscht in Österreich derzeit die politische Debatte, mehr Frauen von Teilzeit in Vollzeitberufe zu bringen.

Schlechte Betreuungsangebote, finanzielle Umstände wie ökonomische Absicherung (Stichwort „Gender Pay Gap“) sowie das soziale Umfeld deuten der Soziologin zufolge darauf hin, „dass es eben nicht eine rein individuelle Entscheidung ist“, ob die Frau hauptverantwortlich die Kinderbetreuung übernimmt.

Das führe etwa dazu, dass Frauen Unterbrechungen im Arbeitsleben aufweisen, bis das jüngste Kind 15 Jahre alt ist – mit finanziellen Nachteilen, die sich etwa auch im Pensionsanspruch niederschlagen würden. Und: „Erwerbsverläufe von Vätern werden durch die Geburt von Kindern praktisch nicht beeinflusst.“ Zartler fordert: „Wir brauchen ein Ende dieser Ablehnung von nicht konventionellen Mutterrollen, etwa wenn eine Mutter berufstätig sein möchte. Und wir brauchen eine Selbstverständlichkeit von Väterkarenz, die viel stärker als Normalität betrachtet wird und gelebt werden müsste.“

„Väterbeteiligung“: Umdenken auch in Sprache gefordert

Unterstützt werde die derzeit vorherrschende „Normalität“ in Form traditioneller Wertehaltungen neben fehlenden Rahmenbedingungen aber nicht zuletzt auch von der Sprache selbst, meint die Soziologin, die dafür plädiert, die Wirkmacht von Begrifflichkeiten nicht zu unterschätzen.

„Wir sprechen von Frauen mit Kinderbetreuungspflichten und von Väterbeteiligung. Nicht von Eltern mit Betreuungspflichten. Sondern davon, dass Väter sich ‚beteiligen‘ und ‚mithelfen‘ an der Betreuung, weil das eigentlich als weiblicher Zuständigkeitsbereich betrachtet wird.“

Frau, Kind und Mann an einem Tisch
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Mutter, die sich um Kind und Haushalt kümmert, Vater, der arbeitet: Das Kernfamilienmodell beinhalte eine klare Rollenverteilung

„Kinderfrei“ und was Frauen wollen sollen

Ähnlich verhalte es sich mit der automatischen Zuschreibung von Frauen als potenzielle Mütter: „Frauen wurden sehr lange auf diese Rolle als Mutter reduziert. Also dass Mutterschaft ihre eigentliche Bestimmung im Leben sei. Das, was Frauen wollen sollen“, sagt Zartler. Auch hier spiele Sprache wieder eine wichtige Rolle, etwa bei den Begriffen „kinderlos“ oder, als alternativer Bergiff, „kinderfrei“, schwinge bei „kinderlos“ doch immer ein Defizit mit.

Dabei könne auch das Gegenteil der Fall sein: „Sich aktiv dafür entscheiden, wie man sein Leben gestalten möchte – unabhängig davon, ob Kinder in diesem Lebensplan vorkommen oder nicht. Dass man sagt, ich sehe mich nicht als kinderlos, sondern bin ganz zufrieden, dass ich dieses Kapitel in meinem Leben nicht so erfüllt habe, wie es eigentlich gesellschaftlichen Normen vorsehen würden für mich als Frau.“ Wie auch in vielen anderen Bereichen würden hier aber immer noch Vorbilder und „einfach eine größere normative Bandbreite“ fehlen.

Fülle an Idealvorstellungen

Auf die Frage, ob man es als Frau zwischen den Polen „Karriere- und Hausfrau und Mutter“ je richtig machen könne, antwortet Zartler mit einem klaren Nein. Mütter seien mit einer „Fülle an Idealvorstellungen“ konfrontiert, mit „unglaublich hohen Anforderungen“, und jede Abweichung davon führe zu einem „schlechten Gewissen“, das Frauen oft bereits noch vor der Schwangerschaft entwickeln würden.

„All das führt letztlich zu einer Überforderung, denn niemand schafft es, all diesen Idealbildern gerecht zu werden. Das geht sich in einem Frauenleben nicht aus.“ Dazu komme: „Die Frauenbilder und Rollen, die zur Verfügung stehen, sind nur bedingt attraktiv“, konstatiert Zartler. Umso wichtiger sei es, sich diese Normen bewusst zu machen – und sich davon zu befreien.