Kreml
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Desinformation in EU

Russlands Spiel auf Zeit

„Fake News“, gefälschte Magazincover und manipulierte Videos: Die russische Desinformationskampagne hat dem Social-Media-Experten Dietmar Pichler zufolge im vergangenen Jahr „volle Fahrt“ aufgenommen. Auch in der EU versucht der Kreml, die öffentliche Meinung zu manipulieren. Der Faktor Zeit spielt Moskau dabei in die Hände, wie Pichler vom Zentrum für Digitale Medienkompetenz gegenüber ORF.at bestätigt.

Nicht erst seit Kriegsausbruch im Februar 2022 verbreitete Russland systematisch Narrative, um den Krieg in der Ukraine zu rechtfertigen und den Westen zu spalten. Schon 2014 rund um die Annexion der Krim und auch davor setzte der Kreml auf Desinformationskampagnen. Das finde nun aber „auf allen Kanälen“ viel intensiver statt, hält Pichler fest. „Die Informations- und Propagandakanäle sind heute eine Waffe des Kremls“, warnte jüngst auch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell.

Konkret geht es dabei um Falschmeldungen und irreführende russische Behauptungen. Beispiele gibt es zuhauf: Die ukrainische Regierung müsse entnazifiziert werden. Kiew hätte in der Ostukraine einen Genozid an ethnischen Russen betrieben. Die russische Sprache sei von der Regierung in Kiew verboten worden, lautet eine weitere Falschmeldung. Die Ukraine unterhalte Forschungslabore für Biowaffen, heißt es auch. Gräueltaten wie jene in Butscha hätten Ukrainer inszeniert bzw. selbst begangen, nicht Russen.

Diplomaten im Dienste der Desinformation

Tatsache ist, dass Desinformation – wie auch bei den obigen Beispielen – häufig ein Körnchen Wahrheit enthält. Das heißt, belegbare Fakten werden mit Behauptungen und Unterstellungen vermischt, die einer faktischen Grundlage entbehren. Die Folge ist, dass bei den Adressaten zumindest Zweifel entstehen.

Verbreitet werden jene Narrative im eigenen Land, aber auch in der Ukraine, der EU und anderswo. Neben Diplomaten, Politikern und Staatsmedien werden sie mannigfaltig von „Trollfabriken“ (als Trolle werden Internetnutzer bezeichnet, die bewusst Onlinediskussionen stören und die Atmosphäre in Chatrooms vergiften) in die Welt getragen. Russland schrecke auch nicht davor zurück, falsche Websites zu erstellen, um sich als vertrauenswürdige Medien auszugeben, sagte Borrell.

Zeitungscover
euvsdisinfo.eu
Von „Charlie Hebdo“ bis „Titanic“: Russland verbreite Desinformation mit Hilfe gefälschter Cover, heißt es in einer EU-Untersuchung

Auch manipulierte Fotos und Videos zählen zum russischen Repertoire. Einer EU-Untersuchung zufolge waren im Vorjahr mehrere Magazine wie die Satirezeitschriften „Charlie Hebdo“, „El Jueves“ und „Titanic“ von Manipulationen betroffen. Im Fall der deutschen „Titanic“ wurde ein Cover verbreitet, auf dem ein Gesicht zu sehen war, in dessen Mund verschiedene Kriegsgeräte und Geld fliegen. Die Schlagzeile? „Ewiger Appetit“. Den Angaben zufolge sollte mit dem Cover der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj verunglimpft werden.

Experte: „Täter-Opfer-Umkehr“ nimmt zu

Derartige Botschaften finden auch in den zunehmend polarisierenden Gesellschaften Europas Gehör: In Österreich, Deutschland und Co. werden Stimmen, die sich nach über einem Jahr Krieg in der Ukraine für Zugeständnisse an Russland starkmachen, lauter. Das reicht von rechtspopulistischen Parteien bis hin zu der Friedensbewegung – angeführt von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer.

Die „Täter-Opfer-Umkehr“ werde mit jedem Monat mehr bedient, sagt Pichler, der sich bereits seit Jahren mit der Thematik beschäftigt und auch Russisch spricht. „Es werden verschiedenste Rechtfertigungen aus der russischen Propaganda dankend aufgenommen, um die Ukraine nicht mehr zu unterstützen“, so der Experte.

Fahnen und Transparente bei Friedensdemonstration in Berlin
Reuters/Fabrizio Bensch
Die Friedensbewegung unter Schwarzer und Wagenknecht zieht viel Kritik auf sich

Altbewährte Strategie?

Bereits in der Vergangenheit war Russlands Spiel auf Zeit aufgegangen: Pichler verweist etwa auf die Annexion der Krim 2014. Erst reagierte man in der EU mit Verurteilungen und Entsetzen, darauf folgte eine Annäherung. Man sei mit der Zeit immer mehr bereit gewesen, das Narrativ zu wechseln, so der Experte. Russische Propaganda habe dabei eine entscheidende Rolle gespielt.

Dass man hierzulande für russische Propaganda „sehr anfällig“ sei, erklärt der Experte mit dem Umstand, dass die Bevölkerung mit Russland vertraut sei, anders als mit anderen osteuropäischen Ländern, die erst seit 1991 unabhängig sind. Sogar in heimischen Schulbüchern fanden sich falsche Narrative über die Ukraine, kritisiert er. Dazu komme, dass Österreich im Vergleich zu anderen demokratischen Ländern „sehr enge Beziehungen“ zu Russland hatte. Bei manchen entstehe deshalb „eine gewisse kognitive Dissonanz“, so der Experte.

„Die grundsätzliche Strategie von der Desinformation hat sich seit der Annexion der Krim 2014 und seit der russischen Aggression im Donbas in der Ostukraine eigentlich nicht verändert“, hält Pichler auch fest. „Das Ziel ist nach wie vor, die Ukraine zu dämonisieren und den Westen insofern zu spalten, als wir A die Ukraine nicht mehr unterstützen und B versuchen, wieder normale Beziehungen zu Russland zu haben, das heißt, die Sanktionen aufzuheben.“

Vorgeschichte: Informationskrieg um Deutungshoheit

Neu sei Pichler zufolge, dass sich die russische Propaganda seit dem Beginn des Angriffskrieges zunehmend auf die Vergangenheit – vor allem die Jahre 2014 und 2015 – beziehe. Es werde eine „eigene Geschichte“ erzählt, um den Einmarsch zu rechtfertigen, sagte er auch.

Russland sei in den Krieg getrieben worden, hieß es aus Moskau immer wieder. Als Außenminister Sergej Lawrow bei einem Treffen der G-20-Außenminister in Delhi etwa sagte, dass Russland zuerst angegriffen wurde und sich verteidigen musste, erntete er dafür Gelächter. Im russischen Staatsfernsehen war vom lachenden Publikum allerdings nichts zu hören.

Was bei der Verbreitung jener These aber geflissentlich vergessen wird: Die Ukraine ist seit 1991 als souveräner Staat völkerrechtlich anerkannt. Das Budapester Memorandum sicherte 1994 schließlich die Anerkennung der Souveränität und Grenzen der Ukraine (sowie Kasachstans und von Belarus) durch Russland, Großbritannien und die USA zu. Im Gegenzug verpflichtete man sich, die Atomwaffen abzugeben.

Den Sturz des prorussischen ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch und den darauffolgenden proeuropäischen Kurs wollte Russland aber nicht verdauen. Seit 2014 lässt Moskau Separatisten in der Ukraine militärische Hilfe zukommen (Stichwort „Grüne Männchen“). Die zur Ukraine gehörende Halbinsel Krim wurde von Wladimir Putin – völkerrechtswidrig – annektiert.

EU-Kommission ortet „große Bedrohung“

„Russland hat Netzwerke und eine Infrastruktur geschaffen, um in die Irre zu führen, zu lügen und zu destabilisieren und um das Vertrauen der Bürger in heimische Institutionen zu zerstören“, teilte Peter Stano, ein Sprecher der EU-Kommission, auf ORF.at-Anfrage mit. „Russische Desinformationsakteure versuchen auch, Verwirrung zu stiften, damit die Menschen nicht mehr wissen, worauf und wem sie vertrauen sollen.“

Das übergeordnete Ziel bestehe darin, die EU und ihre Mitgliedsstaaten „zu untergraben“, heißt es weiter. „Dies ist eine große Bedrohung nicht nur für die EU, sondern für liberale Demokratien, die auf Informationen basieren“, warnt der Sprecher. „Wenn die Informationen giftig sind, kann die Demokratie nicht funktionieren … Informationen sind das Öl des Motors der Demokratie“, meinte dazu auch Borrell.

EU will Kampf gegen Desinformation verstärken

Die EU will deshalb künftig stärker gegen Desinformation vorgehen. Geplant ist ein Zentrum zur Analyse und zum Informationsaustausch über Desinformation (ISAC). „Hierbei handelt es sich um ein freiwilliges Netzwerk bestehender verschiedener Interessengruppen, die Informationen über Vorfälle ausländischer Einmischung und Manipulation von Informationen (FIMI) auf der Grundlage gemeinsam vereinbarter Kriterien, Datenstandards und Regeln austauschen“, erklärt Stano.

Bei dem Zentrum handle es sich nicht um einen physischen Ort, der Geld oder Personal benötige, heißt es weiter. Der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) wolle die Einrichtung aber „durch ein spezielles Projekt erleichtern“, teilt Stano gegenüber ORF.at mit. Der EAD wolle eine Kerngruppe von bis zu 20 Vertretern der Zivilgesellschaft und der Privatwirtschaft mit Erfahrung in dem Bereich zusammenbringen. Auch öffentliche Stellen einschließlich der EU-Mitgliedsstaaten sollen an dem Prozess beteiligt sein.

EU-Umgang: Lob mit Aber

Doch wie sind die europäischen Bemühungen zu beurteilen? „Die EU hat sehr früh erkannt, dass es da ein Problem gibt“, sagt Pichler. Er verweist unter anderem auf die bereits bestehende Plattform EUvsDisinfo der Arbeitsgruppe East StratCom. Die Seite veröffentlicht ihre Erkenntnisse in mehreren Sprachen und greift dafür auch selbst zu plakativen Mitteln.

Laut Angaben vom Februar verzeichnete die Faktencheckwebsite zuletzt drei Millionen Besucher, rund 20 Millionen Menschen erreichte die EU demzufolge über Onlinenetzwerke. „Die Ressourcen sind natürlich viel zu klein“, kritisiert Pichler zugleich. Das Vorhaben müsse „auf nationalstaatlicher Ebene“ multipliziert werden. Doch gerade auf nationalstaatlicher Ebene geschehe vielerorts zu wenig. Kritik übt er auch an der österreichischen Linie: Im internationalen Vergleich würde Österreich das Thema völlig verschlafen.