Ein Mann geht durch Häuserruinen nach einem Erdbeben in Syrien
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Erdbebenkatastrophe

„Es fehlt an allem“

Mehr als ein Monat ist bereits vergangen, seit es zum verheerenden Erdbeben in der Türkei und in Syrien gekommen ist. Nach und nach zeigt sich das ganze Ausmaß der „Jahrhundertkatastrophe“: Städte, die in Trümmern liegen, unter denen immer noch Leichen begraben sind, Millionen Menschen, die weder ein Dach über dem Kopf noch ausreichend zu essen und trinken haben, und erste sich ausbreitende Krankheiten, die erneut Tote fordern. Hilfsorganisationen meinen, es fehle an allem. Vor allem aber fehle es an Geld.

Am 16. März findet in Brüssel eine Geberkonferenz statt, um, so heißt es in einem Statement der schwedischen Ratspräsidentschaft, finanzielle Mittel zur Unterstützung der Erdbebenopfer in der Region zur Verfügung zu stellen. Doch die Konferenz steht unter denkbar schlechten Vorzeichen.

Mitte Februar erbat die UNO Nothilfe in der Höhe von einer Milliarde Dollar für den dringendsten Bedarf in der Türkei. Eingegangen seien bisher aber erst rund zehn Prozent davon. Zum Vergleich: Die Schäden belaufen sich auf mehr als 100 Milliarden Dollar (94 Milliarden Euro) – die Kosten für den Wiederaufbau nicht miteingerechnet.

Ein LkW fährt durch Häuserruinen nach einem Erdbeben in Syrien
APA/AFP/Ozan Kose
Auf 100 Milliarden Dollar beläuft sich der Schaden in der Türkei – ohne Wiederaufbaukosten

Finanzielle Hilfe „alarmierend langsam“

Auch die Lage in Syrien ist düster. Der Norwegische Flüchtlingsrat (NRC), der seit Jahren in Syrien sehr aktiv ist, erklärte, die Finanzierung der Hilfen komme weiterhin „alarmierend langsam“ voran. Weniger als die Hälfte der knapp 400 Millionen Dollar (376 Mio. Euro), die laut UNO-Angaben zur Unterstützung Syriens nach der Katastrophe erforderlich sind, sei bisher zusammengekommen. Schon vor den Beben war der Syrien-Hilfsfonds nur etwa zur Hälfte gefüllt.

Österreich habe bereits drei Millionen Euro aus dem Auslandskatastrophenfonds sowie eine Reihe an Sachgütern wie Zelte, Decken und Heizgeräte zur Verfügung gestellt, heißt es aus dem Außenministerium gegenüber ORF.at. Die Bundesländer hätten zudem zwei Millionen Euro mobilisiert.

Man stehe mit den lokalen Behörden, der EU, den Vereinten Nationen und österreichischen Nichtregierungsorganisationen im Gespräch, „um die österreichische Hilfe an die Bedürfnisse der Betroffenen auch weiterhin optimal anzupassen. Wir planen, bei Bedarf auch weitere finanzielle Mittel dafür freizumachen.“

Millionen auf der Suche nach Unterschlupf

Am 6. Februar hatten zwei Beben der Stärke 7,7 und 7,6 die Südosttürkei und den Nordwesten Syriens erschüttert. Darauf folgten Tausende Nachbeben. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sprach von der „schlimmsten Naturkatastrophe“ seit einem Jahrhundert. Mehr als 50.000 Menschen kamen dabei ums Leben, laut UNO sind in beiden Ländern fast 30 Millionen Menschen betroffen.

Fast zwei Millionen Menschen verloren in der Türkei ihr Zuhause, etwa genauso viele haben die Region inzwischen verlassen. In Nordwestsyrien lebten schon vor den Beben etwa 1,8 Millionen Vertriebene in Camps – seit dem Beben suchen 180.0000 weitere Unterschlupf. Einige übernachten in Zelten, Schutzbauten, Schulen, andere in zerstörten Häusern oder im Freien. Vielerorts sind laut Hilfsorganisationen die Notunterkünfte überfüllt.

Soldaten verteilen Hilfsgüter
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Auch bei der Versorgung mit Nahrungsmitteln mangelt es in Syrien – Hilfe kommt vereinzelt aus Russland

„Die Menschen brauchen Nahrung und sauberes Wasser“

Dazu kommt die schlechte Versorgung mit Nahrungsmitteln, Trinkwasser, Medikamenten, Hygieneartikeln. „Einige Menschen überleben nur mit etwas Brot und Essen aus Dosen, mehr haben sie seit einem Monat nicht bekommen“, so der NRC.

Seitens Ärzte ohne Grenzen (MSF) heißt es gegenüber ORF.at: „Schon unter normalen Umständen wurden die Grundbedürfnisse der Menschen im Nordwesten von Syrien nur unzureichend erfüllt. Jetzt sind sie von diesen schweren Erdbeben betroffen, und es fehlt an allem.“

Die Betroffenen hätten großteils ihren ganzen Hausstand verloren, sie brauchten dringend Nahrungsmittel und sauberes Trinkwasser, meint Marcus Bachmann, Berater für humanitäre Angelegenheiten von MSF Österreich.

Cholera in Zeiten der Katastrophe

Weil es aber eben kein sauberes Trinkwasser gibt und die Abwasserentsorgung nicht richtig funktioniert, droht der WHO zufolge mehr als zwei Millionen Menschen in Syrien eine Cholerainfektion. In der syrischen Erdbebenregion startete die WHO daher Anfang März bereits eine Choleraimpfkampagne, bei der 1,7 Millionen Impfdosen verabreicht werden sollen. Rettungskräften zufolge gebe es bereits erste Todesopfer. Dazu komme: Laut MSF sind 55 Gesundheitseinrichtungen teilweise oder ganz zerstört.

Eine Syrische Frau beim Blutdruckmessen mit einem älteren Herrn
Reuters/Khalil Ashawi
Das Erdbeben hinterließ bei den Menschen neben den physischen auch unsichtbare, psychische Wunden

Ganze Stadtviertel vor Abriss

Zunehmen würden unterdessen in der Türkei auch Krankheiten wie Krätze und Verlausung. Sorge bereitet den Vereinten Nationen auch die hohe Asbestbelastung durch Erdbebenschutt, es handle sich um eine „große Gefahr“ für die menschliche Gesundheit, ist Asbest doch nachgewiesen krebserregend. Das UNO-Entwicklungsprogramm (UNDP) bemühe sich, möglichst schnell Geld für Schutzkleidung für die Arbeiter zur Verfügung zu stellen, die die Schuttberge beseitigen.

In der Türkei seien etwa 230.000 Gebäude eingestürzt, ganze Stadtviertel müssten abgerissen werden. Auch Kulturgüter haben schwere Schäden genommen oder sind zerstört. Die UNESCO bemüht sich derzeit darum, „eine genaue Bestandsaufnahme der Schäden zu erstellen, damit diese Stätten rasch gesichert und stabilisiert werden können“.

Suche nach Vermissten

Neben den widrigen Umständen und physischen Belastungen sind freilich auch die psychischen Folgen bei den Betroffenen nicht außer Acht zu lassen. Immer noch werden Menschen vermisst, viele Angehörige suchen mit Bildern an Häuserwänden oder auf Social Media nach ihnen.

MSF beobachte, wie Menschen die Phasen einer Krise durchleben. Zuerst würden sie in den Überlebensmodus schalten: „Sie mobilisieren dadurch viele Ressourcen – sie suchen nach verschütteten Verwandten, kümmern sich um Verletzte und die Bestattung von Verstorbenen, versuchen sich zurechtzufinden“, so Bachmann.

Aber auf Dauer sei das nicht möglich, und „jetzt kommt die herausfordernde Zeit, wo die Menschen ganz dringend psychologische Betreuung brauchen, um die erlittenen Traumata zu verarbeiten“. MSF sei mit mobilen Kliniken im Einsatz, um medizinische wie psychologische Unterstützung anzubieten. „Aber die Hilfe ist bei Weitem nicht genug.“