Ein Schiff aus Holz mit Migranten von Afrika und Magreb
AP/Andoni Lubaki
Schengen-Innenminister

Scharfe Kritik an Melonis Kurs bei Migration

In der laufenden und seit Jahren ungelösten Migrations- und Asylproblematik ist auf europäischer Ebene zuletzt wieder Italien verstärkt in den Fokus gerückt. Deutlich wurde das am Donnerstag rund um ein Treffen der EU-Innenminister in Brüssel. In einer gemeinsamen Erklärung warfen mehrere Schengen-Staaten der von Giorgia Meloni angeführten Regierung vor, die Dublin-Regeln einseitig aufgekündigt zu haben.

Zusammen mit Belgien, Dänemark, Frankreich, Deutschland, den Niederlanden und der ebenfalls zum Schengen-Raum gehörenden Schweiz forderte auch Österreich dabei von Italien, die „unkontrollierte Migrationsbewegungen wirksam einzudämmen“.

Nach dem Dublin-System wäre das Land der Erstaufnahme für Asylverfahren zuständig. In der Praxis hat das System allerdings in der EU unzureichend funktioniert. „Die Umsetzung der Dublin-Regeln ist vor allem vor dem Hintergrund der gestiegenen Ankünfte in den Schengen-Raum über alle Routen sowie durch Herausforderungen in den Asylsystemen einiger Dublin-Staaten immer komplexer und infolgedessen in der Praxis ineffizienter geworden“, heißt es in der Erklärung.

„Das ist Gesetz“

Dennoch pocht etwa Deutschlands Innenministerin Nancy Faeser auf die Einhaltung der Dublin-Regelung. „Das ist Gesetz“, und damit seien Erstankunftsländer auch „eigentlich verpflichtet“, weitergereiste Migrantinnen und Migranten wieder zurückzunehmen. Solche Staaten müssten „sich ihrer Verantwortung bewusst“ sein, betonte sie, ohne Italien explizit zu nennen.

Auch Griechenland nimmt laut Medienberichten nur einen Bruchteil der beantragten Migrantinnen und Migranten zurück. Deutlicher wurde der französische Innenminister Gerald Darmanin: Das Übereinkommen von Dublin „funktioniert quasi gar nicht mehr in einigen Ländern, vor allem in Italien“, sagte er in Brüssel. Diese Staaten hätten das System für „tot“ erklärt.

Eineinhalb Wochen nach dem tragischen Bootsunglück vor Kalabrien hat die italienische Regierung neue Einwanderungsregeln beschlossen. Kernpunkte des verabschiedeten Regierungsdekrets sind ein verschärftes Vorgehen gegen Schlepper und die Förderung regulärer Migration.

Karner fordert mehr Tempo

Es gehe um einen robusteren Außengrenzschutz sowie dessen technische und finanzielle Unterstützung, sagte Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) am Rande des EU-Innenministertreffens. Auch müssten rechtliche Möglichkeiten gefunden werden, um schnellere Verfahren durchführen zu können. Karner forderte Tempo bei der Umsetzung des Gipfelbeschlusses.

„Es geht bei diesem Thema, wie man sieht, nie schnell genug, wenn man sich die tragischen Ereignisse in Italien ansieht“, sagte Karner im Hinblick auf ein folgenschweres Bootsunglück vom 26. Februar an der Küste nahe der kalabrischen Ortschaft Cutro, bei dem mehr als 70 Menschen ums Leben kamen.

Jetzt seien „Taten gefordert“, betonte der Innenminister. Die Debatte in Großbritannien über die verschärfte Asylpolitik zeige, dass der Druck, was „illegale Migration und Asylmissbrauch“ betreffe, immer stärker werde, so Karner. Auch müssten Rückübernahmeabkommen und Rückführungen stärker auf die Tagesordnung gebracht werden.

„Stehen unter Zeitdruck“

Neben Forderungen wie diesen ist unterdessen auch der Vorwurf von Italien, in der Asyl- und Migrationsfrage allein gelassen zu werden, alles andere als neu. Schließlich sei auch die „düstere Situation im Mittelmeer weder neu noch wird diese Realität verschwinden“, wie bereits 2017 der damalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im Rahmen eines EU-Innenministertreffens sagte, das sich damals mit einem Aktionsplan zur Entlastung von besonders von Migration betroffenen Ländern befasste.

Ungeachtet der zähen Fortschritte in der europäischen Asyl- und Migrationspolitik glaubt nun etwa Deutschlands Innenministerin Faeser dennoch an eine baldige und umfassende Reform. Es seien bereits viele Teile der Reform beschlossen. Auch EU-Innenkommissarin Ylva Johansson machte deutlich, dass sie an eine Einigung bis Anfang 2024 und damit bis zur nächsten EU-Wahl glaubt. „Wir stehen unter Zeitdruck. Aber es ist kein unrealistischer Zeitplan, den wir verfolgen“, wie Johansson dazu zuletzt sagte.

Reformvorschläge der EU liegen seit 2020 auf dem Tisch. Tatsächlich umgesetzt sind bisher nur kleinere Teile wie ein ausgeweitetes Mandat der EU-Asylagentur. Zudem verständigten sich die EU-Staaten im Sommer auf verschärfte Regeln an den europäischen Außengrenzen und eine Reform der Datenbank zur Abnahme von Fingerabdrücken. Einigungen mit dem EU-Parlament bei diesen Themen stehen jedoch noch aus.

Umverteilung als ungelöstes Kernproblem

Hinzu kommt, dass die 27 EU-Staaten beim Kern einer möglichen Reform – der Frage nach einer Verteilung von Schutzsuchenden und anderen Formen der Solidarität – nach wie vor weit von einer Lösung entfernt sind.

Derzeit ist nach den Dublin-Regeln meist jener EU-Staat für einen Asylantrag zuständig, auf dessen Boden der Schutzsuchende zuerst europäischen Boden betritt. Etliche Schengen-Länder dringen darauf, dass diese Regeln befolgt werden. Staaten an den Außengrenzen fordern dagegen mehr Unterstützung.

Weil es bei der Frage der Verteilung von Schutzsuchenden kaum vorangeht, konzentrierten sich die EU-Staaten zuletzt darauf, die Außengrenzen besser zu schützen. Zudem soll durch Zusammenarbeit mit Transit- und Herkunftsländern, etwa in Afrika, dafür gesorgt werden, dass sich möglichst wenige Menschen auf den Weg machen.

Neue Einwanderungsregeln in Italien

In Italien steht Melonis Regierung seit Tagen allein wegen der Vorgänge in Cutro schwer unter Beschuss. Während mögliche Verfehlungen beim Rettungseinsatz mittlerweile ein Fall für die Staatsanwaltschaft sind, sorgte neben fraglichen Aussagen von Innenminister Matteo Piantedosi, der unter anderem die Verantwortung für das Unglück indirekt den Opfern übertrug, auch das lange Schweigen von Meloni für Empörung.

In diesem Zusammenhang war ein am Unglücksort abgehaltener Sonderministerrat in Cutro auch von Protesten begleitet. Inhaltlich ging es bei dem Regierungstreffen um die Verabschiedung von neuen Einwanderungsregeln. Kernpunkte sind ein verschärftes Vorgehen gegen Schlepper und die Förderung regulärer Migration.

Es gehe darum, die Strafen für Schlepperei zu verschärfen, aber gleichzeitig die Möglichkeiten der regulären Migration zu erweitern, hieß es aus Regierungskreisen in Rom.

EU verspricht Italien Unterstützung

Bereits am Dienstag hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Italien konkrete Unterstützung bei der Bekämpfung von Schlepperei zugesagt. Die EU werde sich für die Einrichtung humanitärer Korridore nach Europa einsetzen. „Wir werden bis 2025 mindestens eine halbe Milliarde Euro für humanitäre Korridore bereitstellen und damit mindestens 50.000 Menschen unterstützen“, schrieb von der Leyen in einem an Meloni gerichteten Brief.

Um die Such- und Rettungsmaßnahmen besser zu koordinieren, habe die EU-Kommission die Europäische Kontaktgruppe im Rahmen des Aktionsplans für das zentrale Mittelmeer wieder ins Leben gerufen, sagte die EU-Kommissionspräsidentin. Meloni hatte nach dem Schiffsunglück am 26. Februar von der EU-Kommission sofortige Maßnahmen zur Bekämpfung der Schlepperei gefordert.

Nach dem Schiffsunglück hat die italienische Opposition den Druck auf die Rechtsregierung in der Migrationsfrage erhöht. Die neue sozialdemokratische Parteichefin Elly Schlein betonte, die Regierung solle ihren „Krieg“ gegen NGO-Schiffe im Mittelmeer beenden und sich auf europäischer Ebene um koordinierte Rettungseinsätze bemühen.

Rund 1.500 Ankünfte in 24 Stunden

Unterdessen wagen derzeit weiterhin zahlreiche Menschen die gefährliche Überfahrt über das Mittelmeer Richtung Europa. In nur 24 Stunden kamen allein auf der Insel Lampedusa rund 1.500 Menschen mit Booten aus Nordafrika an, wie italienische Medien am Donnerstag berichteten. Immer wieder kommen Boote in Seenot. Erst am Mittwoch retteten Schiffe der Küstenwache zunächst 38 und dann 20 Menschen aus dem Wasser. Bei dem zweiten Einsatz barg die Küstenwache auch den Leichnam einer jungen Frau.

Tote gibt es auch vor der Küste von Tunesien nahe der Stadt Sfax. Laut Agenturberichten vom Donnerstag konnten nach der Havarie eines Bootes 14 Menschen nur mehr tot geborgen werden. 54 weitere Migranten seien gerettet worden. Tunesien gilt als wichtiges Transitland für Migrantinnen und Migranten auf dem Weg nach Europa.