Detailaufnahme des Medikaments Ozempic
APA/AFP/Joes Saget
Diätspritze

Revolution mit Nebenwirkungen

Kaum ein anderes Medikament sorgt derzeit in den USA für so viele Schlagzeilen wie Ozempic. Eigentlich als Arznei für Diabetikerinnen und Diabetiker entwickelt und zugelassen, boomt die Verwendung als Diätspritze – bei Kosten von rund 900 Dollar pro Monat vor allem bei Reichen. Von einer Revolution beim Abnehmen ist die Rede, möglicherweise aber auch beim Thema Körperwahrnehmung und unserem Verhältnis zu Essen. Völlig offen sind die gesundheitlichen und gesellschaftlichen Folgen.

Ausgelöst wurde der Boom durch die Reichen und Schönen, die ein Stück dünner und damit vermeintlich noch schöner werden wollen: In Hollywood wurde laut US-Medien das Medikament bald zum Statussymbol – und mit den Prominenten wurde es auch bald breit in den Medien diskutiert.

Zwar ist Ozempic verschreibungspflichtig, doch offenbarten Recherchen von US-Medien, dass es keine allzu große Hürde ist, eine Verschreibung zu bekommen. Zur Not gibt es Online-Gesundheitsanbieter, die ohne Diagnose Rezepte ausstellen, und Onlineshops, die den Wirkstoff auch ohne Rezept verkaufen.

Lieferengpässe für Patienten

Mittlerweile ist die Nachfrage so hoch, dass es immer wieder zu Lieferschwierigkeiten kommt – und Patientinnen und Patienten, die das Medikament tatsächlich brauchen, oft Mühe haben, es auch tatsächlich zu erhalten.

Dass extrem dünn wieder hoch im Kurs steht, darauf haben in den vergangenen Monate auch Modetrends wieder hingewiesen. Von einer Rückkehr des „Heroin-Chic“ war die Rede – mit eingefallenen Wangenknochen und abgemagerten Körpern.

Hungergefühl heruntergedrosselt

2017 wurde der Wirkstoff Semaglutid in den USA und der EU zur Behandlung von Diabetes Typ 2 zugelassen. Es senkt den Blutzuckerspiegel. Allerdings hat es noch andere Wirkungen: Es erhöht das Sättigungs-, senkt das Hungergefühl und sorgt auch für eine Verlangsamung der Magenentleerung.

Und genau diese Eigenschaften führen dazu, dass es zunehmend auch als Abnehmpräperat verwendet wird – freilich off-label. Der dänische Hersteller Novo Nordisk hat mittlerweile mit Wegovy ein zweites Medikament auf den Markt geworfen, das tatsächlich als Abnehmtherapie bei starkem Übergewicht und Adipositas zugelassen ist. In Österreich ist es nicht erhältlich, für Ozempic ist eine chefärztliche Verschreibung nötig.

Rennen der Pharmakonzerne

Expertinnen und Experten sprechen von einer völlig neuen Zeitrechnung der Abnehmpräparate – und das ist ein Riesengeschäft: Der Pharmakonzern Eli Lilly and Company hat mit einem ähnlichen Wirkstoff, Tirzepatid, das Medikament Mounjaro auf den Markt gebracht. Fast jeder große Pharmakonzern versucht mittlerweile im Rennen um die Schlankmacher mitzuspielen, zahlreiche Medikamente sind in unterschiedlichen Testphasen. Zudem wird versucht, die Medikamente in Tablettenform zu bringen, ohne die Wirkung einzuschränken. Derzeit werden Ozempic, Wegovy und Mounjaro per Pen injiziert.

Enormer Anstieg bei Verschreibungen

Laut der zum „New York Magazine“ gehörenden Website The Cut ist der Umsatz mit Ozempic um 42 Prozent gestiegen. Allein im Dezember seien US-weit 1,2 Millionen Verschreibungen für Ozempic ausgestellt worden, was einem Anstieg von 64 Prozent gegenüber dem vorangegangenen Dezember entspricht, so The Cut unter Berufung auf IQVIA, ein Unternehmen für die Analyse von Gesundheitsdaten.

Komodo Health, ein Unternehmen, das Gesundheitsdaten von 330 Millionen Patientinnen und Patienten verfolgt, stellte fest, dass auch viele Nichtdiabetiker das Medikament erhalten. Ihre Zahl habe sich allein in Kalifornien vervierfacht. Auffällig sei auch, dass diese Gruppe deutlich jünger sei als die Diabetes-Patienten, die das Medikament erhalten.

Werbung und unsaubere PR

Beim Hersteller Novo Nordisk betonte man gegenüber The Cut, dass man als Unternehmen in „keiner Weise den Off-Label-Gebrauch“ fördere oder empfehle. Allerdings: Werbespots für Ozempic sind in den USA allgegenwärtig – auch und vor allem auf TikTok und Instagram.

Unsaubere Praktiken sieht auch der britische Pharmaverband, der die Mitgliedschaft von Novo Nordisk dieser Tage für zwei Jahre suspendierte: Grund waren vom Unternehmen angebotene Diätkurse, die nicht als Werbeveranstaltung deklariert waren. Damit habe das Unternehmen gegen den Verhaltenskodex verstoßen, weil damit das Vertrauen in die Pharmaindustrie geschwächt werde.

Zuvor hatte der britische „Observer“ berichtet, dass der Pharmakonzern in den vergangene Jahren fast 22 Millionen Pfund an Experten, Unis und Gesundheitsverbände vergeben hatte – die sich dann großteils voll des Lobes für die Produkte gezeigt hatten.

900 Dollar pro Monat

Ozempic spricht derzeit vor allem jene an, die es sich auch leisten können: Selbst für Menschen mit einer Krankenversicherung werden die Kosten für das Medikament nur in seltenen Fällen bei Diabetes Typ 2 übernommen. Ein Pen, der im Wesentlichen die Dosen für einen Monat beinhaltet, kommt auf rund 900 Dollar. Für tatsächliche Patienten ist eine Dauermedikation vorgesehen. Wird Ozempic abgesetzt, setzt – ohne Verhaltensänderung – im Normalfall wieder die Gewichtszunahme ein: Laut Studien sind die Menschen nach rund einem Jahr wieder bei ihrem Ausgangsgewicht.

Körperkluft zwischen Reich und Arm

„Die Reichen grenzen sich auf die vielleicht offensichtlichste Art und Weise ab: durch die Perfektionierung ihres Körpers“, heißt es im Onlinemagazin Unherd. Man verweist auf Studien, laut denen mit steigendem Einkommen Fettleibigkeit immer seltener vorkomme. „Die Reichen sind fit, und die Armen sind fett“, formuliert Unherd sehr pointiert. Und Medikamente wie Ozempic würden diese Unterschiede noch deutlicher machen.

Unterschiedliche Studien gehen davon aus, dass rund zwei Drittel der Amerikanerinnen und Amerikaner übergewichtig sind, zwischen 40 und 50 Prozent sogar adipös. Doch jene, denen ein entsprechendes Medikament tatsächlich eine erhebliche Verbesserung ihres Gesundheitszustands ermöglichen würde, werden wohl nie in den Genuss einer Behandlung kommen, mutmaßt Unherd.

Deutliche Nebenwirkungen

Andere Medien wiederum thematisieren vor allem die gesundheitlichen Folgen: Berichtet wird von Nebenwirkungen wie Übelkeit, Erbrechen, Durchfall und Verstopfung. Die in den USA für Arzneimittel zuständige Food and Drug Administration (FDA) warnt, dass Menschen mit Bauchspeichel- und Schilddrüsenerkrankungen Ozempic nicht verwenden sollten. Bei Tierversuchen seien zudem Schilddrüsentumore aufgetreten. The Cut verweist auch darauf, dass in früheren Jahren Diätmedikamente immer wieder von den Behörden vom Markt genommen wurden.

US-Boulevardmedien wiederum haben sich auf das „Ozempic-Gesicht“ eingeschossen: Durch rasches Abnehmen schwindet auch das Körperfett im Gesicht. Eingefallene Wangen und Hautfalten seien die Folge.

Hinweis

Die Österreichische Gesellschaft für Essstörungen bietet auf ihrer Website eine österreichweite Übersicht über Beratungsstellen und Hotlines für Betroffene von Essstörungen und deren Angehörige.

Warnung vor Essstörungen

Gewarnt wird aber auch vor gesundheitlichen Folgen, wenn das Medikament das bewirkt, was es bewirken soll: „Wir fügen den Möglichkeiten, sich mit einer Essstörung selbst zu zerstören, ein weiteres Werkzeug hinzu“, sagte Kim Dennis vom US-Verband für Essstörungen dem Onlinemagazin Jezebel. Man wisse aus der Forschung, dass Diäten zu den größten Risikofaktoren für die Entwicklung einer Essstörung zählen.

Die Art der Wirkung von Ozempic konterkariere zudem jede Therapie von Essstörungen: „Bei der Behandlung von Menschen mit Essstörungen konzentriert sich ein Großteil unserer Arbeit darauf, sie wieder mit ihrem Körper in Verbindung zu bringen, sie so weit zu sensibilisieren, dass sie Hunger- und Essenssignale wahrnehmen.“ Ozempic unterbinde genau das.

Abschied vom Essen?

Solche Fragen stellen sich nicht nur auf individueller Ebene: Denn was passiert mit einer Gesellschaft, in der das Verlangen nach Essen, also nach etwas, das wir zum Überleben brauchen, pathologisiert wird, bringt etwa die Podcasterin Abby Rose Morris die Frage per Twitter auf den Punkt. „Life after Food“ titelt The Cut gar seinen Artikel – ganz so, als ob die Menschheit auf dem Sprung sei, mit Präparaten wie Ozempic das Essen quasi zu überwinden.

Andere Beobachter sehen die Abnehmspritze in einer Reihe mit anderen Trends von Verjüngungskuren bis hin zu Designerbabys, die zu einer Optimierung des Körpers führen, ohne dass dafür eine körperliche Leistung erbracht werden muss. Was heißt das langfristig für das Körpergefühl und für den Stellenwert des Körpers, wenn er quasi nach Belieben manipuliert werden kann?