Der japanische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Kenzaburo Oe
AP/The Yomiuri Shimbun/Kayo Kobayashi
1935–2023

Kenzaburo Oe ist tot

Der japanische Literaturnobelpreisträger Kenzaburo Oe ist tot. Er starb im Alter von 88 Jahren, wie sein Verlag Kodansha am Montag mitteilte. Japans großer Nachkriegsautor war ein überzeugter Pazifist. Er forderte sein Land nach der Atomkatastrophe von Fukushima vor zwölf Jahren vergeblich zum Ausstieg aus der Atomkraft auf.

Oe war so etwas wie das soziale Gewissen Japans. Eindringlich warnte er etwa vor einem Rückfall Japans in die Zeiten, die zum Zweiten Weltkrieg führten. Das schwedische Nobelpreiskomitee, das Oe 1994 mit dem Nobelpreis für Literatur ehrte, würdigte denn auch nicht nur Oes literarisches Schaffen, sondern auch seine Rolle als Sozialkritiker sowie Mahner vor einer kritiklosen Verwestlichung seines Heimatlandes.

Der ehemalige deutsche Bundeskanzler Willy Brandt meinte einmal, Oe spiele in seinem Land „offenbar dieselbe Rolle wie Günter Grass in Deutschland – den Nestbeschmutzer“. Beide Literaturnobelpreisträger – Oes Briefwechsel mit Grass erschien 1995 – thematisieren sowohl in Werk als auch in Tat die Lehren aus der schmerzlichen Vergangenheit ihrer Länder.

Literaturnobelpreisträger Kenzaburo Oe
APA/AFP/Yoshikazu Tsuno
Oe wollte dem Randständigen eine Stimme geben – vielen galt er als der erste moderne Schriftsteller Japans

Friedensartikel 9 und Ausstieg aus Atomkraft

So war Oe Mitbegründer einer Bürgerorganisation, die sich für den Erhalt des Friedensartikels 9 der Nachkriegsverfassung einsetzt, die zu ändern sich die neue rechte Regierung groß auf die Fahnen geschrieben hat.

Ein weiteres zentrales Thema für Oe, der am 31. Jänner 1935 auf der Insel Shikoku im Südwesten Japans als Spross einer Samurai-Familie geboren wurde und von seiner ländlichen Herkunft geprägt blieb, war der Atombombenabwurf auf Hiroshima. Nach dem Atomunfall in Fukushima forderte Oe den Ausstieg aus der Atomkraft.

„Mache es meinen Lesern nicht leicht“

Seinen literarischen Durchbruch hatte Oe mit seiner frühen Erzählung „Der Fang“ (1958), einer tragischen Geschichte über einen afroamerikanischen Piloten, der während des Zweiten Weltkriegs in einer japanischen Dorfgemeinschaft gefangen gehalten wird. Bereits kurz nach Erscheinen wurde die Erzählung von Nagisa Oshima verfilmt und brachte Oe den renommierten Akutagawa-Preis ein.

Nicht immer war Oe – vor allem für Leser in der westlichen Welt – leicht lesbar, „konsumierbar“. In diesem Zusammenhang gestand Oe einmal auch ein: „Ich mache es meinen Lesern nicht leicht.“

Moderner Autor mit europäischen Einflüssen

Er nannte seinen Erzählstil „grotesken Realismus“ und berief sich dabei gern auf den französischen Dichter Francois Rabelais (1494–1553). Auch deutsche Autoren wie Grimmelshausen und Goethe beeindruckten ihn. Das Nobelpreiskomitee bemerkte in seiner Begründung Einflüsse von Dante, Edgar Allen Poe, Honore de Balzac, T. S. Eliot und Jean-Paul Sartre.

Für viele war Oe der erste moderne Schriftsteller Japans mit starken europäischen Einflüssen und Prägungen. Sein Bezug besonders zur französischen Literatur prägte ihn seit seinen Jugendtagen, später studierte er in Tokio Französisch.

Ebenfalls 1958 erschien sein erster großer Roman „Rodet die Knospen, schießt auf die Kinder“, eine Sozialfabel über Kinder aus einer Besserungsanstalt, die während des Krieges in Japan auf sich selbst gestellt waren.

Kenzaburo Oe mit seinem Sohn Hikari und seiner Frau Yukari Oe in Oslo 1994
AP/Gunnar Ask
Oe mit seinem Sohn Hikari und seiner Frau Yukari auf Besuch in Stockholm im Rahmen der Nobelpreisverleihung 1994

„An den Rändern“ schreiben

Von Anfang an entschied sich Oe, dem Randständigen eine Stimme zu geben, oder, wie er es ausdrückte, „an den Rändern“ zu bleiben und niemals „mit denen zusammenzuarbeiten, die sich im Zentrum befinden und die Macht haben“. Die Geburt seines beeinträchtigten Sohnes Hikari (japanisch für „Licht“) im Jahr 1963 gab seinem Werk einen neuen Impuls.

„Das Schreiben und das Leben mit meinem Sohn überlagerten sich, und diese beiden Aktivitäten konnten sich nur gegenseitig vertiefen. Ich dachte mir, dass meine Fantasie wahrscheinlich dort Gestalt annehmen könnte“, sagte er später.

Privatleben als Werkthema

„Eine persönliche Erfahrung“ (1964) ist der erste einer langen Reihe von Romanen, die von seinem Privatleben inspiriert sind und in denen es um einen jungen Vater geht, der mit dem Schock der Geburt eines geistig behinderten Babys konfrontiert wird, bis hin zur Überlegung, es zu töten. Später folgten etwa seine autobiografischen Essays unter dem Titel „Licht scheint auf mein Dach“. Darin geht es um seinen inzwischen erwachsenen Sohn Hikari, der klassische Musik komponiert.

Seine „Notizen aus Hiroshima“ (1965) sind eine Sammlung ergreifender Zeugnisse von Opfern des 6. August 1945. In seinen „Notizen aus Okinawa“ (1970) befasst er sich mit dem tragischen Schicksal dieser kleinen Inselgruppe an der Peripherie Japans, die erst 1972 von den USA zurückgegeben wurde.