Ein ukrainischer Soldat bereitet sich für die Front vor
APA/AFP/Aris Messinis
Ukrainische Armee

Mangel und Auszehrung bemerkbar

Nach über einem Jahr Krieg gegen Russland gibt es nicht nur in der russischen Armee, sondern auch in der ukrainischen große „Abnutzungs- und Mangelerscheinungen“, wie die „Washington Post“ („WP“) schreibt. So fehlt es etwa an Munition – offenbar auch in der zwischen ukrainischen Truppen und der russischen Söldnergruppe Wagner heftig umkämpften Stadt Bachmut. An kampferprobten Soldaten mangelt es anscheinend ebenfalls – zu viele sind bereits gefallen.

Die Qualität der ukrainischen Streitkräfte, die früher als erheblicher Vorteil gegenüber Russland gegolten hatte, wurde durch ein Jahr voller Verluste geschmälert. Viele der erfahrensten Kämpfer seien getötet worden, schreibt die „WP“. Und das habe eine schmerzliche Lücke hinterlassen. „Das Wertvollste im Krieg ist die Kampferfahrung“, sagte ein Bataillonskommandeur der 46. Luftangriffsbrigade zur „WP“.

Der Kommandeur wird in der Zeitung gemäß dem ukrainischen Militärprotokoll nur durch sein Rufzeichen „Kupol“ identifiziert. „Ein Soldat, der sechs Monate Kampf überlebt hat, und ein Soldat, der von einem Schießstand kommt, sind zwei verschiedene Soldaten. Es ist Himmel und Erde“, so „Kupol“ im Interview mit der „WP“. Leider gebe es kaum mehr erfahrene Soldaten, sie seien entweder bereits tot oder verwundet, sagte „Kupol“ weiter. Laut ukrainischem Militärpersonal an Ort und Stelle leidet die ukrainische Armee an einem grundlegenden Munitionsmangel auf dem Schlachtfeld, einschließlich Artilleriegeschoßen und Mörserbomben, so die „WP“.

Ukrainische Soldaten an einer Haubitze
Reuters/Oleksandr Ratushniak
Ukrainische Soldaten bedienen eine Haubitze

Rund 120.000 ukrainische Soldaten tot oder verletzt

Die zahlreichen Einsätze der unerfahrenen ukrainischen Wehrpflichtigen, die geholt wurden, um die Verluste auszugleichen, haben das Profil der ukrainischen Streitkräfte verändert, schreibt die „WP“. US- und europäische Stellen schätzen, dass seit dem Beginn des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine rund 120.000 ukrainische Soldaten getötet oder verwundet worden sind.

Auf russischer Seite sollen laut diesen Schätzungen rund 200.000 Soldaten gefallen oder verwundet worden sein. Russland hat rund die dreifache Bevölkerung der Ukraine. Die Ukraine hält die genauen Zahlen ihrer getöteten bzw. verwundeten Soldaten geheim – auch vor den westlichen Unterstützern.

Soldaten werden separat für Offensive ausgebildet

Die derzeitige Situation auf dem Schlachtfeld könnte allerdings nicht das Gesamtbild der ukrainischen Streitkräfte widerspiegeln, so die US-Zeitung. Kiew würde derzeit Truppen für die kommende erwartete Gegenoffensive separat ausbilden und sie absichtlich aus aktuellen Kämpfen, wie etwa der Verteidigung von Bachmut, zurückhalten, heißt es von einem US-Beamten im Pentagon gegenüber der Zeitung.

Der Chef der Präsidialverwaltung, Andrij Jermak, schlägt in dieselbe Kerbe. Der Zustand der ukrainischen Streitkräfte schmälere seinen Optimismus hinsichtlich einer bevorstehenden Gegenoffensive nicht. „Ich glaube nicht, dass wir unser Potenzial ausgeschöpft haben“, so Jermak zur „WP“. „Ich denke, dass es in jedem Krieg eine Zeit gibt, in der man neues Personal vorbereiten muss“, sagte Jermak. Und das passiere.

Satellitenbild zeigt Rauchschwaden über Bachmut
Reuters/Maxar Technology
Ein Blick auf Bachmut aus der Luft – die Stadt ist so gut wie völlig zerstört

Bachmut-Ausharren unterschiedlich bewertet

Der Kommandant der ukrainischen Bodentruppen, Oleksandr Syrskyj, erklärte, der erbitterte Kampf um Bachmut in der Ostukraine trage dazu bei, Zeit für die Vorbereitung einer Gegenoffensive gegen die russische Armee zu gewinnen. Je länger russische Truppen in Bachmut gebunden sind, desto weniger können sie in den Defensivmodus übergehen – das heißt, sich nicht andernorts in Stellung bringen und diese Stellungen gegen die erwartete ukrainische Gegenoffensive absichern.

Einige Experten stellen allerdings den Sinn weiterer Kämpfe um Bachmut infrage. Ukrainische Militäranalysten äußerten sich kritisch über das Festhalten an der Schlacht um Bachmut. „Wir haben Informationen, dass die Regierung Reservisten nach Bachmut schickt, die in westlichen Ländern ausgebildet wurden. Und wir erleiden Verluste unter den Reservisten, die wir für Gegenoffensiven einsetzen wollten“, sagte der ukrainische Militäranalyst Oleh Schdanow. „Wir könnten hier alles verlieren, was wir für diese Gegenoffensiven einsetzen wollten“, so sein Standpunkt.

Hoher symbolischer Wert

Der ukrainische Militärhistoriker Roman Ponomarenko sagte, die Gefahr einer Einkesselung in Bachmut sei „sehr real“. „Wenn wir Bachmut einfach aufgeben und unsere Truppen und Ausrüstung zurückziehen, kann nichts Schlimmes passieren … wenn sie den Ring schließen, werden wir Männer und Ausrüstung verlieren“, sagte Ponomarenko dem ukrainischen Radio NV weiter.

Bombenkrater und zerstörtes Gebäude in Bachmut (Ukraine)
IMAGO/SNA/Evgeny Biyatov
Bombenkrater und zerstörtes Gebäude in Bachmut

Aufgrund der hohen Verluste in dem seit über einem Jahr laufenden Krieg würden auch einige ukrainische Offiziere die erwartete ukrainische Frühlingsoffensive infrage stellen, so die „WP“. Obwohl Fachleute an der strategischen Bedeutung der Stadt zweifeln, hat die Schlacht für beide Seiten mittlerweile einen symbolischen Wert erlangt.

Moskau will Wehrpflichtalter erhöhen

Russland könnte in einer weitaus schlechteren Situation als die Ukraine stecken, so die „WP“. Während einer NATO-Sitzung letzten Monat habe der britische Verteidigungsminister Ben Wallace gesagt, dass 97 Prozent der russischen Armee bereits in der Ukraine stationiert seien. Moskau erleide „Zermürbendes wie im Ersten Weltkrieg“, so der Minister.

Eine Gesetzesinitiative in Russland zur Erhöhung des Wehrpflichtalters wurde bereits ins Parlament eingebracht. Dem Gesetzestext entsprechend soll die Einberufung zum Militär ab 2026 erst mit 21 Jahren erfolgen, berichtete die Nachrichtenagentur Interfax am Montag. Zugleich soll das Höchstalter von derzeit 27 Jahren auf 30 Jahre hochgesetzt werden.

Die Erhöhung des Mindestalters von derzeit 18 Jahren erfolgt demnach stufenweise. Ab nächstem Jahr sollen Rekruten erst mit 19 Jahren eingezogen werden, ab 2025 mit 20 Jahren. Wenn jemand freiwillig mit 18 zur Armee wolle, solle er diese Möglichkeit aber behalten, heißt es. Die Obergrenze hingegen soll ohne Zwischenschritte direkt auf 30 Jahre angehoben werden.

Offiziell keine Wehrpflichtigen im Kampfeinsatz

Im Dezember 2022 hatte Verteidigungsminister Sergej Schoigu entsprechende Änderungen des Wehrpflichtalters bereits in Aussicht gestellt. Beobachter erklärten das mit der geplanten Aufstockung der russischen Streitkräfte von derzeit 1,15 auf 1,5 Millionen Soldaten. Unabhängige Medien wiesen – auch vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine – darauf hin, dass die neue Regelung der Armee aufgrund der unterschiedlich starken Geburtenjahrgänge rund 300.000 zusätzliche Wehrpflichtige bringen könnte. Offiziell schickt Russland keine Wehrpflichtigen in den Krieg. Allerdings können die Wehrpflichtigen Aufgaben zur Sicherung des Hinterlandes übernehmen.

Rekrutierung: Große Städte verhältnismäßig verschont

Nach Angaben der britischen Regierung schirmt die russische Führung die Bewohner großer Städte weitgehend von den Folgen des Krieges ab. In einem Bericht des Verteidigungsministeriums hieß es am Sonntag, Russlands reichste Städte Moskau und St. Petersburg blieben von den „extrem schweren Verlusten“ verhältnismäßig verschont.

Aus vielen östlichen Regionen sei die Zahl der getöteten Soldaten wohl mehr als 30-mal so hoch wie in Moskau. Davon seien besonders ethnische Minderheiten betroffen. Beispielsweise gehörten in der Stadt Astrachan 75 Prozent der Gefallenen zu den Bevölkerungsgruppen der Tataren und Kasachen.

Es werde wohl auch weiterhin ein Hauptanliegen der russischen Militärführung bleiben, die wohlhabenderen und einflussreicheren Teile der Bevölkerung abzuschirmen, so die Einschätzung der britischen Geheimdienste. Das Verteidigungsministerium in London veröffentlicht seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine unter Berufung auf Geheimdienstinformationen täglich Informationen zum Kriegsverlauf. Moskau wirft London eine Desinformationskampagne vor.

Litauen: Russland kann Krieg zwei Jahre fortsetzen

Russland ist nach Einschätzung der litauischen Geheimdienste in der Lage, den Krieg in der Ukraine weitere zwei Jahre fortzusetzen. „Wir schätzen, dass die Ressourcen, die Russland heute zur Verfügung stehen, ausreichen würden, um noch zwei Jahre lang einen Krieg mit der gleichen Intensität wie heute zu führen“, sagte Oberst Elegijus Paulavicius vom Militärgeheimdienst des baltischen EU- und NATO-Landes letzte Woche.

Litauen grenzt an die russische Exklave Kaliningrad sowie an Russlands Verbündeten Belarus. Nach Einschätzung der Geheimdienste schränkt der Krieg in der Ukraine die militärischen Fähigkeiten Russlands in dem Gebiet um das frühere Königsberg und im Westen Russlands nur in gewissem Maße und vorübergehend ein. Negativ auf die Sicherheit Litauens und anderer NATO-Staaten in der Region wirke sich auch Russlands „uneingeschränkte Möglichkeit“ aus, seine Truppen nach Belarus zu entsenden. Das verkürze die Vorwarnzeit, sagte Paulavicius der Agentur BNS zufolge.