Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu
AP/Ohad Zwigenberg
Justizumbau

Regierung treibt Israel in Radikalisierung

Mit dem geplanten umfassenden Justizumbau und der Machtverschiebung im demokratischen Gefüge Israels treibt die rechts-religiöse Regierung das Land in eine immer stärkere Polarisierung. Eine „Abschwächung“ des Gesetzesvorhabens am Montag ist für die Opposition ein rein taktisches Manöver. Im wachsenden Frust werden mittlerweile bittere Gedankenspiele über eine andere Art von Zweistaatenlösung ventiliert, nämlich einer Spaltung in einen „Staat Tel Aviv“ und einen „Staat Jerusalem“.

Gleichzeitig könnte angesichts des am Mittwoch beginnenden Ramadans eine zusätzliche Eskalation der Gewalt mit den Palästinensern bevorstehen. Israel droht eine simultane Radikalisierung auf beiden Ebenen.

Zum elften Mal in Folge gingen am Samstag Hunderttausende Menschen auf die Straße, um gegen den von der Regierung vorangetriebenen Justizumbau zu demonstrieren. Dieser würde jedenfalls das Ende der bisher gewohnten demokratischen Verhältnisse bedeuten und die Kontrolle der Exekutive durch die Judikative enorm einschränken. Nach Überzeugung vieler Israelis würde sie überhaupt das Ende der Demokratie bedeuten.

Dass dann eine Regierung mit einfacher Mehrheit Höchstgerichtsurteile umgehen und Verfassungsgesetze beschließen könnte, Einsprüche bei Gericht gegen die Amtsausübung von Ministerinnen und Ministern nicht mehr zulässig wären und die Regierung die Mehrheit der Richter aller Gerichte bis hin zum Höchstgericht bestimmen würde, lässt viele um ihre individuellen Freiheitsrechte bangen. Angesichts der politisch rechten, nationalistischen und teils rechtsextremen sowie religiös streng konservativen Regierungsmitglieder ist mit Einschränkungen der Freiheiten für Frauen und die LGBTQ-Community zu rechnen. Entsprechende Gesetzesvorschläge liegen teils bereits in der Knesset.

Demonstration in Tel Aviv
Reuters/Ilan Rosenberg
Als Mägde wie in „The Handmaid’s Tale“ verkleidet warnen Frauen bei den Massenprotesten vor Einschränkungen ihrer Rechte

„Wir sind – noch – nicht der Iran“

Frauengruppen etwa treten daher bei den Protesten seit Wochen als den Männern unterworfene Mägde aus der dystopischen Kultserie „The Handmaid’s Tale“ auf. Auch Schilder mit „Wir sind – noch – nicht der Iran“ verweisen auf die Sorge vor einer dramatischen Verschlechterung der Freiheitsrechte. Neben der gefühlten Zustandsbeschreibung der Demonstrierenden ist es auch ein Fingerzeig für die Regierung, dass dieser ein ähnlicher Aufstand wie im Land des politischen Todfeinds drohen könnte.

Dystopische Proteste in Israel

Seit Wochen wird in Israel gegen die geplante Justizreform protestiert. Fixer Bestandteil vieler Demonstrationen sind Frauen in langen roten Mänteln und weißen Hauben, die mit gesenktem Kopf und gefalteten Händen auftreten. Sie gemahnen an Figuren aus der Serie „The Handmaid’s Tale“.

Entgegenkommen als taktischer Zug

Am Montag stellte die Regierung nun eine Art Kompromissvorschlag vor: Das Gros der Gesetze zum Justizumbau solle nun erst nach Ende der in zwei Wochen beginnenden einmonatigen Parlamentspause endgültig, also in dritter Lesung, beschlossen werden. Eines der zentralen Vorhaben, die Novelle zur Ernennung von Richtern (auch des Höchstgerichts), die der Regierung die Mehrheit in der Kommission verschaffen würde, solle noch vor dem 2. April final verabschiedet werden.

Feindbild „linke Elite“

Viele Rechte sehen sich seit Jahrzehnten von einer „linken Elite“ bevormundet und sehen den Justizumbau als längst überfällige Korrektur und Entmachtung dieser „Elite“. Dabei war zumindest die einst konservative, mittlerweile rechte Likud-Partei in den letzten 46 Jahren – 1977 stellte sie mit Menachem Begin erstmals den Regierungschef – nur 13 Jahre nicht in der Regierung.

Dass die Ankündigung des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu nur wenige Stunden nach einem Telefonat mit US-Präsident Joe Biden erfolgte, in dem dieser in ungewöhnlich direkter Weise Netanjahu zu einem Kompromiss mit der Opposition drängte, erweckte den Eindruck, Netanjahu habe seinen harten Kurs etwas gelockert.

Das ist de facto aber nicht zu erkennen: Die Richterernennung ist ein zentraler Hebel, und die anderen umstrittenen Gesetze werden in den nächsten Tagen unverändert für die finale Abstimmung vorbereitet. Die Opposition wies das „Angebot“ entsprechend abrupt zurück. Die neue Fassung sei „Ungarn und Polen auf Steroiden“, so die Chefin der Arbeitspartei, Merav Michaeli. Der gesamte Gesetzesprozess müsse gestoppt und dann in Ruhe darüber verhandelt werden.

Auch Vermittlungsversuche des Staatspräsidenten Jitzchak „Buschi“ Herzog waren zuletzt endgültig am Widerstand der Regierung gescheitert. Diese fordert von der Opposition ständig Gesprächsbereitschaft – freilich zu den eigenen Konditionen und ohne die Bereitschaft, die Gesetzgebung während etwaiger Verhandlungen auszusetzen.

Israels Finanzminister Bezalel Smotrich
AP/Gil Cohen-Magen
Der rechtsgerichtete Finanzminister Smotrich provoziert mit Aussagen über die Palästinenser

Gewalteskalation während des Ramadans befürchtet

Nicht erst seit Amtsantritt der aktuellen israelischen Regierung, aber verstärkt seither, nehmen auch die gewaltsamen und tödlichen Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und Israelis, insbesondere im Westjordanland, zu: Auf Terroranschläge von Palästinensern – meist auf jüdische Siedlerinnen und Siedler – folgen Armeeeinsätze gegen Terrorverdächtige in palästinensischen Städten und immer wieder Angriffe jüdischer Mobs auf Palästinenser – oder umgekehrt.

Und Mittwochabend beginnt der islamische Fastenmonat Ramadan. In diesen Wochen kam es in den vergangenen Jahren trotz israelischer Deeskalationsmaßnahmen immer wieder zu blutigen Unruhen. Nun ist der rechtsextreme Minister Itamar Ben-Gvir für die innere Sicherheit und damit die Polizei zuständig. Er heizt durch provokante Ansagen seit Wochen das Klima an.

Ben Gvir hatte etwa angekündigt, auch im Ramadan palästinensische Häuser, die laut israelischer Auffassung im besetzten Ostjerusalem widerrechtlich gebaut wurden, demolieren zu lassen. Netanjahu musste schließlich ein Machtwort sprechen.

Am Montag gab Israel auch – wie in den vergangenen Jahren – eine Reihe von Lockerungsmaßnahmen für Palästinenser während des Ramadans bekannt, darunter unter anderem Familienbesuche aus dem Westjordanland bei Verwandten in Israel.

„Palästinensisches Volk gibt es nicht“

Der radikale Siedlerpolitiker und Finanzminister Bezalel Smotrich goss nun mit seiner in Paris getätigten Aussage, „so etwas wie ein palästinensisches Volk“ gebe es gar nicht, und das müsse man der Welt endlich sagen, noch zusätzlich Öl ins Feuer. Dass er das neben einer Landkarte, die Großisrael (also Israel inklusive Westjordanland und Jordanien) zeigte, machte, sorgte zudem am Montag für eine scharfe Reaktion Jordaniens. Amman verlangte von Netanjahu eine Klarstellung.

Vor allem im Westjordanland ist der Frust unter der palästinensischen Bevölkerung wegen der israelischen Besatzung und dem Dauerstreit mit jüdischen Siedlern riesig. Fast ebenso groß aber sind Frust und Wut auf die Autonomiebehörde und darüber, dass diese es nicht schafft, die eigene Bevölkerung vor Übergriffen jüdischer Siedler zu beschützen.

Angesichts all dessen sind Zweifel angebracht, ob eine am Wochenende unter Vermittlung der USA, Ägyptens und Jordaniens ausgehandelte Deeskalation überhaupt Aussichten auf eine Umsetzung hat.

Keine Zweistaatenlösung

Eine Zweistaatenlösung, wie sie international aller aktuellen Realität zum Trotz noch immer als die Lösung für den Nahost-Konflikt angepeilt wird, ist im palästinensischen wie israelischen Diskurs längst infrage gestellt, wenn nicht gar ad acta gelegt. Das ist ironischerweise einer der wenigen Punkte, wo es im Diskurs auf beiden Seiten große Übereinstimmung gibt – wenn auch freilich nicht darüber, was daraus folgt.

Die Kluft wird immer größer

Auch in Israel selbst ist das einer der wenigen Punkte, in dem viele Linke und Liberale mit Konservativen und Rechten – ob aus Überzeugung oder Realpolitik – übereinstimmen. Doch vor allem bei gesellschaftspolitischen Themen und Fragen der politischen Organisation gibt es unüberbrückbare, mit jedem Tag tiefer werdende Gräben. Die Gräben zwischen Säkularen und Religiösen, zwischen den Aschkenasim, Sephardim und Mizrachim, den Liberalen und Konservativen, den Friedensaktivisten und den Siedlern, zwischen Juden und Arabern bestehen seit Jahrzehnten.

Aber noch nie war die Kluft so groß. Der säkulare, liberale Teil der Bevölkerung, der einen Großteil des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet und zudem überwiegend die Last des Militärdiensts schultert, und die radikalen Siedlerinnen und Siedler und Ultraorthodoxen stehen einander in immer größerem Unverständnis bis hin zu Verachtung gegenüber.

„Medinat Tel Aviv“

Als Ausdruck des Frusts und der Radikalisierung ist in manchen Kommentaren, etwa vom bekannten Journalisten Ben Caspit, mittlerweile von einer anderen Zweistaatenlösung die Rede, sollte der Kampf um den Justizumbau nicht doch noch durch einen Kompromiss beigelegt werden: der Teilung des jüdischen Staates in einen „Medinat Tel Aviv“ (Staat Tel Aviv) und einen „Medinat Jeruschalajim“ (Staat Jerusalem).