Fischschwarm weicht einem Hai
Getty Images/500px/Scott Carr
„STRANGE“

Mehr Charakter für die Tierforschung

Die Verhaltensforschung bei Tieren unterscheidet sich kaum von jener bei Menschen: Eine kleine Gruppe wird untersucht, in der Regel stehen die Ergebnisse dann repräsentativ für eine größere Menge, wenn nicht sogar für eine ganze Population. Was in der Erforschung von Menschen heute nicht mehr wegzudenken ist, wird seit geraumer Zeit auch stärker bei Tieren berücksichtigt: die Persönlichkeit.

Wer forscht, muss auch entscheiden, wen oder was er erforscht. Dafür wird eine Stichprobe definiert. Meistens steht die Gruppe repräsentativ für eine Population, für die der Forscher bzw. die Forscherin am Ende Aussagen treffen will. Doch individuelle Verhaltensweisen, wenn man will, der Charakter bzw. die Persönlichkeit, können Studienergebnisse verzerren. Weil man immer mit Stichproben arbeitet, und nicht mit allen Individuen einer Art, gebe es „natürlich immer einen Bias“, sagt der Kognitionsbiologe Leonida Fusani zu ORF.at. Das sei aber kein Spezifikum in der Verhaltensforschung, sondern gelte für alle Fächer.

Aus diesem Grund hatten die britischen Biologen Christian Rutz und Michael Webster die Frage gestellt: „How STRANGE are your study animals?“. Hinter „STRANGE“ (deutsch: seltsam) verbirgt sich ein Protokoll, das Forschenden dabei helfen soll, die Besonderheiten, Tendenzen und Erfahrungen der untersuchten Tiere stärker bei den Ergebnissen zu berücksichtigen, so Rutz kürzlich im Onlinemagazin Knowable. Forscher Fusani von der Uni Wien ergänzt gegenüber ORF.at, dass man mit „STRANGE“ klarstellen wolle, „welche Wirkung die Auswahl der Stichprobe auf die Ergebnisse haben kann.“

Sag mir, woher du kommst

Anhand mehrerer Faktoren sollen Forschende mehr Details zu ihren Studienobjekten angeben. In welchem sozialen Umfeld befinden sie sich? Auf welche Art und Weise wurden die Tiere gefangen? Sind sie in der Wildnis oder in der Gefangenschaft aufgewachsen? Und welche Erfahrungen bringen sie bereits mit? Es sei „höchste Zeit“, Stichprobenverzerrung zu identifizieren und zu minimieren, schrieben Rutz und Webster bereits vor drei Jahren im Fachmagazin „Nature“. Immer nur mehr Daten zu sammeln sei keine Lösung, denn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sollten danach streben, die Zahl der verwendeten Versuchstiere möglichst gering zu halten.

Das Protokoll

„STRANGE“ ist ein Akronym und steht für Social background (soziales Umfeld), Trappability (Fangbarkeit), Rearing history (Aufzucht); Acclimation and habituation (Akklimatisierung und Gewöhnung), Natural changes in responsiveness (natürliche Veränderung der Reaktionsfähigkeit), Genetic make-up (genetische Veranlagung) und Experience (Erfahrung).

Anlass für das Protokoll waren eigene Erfahrungen mit Stichproben. So hatte Rutz mit seinem Team eine gewisse Zahl von Neukaledonienkrähen gefangen und mit einer Aufgabe konfrontiert: Aus einem Loch im Baum sollten die Tiere das versteckte Futter holen. Das gelang ihnen mit dünnen Zweigen (die Krähen sind für ihren geschickten Werkzeuggebrauch bekannt). Versuchte eine Krähe binnen 90 Minuten nicht, an das Futter zu kommen, wurde sie aus dem Datensatz entfernt. Nach einiger Zeit merkte Rutz allerdings, dass die „Aussortierten“ einfach ein „bisschen“ länger benötigten, um sich an die Situation zu gewöhnen. Also gab er ihnen zusätzlich Zeit.

Vielfalt im Fangnetz

Mit einem anderen Beispiel wartet Webster auf. Für ein Experiment hat er mit seinem Team versucht, Stichlinge mit Hilfe von Elritzenfallen zu fangen. Es wurde bereits vermutet, dass nur bestimmte Stichlinge in die passive Falle schwimmen werden. Später im Labor bestätigte sich sein Verdacht: Fische, die aktiver waren, landeten eher in der Falle, als jene, deren Aktivitätsniveau niedrig war. Die Gründe dafür sind vielfältig, unter anderem mag es daran liegen, dass sich die Aktiveren unter den Stichlingen vom Schwarm schon mal entfernen und sich somit auch öfters den Fallen nähern.

In erster Linie bedeutet die Entdeckung allerdings: Mit der passiven Fangart gelangen überwiegend Fische ins Netz, die womöglich ein Verhalten aufweisen, das von der Gesamtpopulation abweicht. Wenn mit den gefangenen Fischen dann noch wissenschaftliche Aussagen über den Aktivitätsgrad von Stichlingen getroffen werden soll, wird es problematisch. Damit die Stichprobe auch die Vielfalt der Stichlinge abbildet, musste man das Konzept ändern: Statt den Elritzenfallen verwende man nun doch Netze, wird Webster in Knowable zitiert.

Fasan
Getty Images/Mike Powells
Auch Tiere haben Verhaltensweisen, die sich von anderen abheben – das soll besser dokumentiert werden

In der jüngeren Forschung lassen sich noch mehr Beispiele finden. So ergab eine Untersuchung, dass Fasane, die in Fünfergruppen untergebracht waren, bei einer Lernaufgabe besser abschnitten als solche, die nur mit drei Tieren ihren Alltag verbrachten. Anhand einer anderen Studie konnten Forscher zeigen, dass Springspinnen, die in Gefangenschaft aufgezogen wurden, weniger an Beute interessiert waren als Artgenossen, die aus ihrer natürlichen Umgebung kamen.

Kotrschal: „Nicht jeder ist ein Kant“

Im Sinne des „STRANGE“-Protokolls sollen solche Details viel stärker berücksichtigt werden. Seit 2021 empfiehlt das renommierte Fachmagazin „Ethology“ seinen Autoren und Autorinnen, sich an diese Vorgaben zu halten. So sollen die Forschenden detaillierte Angaben zur Herkunft (inklusive der Fangmethode) machen, aber auch den sozialen Status, den Persönlichkeitstyp und soziale Kontakte beschreiben. Außerdem sollen mögliche Stichprobenverzerrungen, die wegen der genannten Faktoren bestehen könnten, bewertet werden, heißt es auf der Website des zoologischen Magazins.

Sowohl Inhalt als auch die Absicht von „STRANGE“ seien nicht neu. In der Verhaltensforschung würden Faktoren wie Erfahrung, Aufzucht und individuelles Verhalten schon lange mitgedacht, sagt der bekannte Verhaltensbiologe Kurt Kotrschal gegenüber ORF.at. „Aber natürlich ist es nützlich, das mal systematisch zusammenzufassen, um den jungen und arrivierten Kollegen und Kolleginnen bewusst zu machen, dass man aus einer kleinen Teilmenge von fünf Tieren nicht gleich ein ‚arttypisch‘ machen kann.“

Wolf
Getty Images/Raimund Linke
Manche Tiere seien zurückhaltender, andere agierten etwas forscher, sagt Kotrschal

Individualität spiele in der Tierverhaltensforschung eine große Rolle, sagt der frühere Leiter der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle der Uni Wien. Vor rund 30 Jahren habe er mit seinem Team das individuelle Verhalten von Graugänsen erforscht. „Es gibt Tiere, die zurückhaltend sind, und Tiere, die halt etwas forscher agieren“, so Kotrschal, der 2008 das Wolfsforschungszentrum in Ernstbrunn mitbegründet hat. Dort lote man evolutionär entstandene Potenziale der Tiere aus, „was aber nicht gleich bedeutet, dass jeder Wolf im Freiland so ticken muss. Ist ja auch nicht jeder Mensch ein Immanuel Kant.“

Zuerst „WEIRD“, dann „STRANGE“

Schon in den 1990er Jahren habe man über die Persönlichkeiten von Tieren gesprochen. Kotrschal erinnert etwa an den britischen Verhaltensforscher John Richard Krebs, Sohn des Medizinnobelpreisträgers Hans Krebs. Dieser habe einen wichtigen Beitrag geleistet, damit das Verhalten von Tieren nicht mehr als Blackbox verstanden wird. Mit Techniken aus der Neurobiologie und der experimentellen Psychologie habe er die geistigen Fähigkeiten von Tieren untersucht. Heute sei das Alltag. Auf Kongressen zur Tierverhaltensforschung säßen zur einen Hälfte Biologen und zur anderen Psychologen.

Psychologie scheint auch der Ausgangspunkt von „STRANGE“ zu sein. Rutz und Webster ließen sich nämlich von einem Artikel inspirieren, der vor mehr als zehn Jahren in „Behavioral and Brain Sciences“ publiziert wurde. Das Magazin gilt als eines der meistzitierten Periodika im Bereich der Psychologie. Im Artikel betonten drei Forscher, dass viele wichtige Erkenntnisse der experimentellen Humanpsychologie nicht verallgemeinert werden könnten, weil die Studienteilnehmer überwiegend „WEIRD“ seien.

Krähe
Getty Images/Manuela Schewe-Behnisch
Nicht alle Krähen ticken gleich

Sie würden aus westlichen, gebildeten, industrialisierten, reichen und demokratischen Gesellschaften (Western, Educated, Industrialized, Rich and Democratic) stammen und „zu den am wenigsten repräsentativen Populationen gehören, die man für Verallgemeinerungen über Menschen finden kann“, so die Autoren. „WEIRD“-Personen seien im Vergleich zum Rest der Spezies „besonders ungewöhnlich – häufig Ausreißer“. Ihr Verhalten könne deshalb nicht repräsentativ für größere Gruppen oder gar die ganze Population stehen.

Instrumente zur Qualitätssicherung

Zwischen „STRANGE“ und „WEIRD“ gibt es freilich Unterschiede. Ersteres zeichnet Faktoren nach, die das Verhalten beeinflussen können, Letzteres beschreibt Merkmale einer bestimmten Gruppe, die immer wieder als Stichprobe herangezogen wurde. Gleichzeitig können beide als Instrument zur Qualitätssicherung in der Forschung gesehen werden. Nicht immer haben Studien Hand und Fuß, nur weil sie in Fachmagazinen publiziert werden – selbst wenn sie vorher einer Qualitätskontrolle unterzogen werden.

In der Wissenschaft wird deshalb auf langfristiger Basis versucht, Experimente zu wiederholen. Damit soll getestet werden, ob die Befunde der Originalstudie stimmen oder eben nicht. Im Fachjargon heißt das Replikation und gilt als Fluch und Segen zugleich. Zum einen fühlt sich so manch einer auf den Schlips getreten, wenn die eigenen Versuche nicht bestätigt werden können. Andererseits fördern Wiederholungen die Qualität der Forschung. Dafür werden allerdings Details zu Originalen benötigt, zum Beispiel auch, ob das untersuchte Tier sein Umfeld schon länger kennt.