ein ukrainischer Soldat an der Front nahe Bachmut
Reuters/Violeta Santos Moura
Vor Gegenoffensive

Entscheidende Wochen für Ukraine

Die Lage in Bachmut wird für die Ukraine immer prekärer, der Boden im Osten des Landes taut teils bereits und wird matschig – und der ukrainischen Armee fehlen noch die nötigen Waffen und vor allem Munition, um die erwartete Gegenoffensive starten zu können.

Die nächsten Wochen werden entscheidend, denn westlichen Fachleuten zufolge hat die Ukraine heuer nur eine Chance für einen Gegenschlag und die Rückeroberung russisch besetzten Territoriums. Der Ukraine-Krieg ist seit dem Herbst zu einem Zermürbungskrieg geworden. Vor und im Winter haben sich beide Seiten im wortwörtlichen Sinn in ihren Positionen eingegraben. Die russische Armee hat in den von ihr besetzten Gebieten mehrere Rückzugslinien gebaut und diese stark befestigt, um ein rasches Vorrücken der Ukraine wie im Spätsommer in Cherson zu verhindern.

Keines der beiden Länder hat die Hoheit über den ukrainischen Luftraum. Russland misslang der entsprechende Versuch zu Beginn der Invasion, beide Seiten haben nun eine zu gute Luftabwehr, um das noch zu ändern. Daher wird die Auseinandersetzung vor allem als Bodenkrieg geführt, sprich: Die Artillerie ist entscheidend. Die Ukraine, vor dem Krieg selbst ein großer Waffenexporteur, hat alle ihre – noch verbliebenen – Produktionskapazitäten voll auf die eigene Armee ausgerichtet.

Munition als Unsicherheitsfaktor

Entscheidend sind aber die westlichen Waffenlieferungen. Neben Panzern, die auch für eine Offensive entscheidend sein werden, fehlt es vor allem an Munition. Die westlichen Lagerbestände – in den Szenarien der NATO war ein Artilleriekrieg nicht mehr vorgesehen – sind mittlerweile stark aufgebraucht. Die Produktion wird zwar hochgefahren, das dauert aber. Zur Illustration des Problems: Die USA wollen künftig 90.000 Granaten pro Monat produzieren, bis diese Kapazität erreicht ist, wird es laut „New York Times“ aber zwei Jahre dauern. Und die USA sind das NATO-Land mit der mit Abstand stärksten Rüstungsindustrie. London bemüht sich seinerseits, weltweit Bestände russischer oder sowjetischer Munition, die Kiew vor allem braucht, aufzukaufen.

Beide Seiten, vor allem aber die Ukraine, sparen mittlerweile bei der Munition, da sie so knapp ist. Wie die „NYT“ berichtete, schätzt das Pentagon, dass derzeit die ukrainische Armee rund 6.000 Granaten pro Tag abfeuert – in Bachmut und entlang der gesamten annähernd 1.000 Kilometer langen Front. Die ukrainische Seite ist auch deshalb besonders zurückhaltend, um Soldaten, Munition und anders Kriegsmaterial für die geplante Gegenoffensive zu sparen.

Schwierige Entscheidung zu Bachmut

Vor allem in diesem Zusammenhang ist die Frage, ob die Ukraine weiter in Bachmut ausharren oder die Kleinstadt aufgeben soll, zu sehen. Russische Truppen dort zu binden und ihnen möglichst viele Verluste zuzufügen, war ein richtiges Kalkül, so der US-Militärexperte Rob Lee. Mittlerweile sei das Verhältnis an getöteten Soldaten – laut Lee kamen zeitweise sechs getötete russische Soldaten auf einen ukrainischen – deutlich weniger vorteilhaft für die Ukraine.

Das habe damit zu tun, dass es russischen Einheiten gelungen sei, Hügel bei Bachmut zu besetzen, und die in der Stadt verbliebenen ukrainischen Soldaten nur schlechten Schutz in den nicht unterkellerten Gebäuden am Stadtrand vorfänden. Lee sieht eine endgültige Entscheidung Kiews über Verbleib oder Abzug nahen – auch wegen des einsetzenden Tauwetters, das einen Abzug erschwere.

Granaten von EU zu spät für Offensive?

Die EU-Staaten vereinbarten zu Wochenbeginn, der Ukraine eine Million neue Artilleriegeschoße zu liefern – allerdings binnen zwölf Monaten. So wichtig die Zusage ist: Die in der ersten Jahreshälfte erwartete Gegenoffensive wird angesichts des Zeitplans voraussichtlich ganz oder großteils ohne diesen Nachschub geführt werden müssen.

Und Kiew wird – allein aufgrund der Zahl verfügbarer Soldaten und Waffen – nur die Chance für eine Offensive haben. Einen Ermüdungskrieg auf eigenem Territorium mit allen seinen Folgen will Kiew unbedingt vermeiden. Anders als Russlands Machthaber Wladimir Putin, dem mehr als ein Jahr nach dem Überfall auf die Ukraine im eigenen Land weiter kein nennenswerter Widerstand trotz der vielen toten Soldaten und der wirtschaftlichen Schwierigkeiten entgegenschlägt.

ISW sieht Erlahmen russischer Offensive

Die US-Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW) will Indizien erkennen, dass die russische Frühjahrsoffensive im Osten der Ukraine dabei ist, ihren Höhepunkt erreichen, und bald erlahmen wird. Die Bilanz bisher aus russischer Sicht ist jedenfalls mager: Teils geringe Geländegewinne, aber keine strategisch wichtigen Ziele erreicht, insbesondere nicht die Eroberung des gesamten Donbas.

Das Institut beruft sich unter anderem auf ukrainische Angaben, wonach schwere Verluste nahe der Frontstadt Wuhledar die russischen Fähigkeiten zu Angriffen in der Oblast Donezk stark geschwächt hätten. Die laufenden Offensiven in den ersten Monaten 2023 hätten nicht mehr als einige taktische Gewinne erbracht. Russland habe mit der Teilmobilisierung im September aber 300.000 Soldaten mobilisiert.

Ukraine für Gegenoffensiven „in guter Position“

Sobald die russische Offensive erlahme, habe die Ukraine gute Aussichten, wieder die militärische Initiative zu bekommen, zeigte sich das ISW in seiner Lageeinschätzung überzeugt.

„Wenn 300.000 russische Soldaten nicht in der Lage waren, Russland eine entscheidende offensive Überlegenheit in der Ukraine zu verschaffen, dann ist es sehr unwahrscheinlich, dass die Mobilisierung zusätzlicher Kräfte in künftigen Mobilisierungswellen in diesem Jahr ein beträchtlich anderes Ergebnis liefert“, schrieb das Institut. „Die Ukraine ist daher in einer guten Position, wieder in die Initiative zu gehen und Gegenoffensiven an kritischen Frontabschnitten zu starten“, fügte es hinzu.

ORF-Analyse: China und der Ukraine-Krieg

ORF-Korrespondentin Miriam Beller meldet sich aus Moskau. Sie erklärt, welchen Einfluss Chinas Staatschef Xi Jinping auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin hinsichtlich des Krieges in der Ukraine haben könnte.

Blitzerfolge unwahrscheinlich

Aber auch westliche Militärexperten betonen seit Monaten, dass so rasche und weitreichende Rückeroberungen wie bei Charkiw heuer kaum noch möglich sein werden. Die russische Armee hat an vielen Teilen der Front mehrere Rückzugslinien gebaut, und in der Defensive braucht es auch weniger Munition. Auch mit überlegenen westlichen Waffensystemen wie den US-amerikanischen HIMARS-Raketenwerfern habe Russland mittlerweile umzugehen gelernt und etwa Munitionslager in Gebiete außerhalb der Reichweite verlagert.

Lee und sein US-Kollege Michael Kofman betonten in einer Analyse für den US-Thinktank Foreign Policy Research Institute bereits im Dezember, was für den weiteren Kriegsverlauf entscheidend sein werde: die Waffenlieferungen – und ob es Russland besser als bisher gelingt, die neuen Rekruten zu trainieren, in die Kampfverbände zu integrieren und die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Einheiten zu verbessern.