Frankreichs Präsident Emmanuel Macron
APA/AFP/Ludovic Marin
Pensionsreform

Macron sieht keine Fehler

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat am Mittwoch per TV-Interview versucht, die angespannte Lage zu kalmieren. Die Proteste gegen die Pensionsreform, die er ohne Abstimmung beschließen ließ, gehen aber unvermindert weiter und radikalisieren sich mitunter. Macron will die Reform aber schon bis Jahresende umsetzen.

Seit Wochen ist Frankreich wegen der Reform quasi im Ausnahmezustand. Die Verkehrsbetriebe sind lahmgelegt, die Müllabfuhr streikt, in den Straßen brennen Mistkübel und Autos. Der Hauptpunkt der Reform betrifft das Pensionsantrittsalter, das von 62 auf 64 angehoben werden soll – eines der zentralen Wahlversprechen Macrons. Doch die Mehrheit der Französinnen und Franzosen lehnt die Reform inzwischen kategorisch ab, die Gewerkschaften kündigten auch nach dem Gesetzesbeschluss vergangene Woche an, weiter zu streiken.

Macron hatte in den vergangenen Wochen geschwiegen, am Mittwoch rechtfertigte er die Reform schließlich in einem Interview mit den Sendern TF1 und France 2 TV. Dort sagte er, dass die Pensionsreform „bis zum Jahresende“ in Kraft treten soll. „Wir warten noch auf das Urteil des Verfassungsrats“, so Macron. Der Verfassungsrat könnte Teile der Reform kippen, doch wann er entscheidet, ist unklar.

„Wir verlangen von den Menschen eine Anstrengung. Das ist nie beliebt.“ Aber, so Macrons Rechtfertigung: „Zwischen den Umfragen und der Kurzfristigkeit und dem allgemeinen Interesse des Landes entscheide ich mich für das allgemeine Interesse des Landes.“ Die Reform sei notwendig, die meisten europäischen Länder hätten bereits für ein höheres Pensionsantrittsalter gestimmt.

„Nicht unrechtmäßig“

Macrons Premierministerin Elisabeth Borne hatte vergangene Woche die Reform ohne Abstimmung durch die Nationalversammlung geboxt. Das ist möglich durch den viel kritisierten Verfassungsartikel 49.3. Er erlaubt es, die Reform ohne eine parlamentarische Schlussabstimmung zu verabschieden, wenn die Regierung ein anschließendes Misstrauensvotum übersteht. Am Montag war die Regierung mit lediglich neun Stimmen an einem Sturz vorbeigekommen.

„In einer Demokratie ist ein Text nicht unrechtmäßig, nur weil er mit sehr wenigen Stimmen durchgekommen ist“, so Macron nun am Mittwoch. Er bereue „nichts“, sagte Macron, fügte jedoch hinzu, dass er die angespannte Beziehung zu den Gewerkschaften verbessern und sie künftig stärker bei Reformen einbeziehen wolle. Fehler gestand er nicht ein. „Denken Sie, es macht mir Spaß, diese Reform zu machen?“, fragte Macron und antworte mit einem „Nein“. „Die Wahrheit hier ist, dass es eine Sache gibt, die ich bedauere, und das ist, dass wir es nicht geschafft haben, den Zwang, genauer gesagt die Notwendigkeit, diese Reform zu machen, zu teilen.“ Er lebe aber nicht vom Bedauern, sondern von Willen, Hartnäckigkeit und Engagement. „Das Gesetz wird seinen demokratischen Weg weitergehen.“

Der Premierministerin stärkte Macron nach Rücktrittsforderungen den Rücken. „Sie hat mein Vertrauen, diese Regierungsmannschaft zu steuern.“ Er hoffe, dass sie die Mehrheit der Regierung in den nächsten Wochen ausbauen könne.

Protestierende in Nizza
Reuters/Eric Gaillard
Auch nach dem Beschluss der Reform gehen die Demos und Streiks weiter

Gewalt verurteilt

Macron sagte auch, er respektiere die Proteste gegen das Gesetz, verurteile aber Gewaltakte und Blockaden. „Die Gewerkschaften sind gegen die Reform, das respektiere ich. (…) Aber wenn Gruppen extreme Gewalt anwenden und etwa Abgeordnete angreifen, dann gehört das nicht mehr zu einer Demokratie“, sagte Macron.

Den Gewerkschaften warf er vor, in der Pensionsdebatte „keinen Kompromissvorschlag“ gemacht zu haben. Er rief aber zugleich dazu auf, in den kommenden drei bis vier Wochen den Dialog mit den Sozialpartnern wieder aufzunehmen. Dabei solle es um die Arbeitsbedingungen für ältere Arbeitnehmer und in beschwerlichen Berufen gehen.

Ein erster Kollateralschaden der Pensionsreform dürfte das geplante Einwanderungsgesetz sein, das eigentlich in der kommenden Woche im Senat debattiert werden sollte und nun als zu heikel erscheint. Macron kündigte an, das Einwanderungsgesetz in mehrere einzelne Gesetzestexte aufzuteilen. Innenminister Gerald Darmanin könnte zunächst nur den am wenigsten umstrittenen Teil des Gesetzes verabschieden.

Viele Verletzte bei Demos

Die Proteste gegen die Pensionsreform überschatten ohnehin derzeit alles. Am Mittwoch wurde der Hafen von Marseille, einer der wichtigsten des Landes, vollständig blockiert. Auch der Hafen von Brest in der Bretagne sowie die wichtige Saint-Nazaire-Brücke an der Westküste wurden von Protestierenden blockiert. Zudem blieben mehrere Treibstoffdepots abgesperrt.

In der Nacht zuvor gab es in Anschluss an eine Demo erneut Ausschreitungen in Paris. Mehrere hundert Demonstrierende gerieten auf der Place de la Republique mit den Sicherheitskräften aneinander, die Tränengas einsetzten. Landesweit wurden Polizeikreisen zufolge 128 Menschen in Polizeigewahrsam genommen, davon 81 in Paris. Mehr als 60 Mitglieder der Einsatzkräfte seien verletzt worden.

Auch zwei minderjährige Österreicher sind vorübergehend im Polizeigewahrsam gelandet. Wie das Außenministerium der APA am Mittwoch bestätigte, konnte die österreichische Botschaft in Paris nach einer entsprechenden Information „eine rasche Freilassung“ erreichen.

Kritik an Polizei

Der Vorsitzende der französischen Menschenrechtsliga, Patrick Baudouin, zeigte sich besorgt: „Wir befinden uns in einer besonders beunruhigenden Situation für die Demokratie und in Gegenwart von Polizeigewalt, die die Lage nur verschlimmern kann“, sagte Baudouin zum Sender Franceinfo. Das Ausmaß der Proteste gebe Anlass zu Sorge.

Baudouin sagte, viele der unangemeldeten Demonstrationen seien bis zum Eingreifen der Einsatzkräfte vorwiegend friedlich verlaufen. Es seien auch Menschen festgenommen worden, um zu verhindern, dass sie protestieren. Das sei ein Verstoß gegen die Demonstrationsfreiheit. Auch seien Ordnungskräfte außerordentlich gewalttätig vorgegangen. Der Regierung warf er Blind- und Taubheit vor.

Auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International zeigte sich nach Medienberichten über brutales Vorgehen der Sicherheitskräfte besorgt über „exzessive Gewaltanwendung und missbräuchliche Festnahmen“.

Opposition und Gewerkschaft wütend

Die Opposition kritisierte Macrons Äußerungen am Mittwoch scharf. Der Präsident werfe „Sprengstoff auf die Glut“, schrieb der sozialistische Parteichef Olivier Faure auf dem Kurznachrichtendienst Twitter.

Laurent Berger, Vorsitzender der Gewerkschaft CFDT, warf Macron vor zu lügen und zu leugnen. Die CFDT habe einen Vorschlag für eine Pensionsreform. Auch Philippe Martinez von der Gewerkschaft CGT sagte: „Entweder kennt er unser System nicht – und das ist schlimm –, oder er verarscht uns.“

„Abgehoben, arrogant und verlogen“, twitterte die linkspopulistische Fraktionschefin Mathilde Panot. Die Grünen nannten Macrons Verhalten verächtlich, die Rechtsnationalen beschuldigten Macron nicht zuzuhören.

Ungünstiger Königsbesuch

Angesichts der anhaltenden Proteste forderte die Grünen-Abgeordnete Sandrine Rousseau gar, den britischen König Charles III. wieder auszuladen, der von Sonntag bis Dienstag in Frankreich erwartet wird. „Da will also der republikanische Monarch Emmanuel Macron Charles III. empfangen, mit ihm die Champs Elysees herunterfahren und in Versailles ein Staatsbankett veranstalten, während das Volk auf der Straße demonstriert“, so Rousseau. „Hat dieser Besuch etwa Vorrang? Nein, bestimmt nicht.“