Wahlwerbung von  Recep Tayyip Erdogan
AP/Emrah Gurel
Türkei

Für Erdogan kündigt sich Schicksalswahl an

Nicht nur das schwere Erdbeben im Februar mit rund 50.000 Toten hat in der Türkei tiefe Narben hinterlassen. Jahre der Wirtschaftskrise, Inflation, Freunderlwirtschaft und die Unterdrückung kritischer Stimmen könnten bei der Wahl im Mai zur Zeitenwende führen: Präsident Recep Tayyip Erdogan steht schwer unter Druck. Ausgerechnet die prokurdische HDP könnte Erdogan vom Thron stoßen – sollte er sie nicht rechtzeitig verbieten lassen. Erdogan hält aber noch mehr Trümpfe in der Hand.

Nach rund zwanzig Jahren an der Macht ist Erdogans Bilanz stark getrübt: Die Wirtschaftskrise ist längst in der türkischen Mittelschicht angekommen. Die Inflation, die der Präsident durch Zinssenkungen selbst befeuerte, liegt laut offiziellen Zahlen über 50 Prozent, laut unabhängigen Instituten weit höher. Das lange währende Versprechen der Erdogan-Partei AKP, den Lebensstandard der Massen zu erhöhen, hält nicht mehr.

Hinzu kommt das schwere Erdbeben vom Februar, das ungeahnt scharfe Kritik an Erdogan hervorrief. Nicht nur zögerliches Krisenmanagement erregte die Wut der Betroffenen, auch die Tatsache, dass viele angeblich bebensichere Häuser in sich zusammenfielen, wurde den Regierenden angelastet. Zu lax der Umgang mit Bauvorschriften, zu verhabert die Branche mit den Mächtigen, so die Vorwürfe.

Nun könnte am 14. Mai die Abrechnung mit Erdogan folgen, wenn sowohl Parlaments- als auch Präsidentenwahlen stattfinden. Das Oppositionsbündnis Nationale Allianz, bestehend aus sechs Parteien, konnte sich schließlich doch auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen: Kemal Kilicdaroglu soll die Ära Erdogan beenden. In den Umfragen führt er nur wenige Wochen vor der Wahl mit einem Plus von zehn Prozent doch deutlich. Das Oppositionsbündnis liegt den Umfragen zufolge auch vor der Allianz von Erdogans AKP mit der nationalistischen MHP im Parlament.

Zuckerbrot und Peitsche

Für Erdogan könnte der Urnengang also zur Schicksalswahl werden, es ist davon auszugehen, dass er alle verfügbaren Trümpfe ausspielen wird, um den Trend umzukehren. Dabei setzt er wie bei vorangegangenen Wahlen schon auf Zuckerbrot und Peitsche. Die Gehälter im öffentlichen Dienst ließ er ebenso wie den Mindestlohn erhöhen, mit günstigen Krediten soll die Wählerschaft bei der Stange gehalten werden.

Grafik zu den türkischen Parlamentswahlen 2018
Grafik: ORF

Gegen Kritikerinnen und Kritiker geht er vehement vor, nicht nur politische Gegner, sondern auch zahlreiche Vertreter der Zivilgesellschaft kamen nach Kritik an Erdogan ins Gefängnis. Gerichte, Behörden, Geheimdienste und Armee sind auf Erdogans Linie. Die von der Regierungsdirektion für Kommunikation streng kontrollierten Medien sind großteils mit seinen Gefolgsleuten besetzt.

Bündnisse

Das Oppositionsbündnis Nationale Allianz besteht aus sechs Parteien. Neben der CHP und der Iyi-Partei gehören auch ehemalige Weggefährten Erdogans, etwa die Deva-Partei und die Zukunftspartei (GP), dazu. Die HDP ist nicht Teil der Allianz. Die AKP tritt im Bündnis mit der ultranationalistischen MHP und der kleinen nationalistisch-religiösen BBP zu den Wahlen an.

Das Parlament wurde be- und das System auf den Präsidenten quasi als Alleinentscheider zugeschnitten. Dabei half auch der missglückte Putschversuch 2016. Seither wurden die Zügel noch einmal deutlich angezogen.

Die Zensur wurde im Vorfeld der anstehenden Wahl noch einmal verschärft, wie Human Rights Watch (HRW) feststellte. „Die Regierung Erdogan ist immer schneller und immer weiter von den Menschenrechten und der Rechtsstaatlichkeit abgerückt, indem sie neue Gesetze zur Onlinezensur und Desinformation eingeführt hat, um die Medien mundtot zu machen und friedlichen Dissens zu unterdrücken“, so Hugh Williamson, Direktor für Europa und Zentralasien bei HRW.

Opposition wittert Chance

Gegen Erdogans Übermacht hat sich schließlich die Opposition zusammengeschlossen, nachdem sie am Versuch, einen Gegenkandidaten aufzustellen, beinahe zerbrochen wäre. Kilicdaroglu von der säkularen CHP, der größten oppositionellen Kraft und Partei des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk, soll Erdogan aus dem Amt drängen. Kilicdaroglu steht der CHP seit 2010 vor, er befürwortet eine türkische EU-Mitgliedschaft und verfolgt einen nationalistischen Kurs beim Thema Flüchtlinge.

Kilicdaroglu öffnete die Partei auch gegenüber Konservativen und Kurden. So schloss er etwa Bündnisse mit rechten Parteien und nahm auch verschleierte Frauen in die CHP auf. Der Ökonom gilt als ruhig und minder charismatisch, doch hat er sich auch einen Namen gemacht als durchhalte- und konsensfähig. Nach dem Putschversuch unternahm Kilicdaroglu 2017 einen 420 Kilometer langen Marsch von Ankara nach Istanbul, um gegen die Inhaftierung von Parteifreunden zu protestieren.

Türkischer Politiker Kemal Kilicdaroglu
IMAGO/Depo Photos/Alp Eren Kaya
Die Opposition hofft auf den Kandidaten Kilicdaroglu – ob er die Ära Erdogan beendet, wird im Mai entschieden

Die zweitgrößte Oppositionspartei ist die prokurdische HDP. Sie verzichtete zuletzt darauf, einen eigenen Kandidaten ins Rennen zu schicken. Allgemein wird das als Zeichen der Unterstützung für das Sechsparteienbündnis mit Kilicdaroglu gewertet. Auch der frühere HDP-Kovorsitzende Selahattin Demirtas – er sitzt seit 2016 im Gefängnis – sprach sich dafür aus. Die Stimmen der HDP könnten entscheidend sein, wenn es um eine Mehrheit gegen Erdogan geht.

Verbot dräut noch vor Wahl

Entsprechend sind auch Erdogans Angriffe auf CHP und HDP zu sehen. Kilicdaroglu habe den parlamentarischen Arm einer „Terrororganisation“ zum Partner gemacht, so Erdogan kürzlich. Für Erdogan ist die HDP eng verbündet mit der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), ein Vorwurf, den die HDP von sich weist.

Doch vor diesem Hintergrund droht ihr noch vor den Wahlen ein Verbot: Das türkische Verfassungsgericht prüft ein solches wegen Terrorismusvorwürfen. Mindestens zwei Drittel der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts müssten dafür stimmen, eine Entscheidung könnte es noch vor den Wahlen geben. Vor Kurzem hatte das Gericht bereits entschieden, die HDP von der staatlichen Parteienfinanzierung auszuschließen – dieser Entscheid ist mittlerweile wieder aufgehoben.

Das Oppositionsbündnis der CHP ist divers, ihr einziges gemeinsames Ziel ist das Ende der Ära Erdogan. Auch die AKP gelangte während der politischen Nachwehen eines Erdbebens, das viel Kritik an der damaligen Regierung nach sich zog, an die Macht. Nun wirft auch Kilicdaroglu der AKP Inkompetenz im Umgang mit der Katastrophe vor.

Post-Erdogan-Szenarien

Ob die gemeinsame Anstrengung gegen Erdogan ausreicht, wird erst die Wahl im Mai zeigen. Durch die Folgen des Erdbebens, das Zehntausende obdachlos gemacht hat, sind Störungen wohl nicht ausgeschlossen. Erdogans Gegner befürchten auch Manipulationen.

Sollte Erdogan abgewählt werden, könnte er mit diversen Anklagen – von Korruptionsvorwürfen bis zum Amtsmissbrauch – überzogen werden, wie manche Oppositionspolitiker bereits ankündigten. Einen schnellen Abgang Erdogans dürfe niemand erwarten, so der Politologe Sinan Ciddi gegenüber dem US-Magazin „Politico“: „Wenn Erdogan eine Niederlage wittert, sollte niemand erwarten, dass er stillschweigend geht.“

Die treu ergebene Justiz und die Behörden könnten Wahlergebnisse kippen, oder Erdogan könne sich gar auf Polizei und Streitkräfte verlassen, so Ciddi. Erdogan könnte aber auch schlicht gewinnen, auch ohne Wahlfälschung. Auch der Westen solle sich nicht darauf einstellen, Erdogan bald zu verabschieden: „Die Spitzen der USA und der EU sollten es nicht zulassen, dass ihre Hoffnung den klaren Blick trübt“, so Ciddi.