Israels Premier Benjamin Netanjahu
Reuters/Abir Sultan
Krise in Israel

Netanjahu vor Stopp von Justizumbau

Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zieht wohl die Notbremse: Bei Krisengesprächen mit Koalitionsspitzen und seiner Partei Likud hat Netanjahu laut Medien angekündigt, den umstrittenen Justizumbau vorerst einzufrieren. Er plant eine Rede dazu, allerdings fehlt noch die Zustimmung des rechtsextremen Ministers Itamar Ben-Gvir. Die Gewerkschaft und die Wirtschaft riefen unterdessen in einem einzigartigen Schritt gemeinsam einen Generalstreik aus.

Ben-Gvir drohte damit, die Koalition platzen zu lassen. Laut Medienberichten könnte die Lösung sein, dass Ben-Gvir mit seiner Partei die Regierung verlässt, diese aber von außen unterstützt. Justizminister Jariv Levin (Likud), der wohl vehementeste Kämpfer für den Justizumbau, den er seit Beginn seiner politischen Karriere als zentrales Ziel verfolgt, machte klar, dass er bei einem zeitweiligen Stopp nicht zurücktreten wird.

Im Hintergrund finden in der Koalition noch fieberhafte Abstimmungen statt. Unklar ist, wann Netanjahu seine angekündigte Rede halten wird. Ein Hinweis dass die Koalition nicht unmittelbar vor der Auflösung steht, ist die Tatsache, dass die Regierungsparteien kurz vor Mittag gemeinsam einen Misstrauensantrag der Opposition in der Knesset abwehrten.

Verteidigungsminister könnte zurückkehren

Der andauernde Massenprotest gegen den geplanten Justizumbau, mit dem die Kontrolle der Regierung durch die dritte Gewalt entscheidend geschwächt würde, ließ zuvor Bruchlinien in der rechts-religiösen Koalition aufbrechen. Der Rauswurf des vergleichsweise gemäßigten Verteidigungsministers Joav Galant am Sonntag führte zu einer dramatischen Zuspitzung der Ereignisse. Laut Medienberichten könnte Netanjahu Galants Entlassung widerrufen und ihn wieder als Verteidigungsminister einsetzen.

In wenigen Tagen, am 5. April, beginnt das Pessach-Fest, und das Parlament geht in eine wochenlange Pause. Damit wird automatisch die Gesetzgebung unterbrochen. Allerdings wollte die Koalition noch vor dem 5. April einen zentralen Teil final beschließen, nämlich die neuen Regeln für die Ernennung von Richterinnen und Richtern, die anders als bisher der Regierung die Mehrheit in der zuständigen Kommission geben würden.

Demonstration vor dem Parlament in Jerusalem
AP/Ariel Schalit
Proteste am Montag in der Nähe der Knesset in Jerusalem

Gewerkschaft und Wirtschaft beschließen Streik

Gewerkschaftschef Arnon Bar-David kündigte unterdessen kurz vor Netanjahus Rede – gemeinsam mit führenden Wirtschaftsvertretern – einen Generalstreik an. Die gemeinsame Entscheidung für einen Generalstreik ist etwas in Israel bisher nicht Dagewesenes.

Der Flughafen Tel Aviv stellte unmittelbar nach der Ankündigung alle Starts ein. Der gesamte Gesundheitssektor wird noch am Montag in einen Streik treten. Auch die Banken und zahlreiche Privatunternehmen kündigten seit der Verlautbarung die Schließung ihrer Geschäfte an. Auch Einkaufszentren sind geschlossen. Der Verband der Gemeinde- und Regionalverwaltung und der Highteck-Sektor schlossen sich ebenfalls dem Streik an.

Netanjahu schwer unter Druck

Netanjahu befindet sich persönlich in einer schwierigen Lage: Rückt er vom Justizumbau um, riskiert er die Auflösung der Koalition. Er würde damit auch die Chance verlieren, selbst im Falle einer Verurteilung im gegen ihn laufenden Korruptionsprozess weiterregieren zu können, wie es das Gesetzespaket vorsieht. Wird der Justizumbau in der geplanten Form umgesetzt, droht eine Eskalation der Massenproteste und die Funktionsfähigkeit der Armee könnte dramatisch leiden.

Netanjahus Anwalt Boas Ben-Zur kündigte zudem laut Medienberichten an, ihn in der Causa, die seit Jahren läuft, nicht mehr vor Gericht zu verteidigen, sollte der Regierungschef nicht die Reißleine ziehen und den Justizumbau aussetzen. Umgekehrt drohen vor allem die rechtsextremen Parteien im Falle eines Stopps mit Konsequenzen, auch wenn sie derzeit noch von Drohungen, die Regierung zu verlassen, absehen.

„Hände am Lenkrad“

Netanjahu hatte internationalen Bedenken vor dieser radikalsten und am weitesten rechts stehenden Koalition in Israels Geschichte bei der Bildung entgegnet, er habe „die Hände am Lenkrad“. Seine Kritiker sahen das freilich von Beginn an anders: Die Rechtsaußen-Parteien waren die einzigen Parteien, die noch zur Zusammenarbeit mit dem angeklagten Regierungschef bereit waren. Er sei diesen daher auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, so die Argumentation der Opposition. Abzuwarten bleibt, ob sich Galants Rauswurf im Nachhinein als entscheidende Wende für diese Koalition erweisen wird.

Zuspitzung mit Rauswurf von Galant

Die ohnehin bereits explosive Lage hatte sich am Sonntag von einem Moment auf den anderen weiter radikalisiert, als bekanntwurde, dass Netanjahu seinen Verteidigungsminister und Parteifreund Galant entlassen hatte. Dieser war zuvor als Einziger in der Regierung öffentlich für ein Einfrieren des Justizumbaus eingetreten. Der Posten des Verteidigungsministers gilt in Israel als jener mit dem meisten Ansehen nach dem des Regierungschefs.

Aus Sorge, der Protest von Milizionären – bereits Tausende verweigern als Zeichen des Protests das Einrücken zu Übungen – werde sich weiter ausbreiten, hatte er Netanjahu ultimativ zum vorläufigen Stopp aufgerufen. Galant hatte dem Regierungschef Ende letzter Woche Einschätzungen der Militärchefs präsentiert, wonach der Protest der Milizionäre die Einsatzbereitschaft der Armee zumindest in Teilen gefährden könnte.

Demonstration in Tel Aviv
Reuters/Ronen Zvulun
Einsatzkräfte gingen unter anderem mit Wasserwerfern gegen Demonstranten vor

Dringender Appell

„Um der Einheit des israelischen Volkes willen, um der Verantwortung willen fordere ich Sie auf, den Gesetzgebungsprozess sofort zu stoppen“, schrieb Staatspräsident Herzog in der Nacht auf Montag auf Twitter. Laut Medienberichten beriet Netanjahu bis tief in die Nacht mit mehreren Ministern. In der Früh wurde im Justizausschuss der Knesset trotzdem einer der Ecksteine des Justizumbaus – das Prozedere zur Ernennung von Richterinnen und Richtern – final beschlossen werden. Nun fehlt nur noch die Abstimmung im Plenum.

Israel: Wieder Demos gegen Justizumbau

Zehntausende Menschen haben am Sonntag in Israel gegen die umstrittene Justizreform sowie die Entlassung des Verteidigungsministers demonstriert. Der Minister wurde von Regierungschef Benjamin Netanjahu entlassen, nachdem er sich kritisch über die Reform geäußert hatte.

Heftigste Proteste bisher

In der Küstenmetropole Tel Aviv versammelten sich nach Bekanntwerden von Galants Rauswurf spontan Zehntausende, um gegen die Entscheidung Netanjahus zu protestieren. Sie blockierten die zentrale Straße nach Jerusalem. Es wurden erstmals auch zahlreiche Feuer auf der Straße angezündet, die Polizei ging gewaltsam gegen die Demonstranten vor. Es waren wohl die heftigsten Proteste bisher.

Auch in anderen Städten Israels gab es in der Nacht Proteste. Demonstrierende versammelten sich etwa auch vor der Residenz Netanjahus in Jerusalem. Sie durchbrachen eine Straßensperre neben dem Wohnhaus des Regierungschefs. Proteste gab es zudem in der nördlichen Stadt Haifa und in Beer Scheva im Süden des Landes.

Polizeisperre bei Demonstration in Tel Aviv
Reuters/Nir Elias
Polizei hindert Demonstranten auf zentraler Autobahn in Tel Aviv am Weitermarsch

USA „tief besorgt“

Die USA reagierten besorgt auf die Entwicklungen in Israel und riefen zu einem Kompromiss auf. „Wir sind tief besorgt über die heutigen Entwicklungen in Israel, die die dringende Notwendigkeit eines Kompromisses noch unterstreichen“, teilte das Weiße Haus am Sonntagabend (Ortszeit) mit. Demokratische Werte seien immer ein Markenzeichen der Beziehungen zwischen den USA und Israel gewesen und müssten das auch bleiben. „Wir fordern die israelische Führung weiterhin nachdrücklich auf, so bald wie möglich einen Kompromiss zu finden.“

Erster Diplomat legt Amt nieder

Der israelische Generalkonsul in New York, Asaf Zamir, legte aus Protest gegen die Entlassung Galants sein Amt nieder. Das sei „eine gefährliche Entscheidung“ gewesen, erklärte Zamir auf Twitter. Der Vorgang habe ihn zu der Einsicht gebracht, dass er „diese Regierung nicht länger repräsentieren kann“.