Zeltlager zur Unterbringung von Flüchtlingen in Thalham in St. Georgen im Attergau.
APA/Barbara Gindl
Menschenrechte

Amnesty sieht Österreich am „Wendepunkt“

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) schlägt in ihrem Jahresbericht 2022/23 Alarm: Sie sieht die Menschenrechte in Österreich „am Wendepunkt“ und verweist auf teils „unmenschliche Bedingungen“ bei der Unterbringung von Asylsuchenden und unzureichende Sozialleistungen in manchen Bundesländern. Außerdem ortet man „einen besorgniserregenden Trend“, dass mache Politikerinnen und Politiker „die Menschenrechte immer häufiger nicht anerkennen und infrage stellen“.

Diese würden sich „immer wieder menschenrechtsfeindlicher Rhetorik bedienen, um diskriminierende Maßnahmen zu rechtfertigen“ und damit zu einer negativen Atmosphäre gegenüber Menschenrechten beitragen, hieß es in einer Aussendung.

„Dies ist besonders besorgniserregend, da die Menschenrechte ein Grundpfeiler einer gerechten Gesellschaft sind und jederzeit geschützt und gefördert werden müssen.“ Amnesty fordert die Politik auf, sich klar zu den Menschenrechten zu bekennen und sie „nicht als politischen Spielball zu benutzen“.

Flüchtlingsunterbringung und „Pushbacks“

„Österreich steht an einem Wendepunkt im Kampf um die Menschenrechte“, so AI-Österreich-Geschäftsführerin Annemarie Schlack. „Welche Richtung wir jetzt einschlagen, wird die nächsten Jahrzehnte bestimmen. Wenn wir weiterhin Menschen ausgrenzen und ihnen ihre Menschenrechte verweigern, verletzt dies nicht nur ihre Rechte, sondern untergräbt auch den Zusammenhalt unserer Gesellschaft.“

Amnesty International übt Kritik

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International kritisiert in ihrem jährlichen Bericht, dass Asylsuchende in Österreich zum Teil zu unmenschlichen Bedingungen untergebracht seien. Auch am Zustand der Pressefreiheit übt die NGO Kritik.

Im Asylbereich kritisiert die Menschenrechtsorganisation in ihrem am Dienstag veröffentlichten Jahresbericht unter anderem die vorübergehende Unterbringung von Asylsuchenden in Zelten sowie rechtswidrige „Pushbacks“ an der Grenze.

Unklares Schicksal von Tausenden Kindern

Außerdem seien 2022 insgesamt 11.629 geflüchtete Kinder verschwunden. Die NGO führt das unter anderem auf eine nicht kindgerechte Betreuung und fehlende Obsorge in Bundesbetreuungseinrichtungen wie Traiskirchen zurück, „die für einen dauerhaften Aufenthalt von Kindern definitiv nicht geeignet sind“.

Amnesty fordert daher die sofortige Zuweisung von Obsorgeberechtigten für alle unbegleiteten Minderjährigen unmittelbar nach ihrer Ankunft in Österreich – und nicht erst nach der Zulassung zum Asylverfahren.

Im Innenministerium verwies man darauf, dass sich 2022 mehr als 40.000 Menschen dem Asylverfahren entzogen hätten, darunter auch Kinder – damit hätten sie auf ihren Antrag auf Schutz verzichtet, seien in andere Staaten weitergereist bzw. in ihre Heimat zurückgekehrt, hieß es in einer Stellungnahme. Da Unmündige nicht erkennungsdienstlich behandelt werden dürften, könnten sie später auch nicht in anderen Staaten zugeordnet werden.

Mankos auch bei Hilfe für Ukraine-Geflüchtete

Die Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine begrüßt Amnesty, sieht aber Mankos: Der fehlende Zugang zur Sozialhilfe, die Hürden beim Zugang zum Arbeitsmarkt und das Fehlen einer längerfristigen Aufenthaltsperspektive in Österreich seien weiterhin ungelöste Probleme. Zudem fordert Amnesty wie andere NGOS eine bessere finanzielle und organisatorische Unterstützung für Private, die einen Großteil der ukrainischen Geflüchteten beherbergen.

Pressefreiheit unter Druck

Auch die Pressefreiheit sieht AI weiter unter Druck. So habe etwa die Polizei bei mehreren Protestveranstaltungen in Wien Journalistinnen und Journalisten an der Beobachtung und Berichterstattung gehindert bzw. nicht angemessen vor Angriffen durch Demonstrierende geschützt. Bei der Räumung des Protestcamps der „Lobau bleibt“-Aktivisten im April 2022 wiederum habe die Exekutive eine separate Pressezone eingerichtet, die so weit vom Camp entfernt war, „dass eine angemessene Beobachtung der Ereignisse nicht möglich war“.

Darüber hinaus verweist Amnesty auf SLAPP-Klagen (strategische Gerichtsverfahren gegen öffentliche Beteiligung) gegen Journalisten sowie auf Bedenken, dass der zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilte „Ibizia-Detektiv“ Julian Hessenthaler tatsächlich ein faires Verfahren bekommen habe. Außerdem liege das seit Jahren angekündigte Informationsfreiheitsgesetz weiter auf Eis.

Hohe Hürden für Wohnungslose

Ebenfalls gefordert werden eine nationale Wohnstrategie sowie flächendeckende Angebote in der Wohnungslosenhilfe. „Mangelnde Informationen, hohe bürokratische Hürden, Sprachbarrieren und gesetzliche Regelungen, die zum Ausschluss der Anspruchsberechtigung sowohl von österreichischen als auch ausländischen Staatsangehörigen führten, bewirkten darüber hinaus, dass viele Menschen keinen Zugang zu den entsprechenden Unterstützungsleistungen erhielten.“

Das Sozialhilfe-Grundsatzgesetz hält AI für nicht angemessen. Mit seinen Höchstsätzen, die unter der Armutsgefährdungsgrenze liegen, ermögliche es den Menschen kein Leben in Würde.

Geteilt wird der Amnesty-Befund von den Grünen. Für die Einschätzung, dass die Menschenrechte sich am Wendepunkt befinden, müsse man nur nach Niederösterreich schauen. „Auch dort sind bekanntlich Politiker:innen in Amt und Würden, die Menschenrechte am liebsten auf den Misthaufen der Geschichte werfen würden“, meinte Menschenrechtssprecherin Ewa Ernst-Dziedzic in einer Aussendung.

Globaler Bericht beklagt „Doppelmoral des Westens“

Im internationalen Bericht von Amnesty zum globalen Stand der Menschrechte beklagt die Organisation eine „Doppelmoral des Westens“: „Wir haben gesehen, wie weltweit russische Völkerrechtsverstöße verurteilt, Verbrechen untersucht und Grenzen für Geflüchtete geöffnet wurden“, so die internationale Generalsekretärin von Amnesty International, Agnes Callamard.

„Diese Reaktion muss eine Vorlage dafür sein, wie wir allen schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen entgegentreten.“ Der „resolute und begrüßenswerte Ansatz“ gegenüber Russland stehe in „scharfem Kontrast zu völlig unzureichenden Maßnahmen angesichts gegenwärtiger Konflikte“, heißt es in dem Bericht.

China ungestraft in Uiguren-Frage

Als Beispiele werden Äthiopien und Myanmar genannt. Ebenso ungleich sei der Umgang mit Geflüchteten aus der Ukraine und Menschen, die aus Syrien, Afghanistan oder Libyen fliehen. Indem die EU-Mitgliedsstaaten ihre Grenzen für Ukrainerinnen und Ukrainer öffneten, hätten sie bewiesen, dass die Europäische Union „durchaus in der Lage ist, eine große Anzahl schutzsuchender Personen aufzunehmen und ihnen Zugang zu Gesundheitsleistungen, Bildungsmöglichkeiten und Wohnraum zu geben“.

Die „Doppelmoral des Westens“ habe Ländern wie China, Ägypten, Israel und Saudi-Arabien „die nötige Deckung“ gegeben, um Kritik an ihrer Menschenrechtsbilanz auszuweichen. Obwohl 2022 beispielsweise in China schwere Menschenrechtsverletzungen gegen die Uigurinnen und Uiguren begangen worden seien, sei Peking einer internationalen Verurteilung durch die UNO-Generalversammlung, den Sicherheitsrat und den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen entkommen.

„Dringende Reform“ des UNO-Sicherheitsrats gefordert

Rund um den Globus würden Demonstrationen eingeschränkt und Kritik unterdrückt. Im Iran etwa reagierten die Behörden auf die beispiellosen Massenproteste gegen Jahrzehnte der Unterdrückung mit äußerster Brutalität.

Großes Augenmerk im Jahresbericht erhält auch der Nahost-Konflikt: Für Palästinenserinnen und Palästinenser im besetzten Westjordanland sei mit 150 Getöteten 2022 „eines der tödlichsten Jahre seit Beginn der systematischen Erfassung der Opferzahlen durch die Vereinten Nationen im Jahr 2006“ gewesen.

Amnesty International fordert eine „dringende Reform“ des UNO-Sicherheitsrats sowie die Stärkung der internationalen Institutionen, die „unsere Rechte schützen“ sollen. Dafür müssten nach Ansicht der Organisation „zunächst die UNO-Menschenrechtsmechanismen vollständig finanziert werden“. Nur so könnten die notwendigen Untersuchungen getätigt werden, die eine Rechenschaftspflicht ermöglichen und für Gerechtigkeit sorgen würden.