Legale Cannabis-Plantage in den Niederlanden
ORF/Katja Lehner
Drogenkriminalität

Niederlande versuchen Cannabisschwenk

Die Legalisierung von Cannabis stellt einige EU-Staaten auf die Probe: Deutschland musste seine Pläne jüngst etwa abschwächen. Lernen könnte Berlin von einem Experiment, das in den Niederlanden in den Startlöchern steht. Mehrere Städte werden dort den legalen Anbau und Großhandel mit Cannabis testen – wohl auch, um der florierenden Drogenkriminalität etwas entgegenzusetzen. ORF.at sprach mit Regierung und Betroffenen über Chancen, Fehler und den Wunsch nach einer europäischen Linie.

Von außen scheint jene niederländische Fabrik, in der erstmals Cannabis zu Genusszwecken angebaut wird, unscheinbar: Ein Metallzaun umgibt das graue Fabriksgebäude am Rande der Stadt Waalwijk. Dass das Unternehmen Fyta hinter den Mauern unzählige Cannabispflanzen heranzüchtet, lässt sich spätestens beim Betreten der Fabrik erahnen. Sobald sich die Türen öffnen, steigt der erdige Geruch der Pflanze in die Nase.

Mindestens 6,5 Tonnen Cannabis sollen hier jährlich angebaut, verarbeitet und an Coffeeshops geliefert werden, erzählt Fyta-Chef Fred van der Wiel bei einem Besuch Ende März. Von Marihuana über Haschisch bis hin zu Space Cakes – die Auswahl ist groß.

Noch muss Fyta aber warten. Das Startdatum für das Experiment wurde mehrmals verschoben. Van der Wiel ist bisher nämlich der einzige Züchter des Landes, der in der Lage ist, legal Cannabis für das „Wietexperiment“ (auch „Experiment einer geschlossenen Coffeeshop-Kette“ genannt) zu produzieren. Hürden gibt es einige.

Legale Cannabis-Plantage in den Niederlanden
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Sechseinhalb Tonnen Cannabis sollen Züchter im Zuge des Experiments produzieren

Toleranzpolitik

1976 wurde in den Niederlanden das Opiumgesetz bzw. Opiumwet eingeführt. Es brachte die strikte Trennung zwischen weichen Drogen wie Cannabis und harten Drogen wie Kokain. Der Kauf kleiner Mengen weicher Drogen wird seither geduldet.

Cannabis: Nicht legal, aber geduldet

Doch worum geht es bei der Initiative genau? Das „Wietexperiment“ soll die Fehler der bisherigen niederländischen Toleranzpolitik gegenüber weichen Drogen ausmerzen. Anbau und Handel werden in zehn Städten sowie in einem Amsterdamer Stadtteil erlaubt. Konkret sollen die hiesigen Coffeeshops ihre Ware nur noch von zehn zertifizierten Züchtern erhalten. Die Versuchsdauer beträgt vier bis fünf Jahre. Danach wird evaluiert.

Zur Erinnerung: Legal ist Cannabis in den Niederlanden derzeit nicht. Aktuelles EU-Recht würde das auch nicht erlauben. Mitgliedsstaaten steht es aber frei, den Besitz, Kauf und Anbau von Cannabis für den privaten Konsum unter gewissen Voraussetzungen zu entkriminalisieren. Und da setzt die niederländische Regelung an. Seit den 70er Jahren wird der Konsum und der Verkauf von bis zu fünf Gramm Haschisch oder Marihuana pro Person und Tag in Coffeeshops geduldet – „durch die Vordertür“, wie man in den Niederlanden sagt.

Weil Anbau und Großhandel verboten sind, sind Coffeeshops derzeit auf illegale und oftmals kriminelle Großhändler angewiesen. Die Ware gelangt also durch die Hintertür in die Shops. Maximal ein halbes Kilogramm Cannabis dürfen diese lagern. Gestraft wird bei Verstößen aber kaum. Die Mittel der Ermittlungsbehörden sind begrenzt.

Getrocknetes Cannabis in einem Coffeeshop in den Niederlanden
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Coffeeshops agieren beim Verkauf von Haschisch, Marihuana und Co. in einer rechtlichen Grauzone

Gesundheitsminister räumt ein: „Komische Situation“

Spitzenpolitikerinnen und -politikern ist die „Hintertürproblematik“ längst bewusst. Nachdem im Jahr 2017 ein Gesetzesentwurf der damaligen linksliberalen Oppositionspartei Democraten 66 über die Legalisierung von Cannabis im Unterhaus breiten Zuspruch bekommen hatte, einigte sich die spätere Regierung – unter Beteiligung der D66 – 2019 auf die Umsetzung des „Wietexperiments“. Seither arbeitet man sich an den Rahmenbedingungen ab.

Tatsächlich befinde man sich aufgrund der aktuellen Rechtslage in einer „etwas komischen Situation“, räumt Gesundheitsminister Ernst Kuipers (D66) gegenüber ORF.at ein. Für die Gesellschaft würden sich daraus „viele negative Nebeneffekte“ ergeben, sagt er. Das Experiment soll künftig untersuchen, wie sich legal angebautes Cannabis auf die Sicherheit und die öffentliche Gesundheit auswirke, so der Minister. Danach entscheidet sich, wie in puncto Legalisierung weiterverfahren wird.

De-Vries-Mord hält Niederlande den Spiegel vor

Das Thema drängt. Die Folgen ihrer löchrigen Drogenpolitik wurde den Niederlanden spätestens mit der Ermordung des Kriminalreporters Peter de Vries vor Augen geführt. De Vries wurde 2021 mitten in Amsterdam niedergeschossen. Vermutet wurde, dass die Täter aus dem Drogenmilieu stammen.

Weil Drogenbanden in den Niederlanden zunehmend an Macht gewinnen, sind Vergleiche mit „Narco-Staaten“ wie Mexiko keine Seltenheit mehr. Das sei eine Folge der Duldungspolitik, meinte etwa der renommierte Sozialwissenschaftler Pieter Tops, der zu dem Thema an der Universität Tilburg forscht. Diese erleichtert nämlich nicht nur die Produktion und den Vertrieb von Cannabis, sondern führt auch zu günstigen Bedingungen für den Vertrieb von Drogen wie Ecstasy und Kokain.

Das Experiment vor dem Experiment

In die Karten spielt den Drogenhändlern freilich auch die günstige Infrastruktur des Landes. Der Hafen von Rotterdam und der Hafen in der benachbarten belgischen Stadt Antwerpen zählen zu den beiden größten Europas. Unmengen an Drogen finden hier täglich den Weg in die EU. Zu spüren bekommt das unter anderem die südniederländische Provinz Noord-Brabant.

Hier befinden sich die beiden Städte Breda und Tilburg, die ab Oktober eine „Light-Version“ des „Wietexperiments“ ausrollen werden. Eine Testphase für das eigentliche Experiment, in der noch weniger strenge Vorgaben gelten, sozusagen. Das tatsächliche Experiment soll Regierungsangaben zufolge sechs Monate später in allen beteiligten Regionen starten. Der Bürgermeister von Breda, Paul Depla (Partei der Arbeit), erklärte, dass im Zuge jener Testphase „Anfängerfehler“ ausfindig gemacht werden sollen, um das eigentliche Experiment perfektionieren zu können.

„Wietexperiment“ stolpert über Bankkontoproblematik

Doch selbst ob das „kleine“ Experiment im Herbst beginnt, scheint nicht fix. Um starten zu können, muss die Regierung mindestens drei der insgesamt zehn Züchtern grünes Licht geben. Bisher gibt es dieses wie erwähnt nur für Fyta. Die restlichen Anbaubetriebe stehen vor mannigfaltigen Problemen. Einige Züchter sind nicht in der Lage, Bankkonten zu eröffnen. Das hängt mit einem neuen Geldwäschegesetz zusammen. Manche Anbauer warten außerdem vergeblich auf Genehmigungen für Produktionsstätten.

Fred van der Wiel, der auch einen Betrieb zur Produktion von medizinischem Cannabis leitet, macht das zu schaffen. Sein Unternehmen sei seit Juni 2022 startklar: „Monatlich verbrennen wir circa 500.000 Euro. Daher ist es für uns ein großer Verlust, dass die anderen Player noch nicht bereit sind“, sagt er.

Legale Cannabis-Plantage in den Niederlanden
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Bei Fyta wird jedes Cannabispflänzchen mit einem QR-Code versehen

QR-Code für jedes Pflänzchen

Doch was passiert, wenn das Experiment letztendlich den Startschuss bekommt? Für Anbaubetriebe gilt: Ist ein Produkt zum Versand bereit, so muss erst eine Probe in unabhängigen Labors (u. a. auf Pestizide) geprüft werden, bevor sie an Coffeeshops geliefert werden dürfen. Fyta setzt zudem auf ein Track-and-Trace-System. Jede Pflanze und jedes Produkt erhält einen QR-Code, anhand dessen Kunden und Kundinnen Informationen über den Inhalt und die Wirkung der Ware, wie auch über deren Produktion und Lieferkette auslesen können.

CO2-Ausstoß
Einer Studie der Colorado State University zufolge werden beim Cannabisanbau in Innenbereichen aufgrund des hohen Energiebedarfs große Mengen an CO2-Emissionen freigesetzt. Der Anbau in Gewächshäusern und im Freien soll demnach weniger klimaschädlich sein.

Darüber hinaus sind mehrere Forschungsunternehmen an der Überprüfung und Evaluierung des Experiments beteiligt, darunter das Institut RAND Europe. Stijn Hoorens, der bei RAND Europe forscht, erklärt, dass mögliche Effekte des Experiments anhand von Kontrollgruppen überprüft werden sollen.

Die Benutzererfahrung der Coffeeshop-Konsumenten, die Qualität des Cannabis, eventuelle Probleme rund um Coffeeshops bis hin zu möglichen Effekten auf den illegalen Markt werden untersucht und mit „Kontrollstädten“ – also solche, die nicht am Experiment beteiligt sind – verglichen.

UNO-Organisation um Gesundheit besorgt

Dass eine Legalisierung von Cannabis in den Niederlanden und dem Rest der EU sinnvoll sei, sind sich Coffeeshop-Besitzer wie Joachim Helms und Edwin Bax, aber auch Fyta-Chef Fred van der Wiel und Bürgermeister Paul Depla einig. Der Tenor: Es ist da, es wird konsumiert – wieso soll es dann nicht reguliert und legalisiert werden?

Tatsächlich stehen dem zwei große Argumente im Weg. Zum einen warnte der Internationale Suchtstoffkontrollrat (INCB) der UNO in seinem Jahresbericht 2022 davor, dass die Legalisierung des nichtmedizinischen Konsums von Cannabis zu einem höheren Konsum und einer geringeren Risikowahrnehmung zu führen scheint.

In allen Ländern, in denen Cannabis legalisiert wurde, zeigten Daten, dass cannabisbedingte Gesundheitsprobleme zugenommen haben. „Zwischen 2000 und 2018 haben sich die weltweiten medizinischen Aufnahmen im Zusammenhang mit Cannabisabhängigkeit und -entzug verachtfacht. Die Einweisungen aufgrund cannabisbedingter psychotischer Störungen haben sich weltweit vervierfacht“, warnte der INCB.

Legale Cannabis-Plantage in den Niederlanden
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Beim „Wietexperiment“ wird analysiert, wie sich eine Legalisierung auf die öffentliche Gesundheit und den Schwarzmarkt auswirkt

Rechtliche Hürden

Zum anderen gilt es, legistische Hürden zu überwinden. Eine Legalisierung steht – anders als wissenschaftliche Experimente – im Widerspruch zu internationalem Abkommen wie dem 1961 von den Vereinten Nationen verabschiedeten Einheitsabkommen über Betäubungsmittel, und dem UNO-Übereinkommen gegen unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen und psychotropen Stoffen von 1988, das auch europarechtlich Wirkung hat. Sie steht zudem im Widerspruch mit einem EU-Rahmenbeschluss von 2004 und dem Schengener Durchführungsübereinkommen.

Wie schwierig eine Legalisierung ist, wurde jüngst auch Deutschland bewusst. Statt einer weitreichenden Legalisierung setzt man dort zunächst auf neue Regeln zum Anbau für den Eigenbedarf, auf Cannabis-Social-Clubs, die es etwa in Malta gibt und auf Modellregionen, wie in den Niederlanden geplant. In der EU soll weiter für das Thema lobbyiert werden. „Wenn Deutschland legalisiert, dann brauchen wir das Experiment nicht mehr. Dann können wir auf das deutsche Fahrrad aufspringen und Cannabis auch hier in den Niederlanden legalisieren“, sagt der Bürgermeister von Breda.

„Realistischere“ Cannabispolitik für Europa?

Er ist ohnehin der Ansicht, dass eine Harmonisierung des Markts am sinnvollsten wäre. „Ich hoffe, dass das Experiment in den Niederlanden, dass die Legalisierung in Luxemburg und Deutschland die Tür für eine realistischere Cannabispolitik in ganz Europa öffnet“, sagt er. Fyta-Chef van der Wiel, der sich ebenso dafür ausspricht, glaubt aber nicht, dass der illegale Drogenhandel damit zum Erliegen komme. Die Vermutung, dass Drogenhändler ihre Ware zu billigeren Konditionen anbieten könnten, liegt nahe.

„Wir wollen voneinander lernen“, hält Kuipers fest. Wir – das sind Deutschland, die Niederlande und andere EU-Staaten, aber auch Kanada, wo Cannabis bereits 2018 legalisiert wurde und das Kuipers aus diesem Grund auch offiziell besuchen will. Experte Hoorens mahnt indes zu Besonnenheit: „Überstürzt nichts“, sagt er und verweist in dem Zusammenhang auf die USA, wo Cannabis in einigen Bundesstaaten legalisiert wurde.

In jenen Staaten habe man sich „für ein kommerzielles Modell“ entschieden, sagt er. Die Folge? Die öffentliche Gesundheit unterliegt dem Profit. „Für kommerzielle Cannabisproduzenten gibt es keinen Anreiz, sich um problematische Nutzer zu sorgen. Diese Unternehmen sind profitorientiert“, sagt er. Und den größten Profit schlagen sie aus „problematischen Nutzern“. „Das ist eine Art Designfehler, der schwer zu reparieren ist und den man bereits von der Tabak- und Alkoholindustrie kennt“, sagt Hoorens und ergänzt: „Sobald der Geist einmal aus der Flasche ist, ist es sehr schwierig, ihn wieder einzufangen.“