Ukrainische Soldaten schießen in der Nähe von Bachmut eine Haubitze ab
APA/AFP/Aris Messinis
Erster Beschuss

Melitopol als logisches Ziel der Ukraine

Laut übereinstimmenden Medienberichten hat die Ukraine die russisch kontrollierte Stadt Melitopol unter Beschuss genommen. Ziel war dort das Eisenbahndepot – und damit eine logistische Drehscheibe der russischen Truppen. Der Angriff nährt Spekulationen über eine baldige ukrainische Offensive, die Melitopol als strategisch lohnendes Ziel haben könnte. Derweil streiten Militärexperten darüber, ob es sinnvoll für die Ukraine ist, Bachmut weiter zu verteidigen.

Bei dem Beschuss sei das Stromversorgungssystem beschädigt worden, meldete die staatliche russische Nachrichtenagentur TASS. In der Stadt und in einigen Dörfern sei der Strom ausgefallen. Melitopol ist seit März vergangenen Jahres von russischen Truppen besetzt. Es liegt etwa 120 Kilometer südöstlich von dem Atomkraftwerk Saporischschja.

Die russischen Besatzer hatten Melitopol mit ehemals 150.000 Einwohnerinnen und Einwohnern zur Hauptstadt des von ihnen eroberten Teils der Region Saporischschja gemacht – auch weil ihnen die Einnahme der Gebietshauptstadt Saporischschja selbst nicht gelungen ist.

Ein russischer Soldat fotografiert in Melitopol ein nach einem ukrainischen Angriff zerstörtes Gebäude
IMAGO/SNA/Ria Novosti
Schäden nach ukrainischem Angriff in Melitopol

Wichtige Logistikdrehscheibe

Melitopol ist ein wichtiger Eisenbahnknoten für das russische Militär. Die Stadt hat eine Bahnverbindung Richtung Krim, und von dort führen die Gleise dann auch in andere Städte des Gebiets, was für den Nachschub der Besatzungstruppen insgesamt von hoher Bedeutung ist. Das Eisenbahndepot, das Ziel des ukrainischen Angriffs war, ist die größte Reparatur- und Wartungsanlage für Lokomotiven im Südosten der Ukraine.

Grafik zu Melitopol
Grafik: APA/ORF; Quelle: ISW

Der ehemalige Bürgermeister der Stadt, Iwan Fedorow, berichtete in den vergangenen Tagen auf Telegram von weiteren Explosionen in der Stadt und im Umland. Fedorow war nach der russischen Einnahme der Stadt im Vorjahr entführt worden und kam nach einem Gefangenenaustausch wieder frei. Er befindet sich nun in Saporischschja.

Ukrainischer Keil in besetzte Gebiete?

Der Beschuss durch ukrainische Truppen dürfte vor allem darauf zielen, den russischen Nachschub zu behindern. Militärexperten erwarten in Kürze den Beginn einer ukrainischen Offensive. Als eine der Hauptzielrichtungen gilt dabei das Gebiet Saporischschja, wo die Ukrainer bei einem Vorstoß Richtung Meer – etwa über Melitopol – einen Keil zwischen die russischen Kräfte treiben könnten. Zudem hätte man wieder einen Zugang zum Meer und die Nachschublager auf der Krim wären in Schussweite der neuen ukrainischen Waffensysteme.

Eine solche Offensive der Ukraine sagt unter anderen Marcus Keupp, Militärökonom der ETH Zürich, voraus. In einem viel beachteten Interview mit der „Neuen Zürcher Zeitung“ sieht er bei Gelingen eines solchen Manövers den Moment, „wo sich die russische Niederlage abzeichnet“. Er geht davon aus, dass Russland den Krieg im Oktober verloren haben wird, weil der Armee – auf Basis von Berechnungen der bisherigen Verluste und dem noch vorhandenen Arsenal – die Panzer ausgehen.

Nur eine Finte?

Andere Militärexperten halten das für eine sehr mutige bis übermütige These. Generell geht man aber davon aus, dass die Ukraine mit neuen, westlichen Waffen durchwegs besser ausgerüstet ist als die russischen Truppen, die zuletzt vermehrt Uraltpanzer aus Sowjetzeiten einsetzten. Ob Melitopol tatsächlich Ziel einer Offensive sein kann, wird von anderen Experten noch bezweifelt.

Die Stadt liegt weit hinter der derzeitigen Front. Und Beobachter verweisen auf die erfolgreiche Offensive der Ukrainer im September bei Charkiw, die vollkommen aus dem Nichts kam, weil alle einen Vorstoß im Süden auf Cherson erwartet hatten. Möglicherweise könnte sich die Ukraine zum zweiten Mal einer solchen Finte bedienen.

Viele Faktoren für ukrainische Offensive

Der australische Ex-General und Militäranalyst Mick Ryan mutmaßt auf seinem Substack-Blog, dass die Ukraine ihre Offensive an mehreren Stellen eröffnet, je nachdem, wo man Schwachstellen in der russischen Defensive verortet. Er verweist allerdings wie andere Experten auf den Umstand, dass die russische Seite die Verteidigungslinien zuletzt stark ausgebaut habe.

Es komme aufs Timing an, schreibt Ryan. Und eine Gegenoffensive müsse auch mit politischen Zielen abgestimmt werden – auch um den Verbündeten zu zeigen, dass die Waffenlieferungen gute Dienste erweisen. Der Erfolg hänge auch davon ab, wie schnell die ukrainische Armee die neuen Waffen in ihren Verband integrieren könne.

Waffen aus dem Westen kommen an

Alleine in den vergangenen Tagen wurde bestätigt, dass die Ukraine 18 Leopard-2-Panzer und rund 40 Schützenpanzer vom Typ Marder aus Deutschland, 14 Panzer vom Typ Challenger 2 aus Großbritannien und gepanzerte Lkws vom Typ Cougar sowie gepanzerte Transporter vom Typ Stryker aus den USA erhalten hat. Moskau verkündete zudem, dass die Ukraine mittlerweile US-Präzisionsraketen vom Typ GLSDB einsetze. Die USA hatten Kiew die Raketen mit einer Reichweite von 150 Kilometern im Februar versprochen, ein Zeitpunkt für die Lieferung wurde damals aber nicht genannt.

Erbitterter Kampf um Bachmut

Einig sind sich die Militärbeobachter, dass die Kämpfe rund um Bachmut weiterhin eine große Rolle spielen. Uneinig ist man aber, ob das für die Ukraine ein Vor- oder ein Nachteil ist. Das in Washington ansässige Institute for the Study of War (ISW) schrieb zuletzt, russische Kräfte hätten in den vergangenen sieben Tagen zusätzlich etwa fünf Prozent von Bachmut eingenommen und kontrollierten aktuell knapp 65 Prozent des Gebiets. Allerdings gibt es keine Fortschritte, die Stadt einzukreisen. Richtung Westen haben die verbliebenen ukrainischen Truppen weiterhin Nachschub- und Fluchtroute offen.

Die ukrainische Militärführung räumte am Mittwoch einen russischen Teilerfolg in den Kämpfen um Bachmut ein. „Im Sektor Bachmut setzte der Feind seine Angriffe auf die Stadt fort, teilweise mit Erfolg“, teilte der Generalstab in Kiew in seinem täglichen Lagebericht mit. Details zu den russischen Geländegewinnen wurden jedoch nicht genannt.

Der Chef der russischen Privatarmee Wagner, Jewgeni Prigoschin, behauptete unterdessen erneut, die ukrainische Armee sei in Bachmut „vernichtet“ worden. Der Kampf um Bachmut sei die wichtigste Schlacht in der Ukraine und der „Sieg“ der Wagner-Truppe dort „die größte Wendung dieses Krieges und der modernen Geschichte überhaupt“, prahlte er im Nachrichtenkanal Telegram.

Drohnenaufnahme eines nach Beschuss brennendes Wohnhauses in Bachmut (Ukraine)
Reuters/93rd Mechanized Brigade „Kholodny Yar“
Bachmut als Trümmerfeld

Strategischer Vorteil für welche Seite?

Bei der Frage der Wichtigkeit von Bachmut scheiden sich die Geister. Klar ist, dass die Stadt prinzipiell militärstrategisch eher unwichtig ist. Mit der Dauer der Kämpfe und dem Faktum, dass Moskau einen Sieg politisch braucht, wurde der Kampf symbolisch aufgeladen. Und Kritiker meinen, Kiew hätte sich dieses „Spiel“ aufzwingen lassen – zu dem Preis extrem hoher Verluste.

Phillips Payson O’Brien, Professor für Militärstrategie an der schottischen Universität St. Andrews, argumentiert schon lange in die Gegenrichtung: Indem Bachmut gehalten wird, binde die Ukraine russische Kräfte und füge den Angreifern extrem hohe Verluste zu. Solange das Verhältnis der Verluste wie kolportiert eins zu fünf stehe, lohne sich die Verteidigung. Er vertraue auf die Einschätzungen der ukrainischen Militärführung, diese würde wissen, wann ein Rückzug fällig sei, schreibt er in einem Substack-Blogeintrag.

Angriff als schlechte Verteidigung?

Er verweist auch darauf, dass sich ein paar Dutzend Kilometer südlich von Bachmut, nämlich in der Stadt Awdijiwka, ein ähnliches Bild biete. Auch dort schaffe es die russische Armee nicht, die eigentlich schon zerstörte Stadt einzukreisen.

Militärstrategisch sei es aus ukrainischer Sicht sinnvoll, große Truppenteile Russlands in Offensivbemühungen zu halten, schreibt O’Brien. Würde Russland stattdessen die Verteidigungslinien verstärken, würde das die künftigen Bemühungen einer Gegenoffensive ungleich schwieriger machen: „Die größte Gefahr für eine ukrainische Gegenoffensive besteht darin, dass die Russen das für sie Klügste tun – in die Defensive gehen und ihre Zeit damit verbringen, sich auszuruhen und ihre Truppen auf den ukrainischen Angriff vorzubereiten.“