Bei dem Termin vor dem Lefortowski-Gericht in Moskau wies der 31-jährige Gershkovich laut der staatlichen Nachrichtenagentur TASS die gegen ihn erhobenen Vorwürfe zurück. Dasselbe Gericht entschied dann, dass Gershkovich für fast zwei Monate – bis 29. Mai – in Untersuchungshaft muss, wie aus einem Dokument hervorgeht. Die U-Haft könne anschließend verlängert werden, hieß es zudem. Wie TASS unter Berufung auf Polizeikreise meldete, wurde der Fall als „streng geheim“ eingestuft.
„Auf frischer Tat ertappt“
Der russische Geheimdienst FSB hatte zuvor mitgeteilt, den Mann in Jekaterinburg „beim Versuch, geheime Informationen zu erhalten“, festgenommen zu haben. In der Erklärung des FSB heißt es, Gershkovich habe „auf Anweisung der amerikanischen Seite Informationen gesammelt, die Staatsgeheimnisse über die Tätigkeit einer der Einheiten des russischen militärisch-industriellen Komplexes darstellen“. Gemäß Artikel 276 des russischen Strafgesetzbuches stehen auf Vorwürfe wie diese zehn bis 20 Jahre Gefängnis.

Das Portal 66.ru hatte bereits am Mittwoch vom Verschwinden Gershkovichs berichtet. Nach der Bekanntgabe des FSB am Donnerstag sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow vor Journalisten, dass es nicht um einen Verdacht gehe, sondern Gershkovich „auf frischer Tat ertappt“ worden sei. Das Gebiet Swerdlowsk um Jekaterinburg gilt als eine der Hochburgen der russischen Rüstungsindustrie. Er hoffe nicht, dass es nun Repressionen gegen russische Journalisten in den USA gebe, sagte Peskow auf Nachfrage.
„WSJ“ weist Anschuldigungen „vehement“ zurück
Das „WSJ“ wies die Anschuldigungen gegen seinen Reporter „vehement“ zurück und erklärte, man sei „zutiefst in Sorge um die Sicherheit von Herrn Gershkovich“. Reporter ohne Grenzen zeigte sich „beunruhigt über das, was nach einer Vergeltungsmaßnahme aussieht“. Der Organisation zufolge recherchierte der 31-Jährige „zum Militärunternehmen Wagner“, einer Söldnergruppe, die eine wichtige Rolle bei Russlands Offensive in der Ukraine spielt.
Bevor Gershkovich im vergangenen Jahr zum „WSJ“ wechselte, war er als Korrespondent für die Nachrichtenagentur AFP in Moskau tätig. Zuvor arbeitete er für die „Moscow Times“, ein englischsprachiges Nachrichtenportal. Gershkovich ist gebürtiger Russe, seine Familie wanderte in die USA aus, als er noch ein Kind war. Gershkovich ist beim russischen Außenministerium als Korrespondent des Moskauer „WSJ“-Büros akkreditiert.
US-Journalist in Russland festgenommen
Ein amerikanischer Journalist der US-Zeitung „Wall Street Journal“ wurde in Russland wegen angeblicher Spionage verhaftet. Dem Journalisten drohen im Falle einer Verurteilung bis zu 20 Jahre Haft.
US-Regierung verurteilt Inhaftierung
Die US-Regierung verurteilte die Inhaftierung „auf das Schärfste“. „Die Verfolgung amerikanischer Staatsbürger durch die russische Regierung ist inakzeptabel“, teilte das Weiße Haus mit. „Wir sind zutiefst besorgt über die beunruhigenden Berichte, dass Evan Gershkovich, ein amerikanischer Staatsbürger, in Russland festgenommen wurde.“ Das US-Außenministerium stehe in direktem Kontakt mit der russischen Regierung und bemühe sich aktiv darum, Gershkovich konsularischen Zugang zu verschaffen.
Am Mittwochabend (Ortszeit) hätten Vertreter der US-Regierung mit dem Arbeitgeber Gershkovichs, dem „WSJ“, gesprochen. Man stehe auch in Kontakt mit der Familie des Journalisten. „Wir verurteilen auch die fortgesetzte Verfolgung und Unterdrückung von Journalisten und der Pressefreiheit durch die russische Regierung“, teilte das Weiße Haus weiter mit. Die Sprecherin von US-Präsident Joe Biden betonte außerdem, dass US-Amerikaner die Warnung der US-Regierung vor Reisen nach Russland beherzigen sollten.

US-Amerikaner werden in Russland immer wieder der Spionage verdächtigt, es ist aber das erste Mal seit dem Kalten Krieg, dass ein US-Korrespondent wegen Spionagevorwürfen festgenommen wurde. Der Fall stellt eine Eskalation in den Bemühungen des Kreml dar, vermeintliche Kritikerinnen und Kritiker zum Schweigen zu bringen. Westliche Korrespondenten, auch jene des ORF, sind in Russland insbesondere seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine mit zunehmenden Einschränkungen konfrontiert.
„Methode, um Druck auf Westen auszuüben“
Die russische Opposition sprach angesichts des Falls von einer „Geiselnahme“. „Putin ist bereit, jede Methode anzuwenden, um Druck auf den Westen auszuüben“, teilte das Team des inhaftierten Kreml-Gegners Alexej Nawalny mit. Russlands Präsident Wladimir Putin hatte in der Vergangenheit immer wieder inhaftierte russische Kriminelle in den USA durch einen Austausch mit in Moskau verurteilten Amerikanern und Amerikanerinnen freibekommen.
Iwan Pawlow, ein prominenter russischer Strafverteidiger, der an vielen Spionage- und Hochverratsfällen gearbeitet hat, bestätigte der Nachrichtenagentur Reuters, dass es sich um den ersten Strafprozess wegen Spionage gegen einen ausländischen Journalisten im postsowjetischen Russland handle. „Die ungeschriebene Regel, akkreditierte ausländische Journalisten nicht anzugreifen, hat aufgehört zu funktionieren“, so Pawlow.
„Trümpfe“ für Gefangenenaustausch
Pawlow sagte zudem, der Fall gegen Gershkovich sei aufgebaut worden, damit Russland „Trümpfe“ für einen zukünftigen Gefangenenaustausch habe, und werde wahrscheinlich „nicht mit den Mitteln des Gesetzes, sondern mit politischen, diplomatischen Mitteln“ gelöst werden. Entsprechend schloss der stellvertretende russische Außenminister, Sergej Rjabkow, einen schnellen Austausch aus – das Thema sei „nicht in Betracht zu ziehen“.
Die Verhaftung Gershkovichs folgt auf einen Austausch im Dezember, bei dem die US-Basketballerin Brittney Griner nach zehn Monaten Haft im Austausch gegen den russischen Waffenhändler Viktor Bout freigelassen wurde.