Der indisch-britische Autor Salman Rushdie
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„Victory City“

Rushdies Sieg der Geschichten

Seit dem Attentat auf Salman Rushdie im August wird dieser wieder als internationaler Verteidiger humanistischer Werte wahrgenommen – ein Status, den Rushdie seit der vom ehemaligen iranischen Revolutionsführer Ajatollah Chomeini verhängten Fatwa innehatte, der aber in den vergangenen Jahren verblasst war. Am Donnerstag erschien Rushdies neuer Roman „Victory City“ auf Deutsch. Darin erzählt er die Geschichte des mittelalterlichen Reiches Vijayanagar und liefert eine Summe seines Schaffens.

In den letzten Jahrzehnten gab sich der inzwischen in New York lebende Rushdie unbekümmert, die einstigen Todesdrohungen nach Erscheinen seiner „Satanischen Verse“ (1988) schienen für ihn keine reale Bedrohung mehr darzustellen. Der Autor, der sich selbstverständlich im Rampenlicht bewegte, schrieb in seiner Autobiografie „Joseph Anton“ über eine Erkenntnis der Zeit, als er anonym und unter Polizeischutz leben musste, um sein Leben zu schützen: „So etwas wie absolute Zeit gab es nicht. Es gab nur variierende Grade von Unsicherheit.“

Zwei Monate vor dem Attentat, bei dem Rushdie schwer verletzt wurde, stellte er die Arbeit an seinem fünfzehnten Roman „Victory City“ fertig. Den Roman, eine Bilanz seiner Arbeit, liest man jetzt unweigerlich mit einem anderen Blick, hätte er doch sein literarisches Vermächtnis werden können.

Rückkehr ins historische Indien

Hatte sich Rushdie zuletzt auf amerikanische Gegenwartsanalysen verlegt („Quichotte“, „Golden House“, „Wut“) kehrt er mit „Victory City“ nach Indien, den Schauplatz seiner größten Werke („Mitternachtskinder“, „Des Mauren letzter Seufzer“), zurück, diesmal allerdings in die Vergangenheit. „Victory City“ ist eine Geschichte Vijayanagars, eines südindischen Reiches des 14. Jahrhunderts.

Zugleich ist es eine Geschichte von Pampa Kampana, einem zu Beginn des Buches neunjährigen Mädchen, das zusehen muss, wie sich ihre Mutter zusammen mit anderen Frauen nach einem Angriff auf ihre Stadt selbst verbrennt. Die Frauen folgen den gefallenen Männern in den Tod. Kampana wird daraufhin von einer Göttin mit magischen Kräften ausgestattet – sie soll damit ein Reich erschaffen, in dem sich nie wieder eine Frau verbrennen muss.

Geschichten als Politik, Geschichten als Identität

Später, als Erwachsene, schenkt sie zwei Kuhhirten einen Sack voller Samen und sagt ihnen, dass sie daraus eine Stadt wachsen lassen könnten. Und tatsächlich wächst eine Stadt mitsamt Bewohnern aus dem Boden – allerdings sind diese Bewohner bar jeder Identität und Vernunft: „Doch für jede neue Gegend, an der Menschen zu leben beginnen, braucht es eine Weile, bis sie sich real anfühlt, sagte sie, das kann Generationen oder länger dauern.“

Ruinen der historischen südindischen Stadt Vijayanagar
IMAGO/Anil Dave/Dinodia Photo
Die Ruinen der mittelalterlichen Stadt Vijayanagar in Südindien

Die Lösung für das Problem lautet „Fiktion“: Kampana muss jeder Bewohnerin und jedem Bewohner ihre oder seine Geschichte ins Ohr flüstern, „um die Vielzahl von ihrer Unwirklichkeit zu heilen“: „Sie erfand ihre Leben, ihre Kaste, ihren Glauben, sagte ihnen, wie viele Geschwister sie hatten, welche Spiele sie als Kinder spielten; und flüsternd schickte sie ihre Geschichten durch die Straßen jener, die sie hören mussten, schrieb das große Narrativ der Stadt, schuf ihre Historie, nachdem sie ihr Leben geschaffen hatte.“

Cover des Buches „Victory City“ von Salman Rushdie
Penguin Random House
Salman Rushdie: Victory City. Aus dem Englischen von Bernhard Robben, Penguin Random House, 414 Seiten, 26,80 Euro.

Rushdies Erzähler gibt sich dabei als kompetenter Mittler und scheinbar demütiger Historiker: Er referiert scheinbar das Epos, das Kampana, die mehrere hundert Jahre alt wurde, selbst über ihre Stadt schrieb, mischt sich nur selten ein, gibt Interpretationshilfe, indem er menschliche Regungen des 14. in die Sprache des 21. Jahrhunderts transportiert. Freilich ist genau diese Erzählstrategie der Clou des studierten Historikers Rushdie: Geschichten sind nie neutral, sie verteilen Deutungshoheit, schreiben ex post Gewinner und Verliererinnen fest und dienen zugleich als Orientierung in den Widersprüchen des alttäglichen Daseins.

Toxische Männlichkeit im Mittelalter

Dabei ist es zweitrangig, ob man Geschichten als Wahrheit oder Fiktion betrachtet – wie dünn und manipulierbar diese Grenze ist, weiß kein Autor leichtfüßiger aufzuzeigen als Rushdie. Diese Qualität, Erzählungen zugleich als anthropologische Notwendigkeit und als politische Größe zu verstehen, dabei aber nicht in starren Ernst zu verfallen, kennzeichnet Rushdies gelungenste Romane – in „Victory City“ findet sie zur bisher größten Konsequenz.

Neu ist jedenfalls die dezidiert feministische Perspektive: „Victory City“ ist die Geschichte eines Gewaltopfers, das seine patriarchale Umwelt – eine Welt des Krieges und religiöser Machtbestrebungen – herausfordert. Kampana, eine polyamoröse Kämpferin, die nicht altert, Jahrhunderte lang lebt und von Generation zu Generation erleben muss, wie ihre Liebhaber und Kinder sterben, ist eine Figur von ungeheurer literarischer Kraft.

Dass die Welt, die sie erschaffen hat, immer wieder kollabiert, ist auch ihrer Radikalität geschuldet. Zum Beispiel exkludiert sie drei ihrer Söhne von der Thronfolge, was die mittelalterliche indische Welt der toxischen Männlichkeit herausfordert. Wie Rushdie diese Parabel, die man getrost auf die Jetztzeit gemünzt lesen kann, zwischen Historiografie, Mythos und Märchen erzählt – allesamt Erzählweisen, die er über die bald fünfzig Jahre seines Schreibens perfektioniert hat –, ist meisterhaft.