Ein Paar schaut Rechnungen durch
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Teuerung

Armutsgefährdung zieht weite Kreise

Das Leben ist seit letztem Jahr in vielen Bereichen deutlich teurer geworden. Ganz besonders spüren das in Österreich über 200.000 Menschen, vor allem alleinerziehende Frauen, zeigen aktuelle Daten der Statistik Austria. Konkret bedeutet das, dass sie sich alltägliche Dinge nur schwer leisten können, von einem Urlaub ganz zu schweigen. Für die Politik bleibt ein „zentraler Auftrag“.

Im letzten Jahr galten laut der Auswertung der Statistik Austria zur Einkommens- und Lebenssituation der Österreicherinnen und Österreicher, veröffentlicht am Donnerstag, 201.000 Personen oder 2,3 Prozent der Bevölkerung als „erheblich materiell und sozial benachteiligt“, Frauen und Alleinerziehende waren generell „überproportional betroffen“.

Mit dem Abflauen der Coronavirus-Pandemie ging die Arbeitslosenzahl inzwischen zurück, dennoch sei die seit dem Vorjahr stark steigende Teuerungsrate „nicht ohne soziale Folgen“ geblieben, wie es in einer Aussendung hieß. Die betroffenen 2,3 Prozent hätten sich im Vorjahr neue Möbel oder „eine angemessen warme Wohnung nicht leisten“ können. Ein Jahr zuvor seien es 1,8 Prozent – rund 157.000 Personen – gewesen.

Immer mehr Menschen armutsgefährdet

In Österreich sind immer mehr Menschen von Armut betroffen. Aktuell sollen laut den Daten der Statistik Austria rund 1, 3 Million Österreicher armutsgefährdet sein.

Frauen besonders betroffen

Zum Hintergrund: Als „erheblich materiell und sozial benachteiligt“ gilt laut Statistik Austria nach EU-Definition, wer „mindestens sieben von 13 Merkmalen und Aktivitäten des täglichen Lebens“ nicht finanzieren kann. Darunter sind unerwartete Ausgaben von 1.300 Euro oder mehr, etwa dringend notwendige Reparaturen oder neue Haushaltsgeräte, ausreichend Heizen, zumindest ein Urlaub pro Jahr.

In der Gruppe der „von absoluten Armutslagen“ Betroffenen am stärksten vertreten sind in der Auswertung mit 95.000 oder rund 47 Prozent Frauen ab 18 Jahren, dahinter mit 35 Prozent 70.000 Männer ab 18 sowie 36.000 Kinder und Jugendliche (18 Prozent).

Grafik zur Armut in Österreich
Grafik: APA/ORF; Quelle: Statistik Austria

Das höchste Risiko hätten Personen in „Einelternhaushalten“, also Alleinerziehende und ihre Kinder – mit einem Durchschnitt von 12,7 Prozent gegenüber den 2,3 Prozent in der Gesamtbevölkerung. Unter alleinlebenden Frauen (Pensionistinnen ausgenommen) lag der Prozentanteil bei 5,7 Prozent.

Wohnkosten als großer Brocken

Ein großer Brocken der laufenden Ausgaben sind – wie bekannt – neben der Haushaltsenergie die Wohnkosten generell. Rund 28 Prozent der Betroffenen sahen sich im letzten Jahr mit einer „überproportionalen Belastung“ konfrontiert, für sie machten die Kosten für Wohnen regelmäßig mehr als 40 Prozent ihres Haushaltseinkommens aus.

In der Gesamtbevölkerung liegt der Durchschnitt bei 7,4 Prozent. Dabei wohnten sie (52,1 Prozent) weitaus häufiger in günstigeren Gemeinde- oder Genossenschaftswohnungen als der Durchschnitt insgesamt (22,6 Prozent).

Heizung
ORF.at/Patrick Bauer
Die Kosten für Wohnen und Haushaltsenergie wurden in den letzten zwölf Monaten zur unberechenbaren Größe

Entsprechend der Einkommens- und Ausgabensituation auch deren subjektive Einschätzung: Vier von fünf Betroffenen (rund 80 Prozent) schätzten ihre finanzielle Situation als „prekär“ ein, so die Statistik Austria, sie kamen „nur sehr schwer“ mit dem ihnen monatlich zur Verfügung stehenden Geld aus. Dabei können sie auch viel seltener auf finanzielle oder materielle Hilfe zählen.

Geringes Einkommen und Gesundheit

Stichwort Einkommenssituation: Laut Statistik Austria lag das mittlere Haushaltseinkommen 2022 bei 40.309 Euro (netto) jährlich oder rund 3.360 Euro pro Monat. Als „armuts- oder ausgrenzungsgefährdet“ bzw. materiell oder sozial benachteiligt gilt ein Haushalt, wenn er weniger als 60 Prozent dieses Schnitts zur Verfügung hat – also knapp über 24.000 Euro pro Jahr oder 2.000 Euro monatlich.

Ein Zusammenhang, der deutlich zutage trete, sei der zwischen der materiellen bzw. sozialen Lage und der gesundheitlichen Situation der Betroffenen. Von den befragten ab 16-Jährigen bezeichneten laut der Auswertung fast die Hälfte (48,4 Prozent) „ihren allgemeinen Gesundheitszustand als schlecht oder sehr schlecht“. In der Gesamtbevölkerung belaufe sich der Durchschnitt auf deutlich geringere 8,5 Prozent.

Einige individuelle Variablen

Generell in der gesamten Rechnung zu berücksichtigen ist – darauf verwies auch die Statistik Austria in ihrer Aussendung vom Donnerstag –, dass Personen bzw. Haushalte mit einem ähnlich hohen Einkommen einen unterschiedlichen Lebensstandard haben können, da dieser maßgeblich von der Ausgabenseite beeinflusst wird.

Es ist etwa entscheidend, ob jemand im Eigentum wohnt und nur Betriebskosten oder monatlich Miete und Betriebskosten zahlen muss. Weitere Faktoren sind Energieverbrauch, Ausgaben für Mobilität und etwa, ob jemand Gesundheits- oder Pflegekosten zu tragen hat.

Außerdem spielt die individuelle Teuerungsrate – ebenfalls dahingehend (Heizungs-, Wohn-, Energie- und Mobilitätskosten) – eine Rolle. Die Teuerungsrate lag in Österreich im März bei 9,2 Prozent, im Jänner hatte sie einen Höhepunkt von 11,2 Prozent erreicht, vor allem wegen des Preisschubs bei Haushaltsenergie. Der Wert war laut Statistik Austria der höchste seit 1952.

Sozialministerium sieht Lage „weitgehend stabil“

Trotz der hohen Teuerungsrate sei die soziale Lage laut EU-Erhebung (Europäische Gemeinschaftsstatistik über Einkommen und Lebensbedingungen, EU-SILC) „weitgehend stabil“, hieß es in einer Presseaussendung des Sozialministeriums am Donnerstag. „Das zeigt, dass wir mit unseren Hilfsmaßnahmen den richtigen Weg gegangen sind", so Sozialminister Johannes Rauch (Grüne). „Für mich ist aber klar: Armutsbekämpfung bleibt ein zentraler Auftrag an die Politik. Jeder Mensch in Armut ist einer zu viel.“

Sozialminister Rauch zur Armut in Österreich

Über 200.000 Menschen in Österreich sind erheblich finanziell und sozial benachteiligt, über 1,3 Millionen Menschen gelten als armutsgefährdet. Dazu war Sozialminister Johannes Rauch (Grüne) Gast in der ZIB2.

Besonderes Augenmerk will er heuer auf den Kampf gegen Kinderarmut legen. In der ZIB2 sagte er zudem, er wolle gemeinsam mit Vizekanzler Werner Kogler den Lebensmittelhandel einladen, um zu klären, warum Produkte um das Doppelte oder sogar Dreifache teurer geworden seien.

Oder doch „Alarmstufe Rot“?

Volkshilfe und Caritas sahen das in Aussendungen anders. Sie und andere Sozialorganisationen schlagen „seit über einem Jahr Alarm“. Die Ressourcen für die direkte Hilfe seien knapp, „die Warteschlangen immer länger“. Längst seien nicht nur die Einkommensärmsten in der Sozialberatung.

„Die hohen Preise für das Lebensnotwendige, insbesondere für Energie, Lebensmittel und Wohnen, belasten Menschen bis in die Mittelschicht“, mahnte Volkshilfe-Direktor Erich Fenninger. Die bisherigen Maßnahmen der Regierung reichten nicht aus, um Armut zu bekämpfen. „Wir müssen die Profit-Preis-Spirale beenden und strukturelle Maßnahmen zur sozialen Absicherung treffen.“

Für die Caritas herrscht inzwischen „Alarmstufe Rot“. Die Zahlen bestätigten, worauf sie seit Beginn der Teuerungswelle hingewiesen habe, so Michael Landau, Präsident der Caritas Österreich, in einer Aussendung. Die Not in Österreich breite sich aus. Gerade, dass die Zahl der Betroffenen gestiegen ist, sei extrem beunruhigend – mehr dazu in religion.ORF.at.

„Bittere Realität“

„In der Krise jetzt müssen wir die Stärken des Sozialstaats erhöhen und die Schwächen korrigieren“, kommentierte das Netzwerk Armutskonferenz die Daten der Statistik. „Für jetzt von den hohen Wohnkosten Gefährdete, für jetzt von Sozialhilfekürzung Betroffene, für Kinder jetzt ohne Zukunftschancen, für die existenzbedrohende Situation Arbeitsloser, für die jetzt gestiegene Zahl der Working Poor, für alle, die sich jetzt Therapien nicht leisten können, braucht es wirksame und nachhaltige Maßnahmen“, forderte die Armutskonferenz die Regierungen in Bund und Ländern auf.

Die neuen Zahlen der Statistik Austria zeigten: „Armut ist bittere Realität in Österreich“, hieß es in einer Reaktion der Arbeiterkammer (AK). „Das Sozialhilfe-Grundsatzgesetz sollte sicherstellen, dass in Österreich niemand hungern oder frieren muss. Es zeigt sich aber einmal mehr, dass es dafür völlig unzureichend ist“, so AK-Präsidentin Renate Anderl.