EU-Flagge und Lichtreflexe
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Machtverschiebung?

Polen misst sich mit „altem Europa“

Der Ukraine-Krieg hat den Ländern im Osten der EU mehr Gehör verschafft. Vor allem Polen, das bevölkerungsreichste Land der Region, positioniert sich als Gegengewicht zum „alten Europa“. Doch hat sich in der EU tatsächlich eine Machtverschiebung von West nach Ost vollzogen? Welche Allianzen geben den Ton an? Und was bedeutet das im Vorfeld der Europawahl 2024?

„Das alte Europa glaubte an ein Abkommen mit Russland und das alte Europa scheiterte. Aber es gibt ein neues Europa, ein Europa, das sich daran erinnert, was russischer Kommunismus war. Und Polen ist der Anführer dieses neuen Europas“, sagte der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki im April bei einem Besuch im Weißen Haus. Gegen Regierungschefs aus Westeuropa teilte Morawiecki indirekt Spitzen aus. Sich selbst scheint er als Gegenmodell zu Frankreichs Emmanuel Macron und Deutschlands Olaf Scholz zu positionieren.

Dass Staatschefs wie Morawiecki und die estnische Premierministerin Kaja Kallas mit ihrem klaren Kurs gegen Russland in Zeiten des Krieges mehr Aufmerksamkeit bekommen, ist unbestritten. „Die Stimmen der Mittel- und Osteuropäer werden im Europäischen Rat mehr gehört und ernster genommen, und es liegt eine große Osterweiterungsagenda auf dem Tisch“, wird etwa der Historiker Timothy Garton Ash von der „New York Times“ zitiert.

Ob sich diese Aufmerksamkeit auch in politisches Kapital in Brüssel übersetzt, scheint weniger klar. „Die Region hat schon früher Gelegenheiten für eine größere EU-Führungsrolle vertan“, heißt es im „Economist“. Judy Dempsey von der Brüsseler Denkfabrik Carnegie Europe sieht die polnischen Bestrebungen im Gespräch mit ORF.at skeptisch.

Polnischer Premier Mateusz Morawiecki im Weißen Haus
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„Polen ist der Anführer dieses neuen Europas“, sagte der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki in Washington

„Polen konnte Einfluss in der NATO ausbauen“

„Polen konnte seinen Einfluss vor allem in der NATO ausbauen“, sagt die langjährige irische Journalistin Dempsey. Das Land sei unglaublich „atlantisch“. In der EU hätte Polen gemeinsam mit den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen dafür gesorgt, dass das Momentum für Russland-Sanktionen weiterhin bestehen bleibt. Sie hätten auch versucht, alle EU-Länder dazu zu bewegen, der Ukraine politische, finanzielle und militärische Hilfe zukommen zu lassen.

Das unterscheide sich aber „stark von dem Gesamteinfluss, den Polen in Europa hat“, sagt sie. Dass es eine tektonische Verschiebung der Macht gebe, glaubt Dempsey aus mehreren Gründen nicht. Polen sei zwar – anders als die baltischen Staaten – ein bevölkerungsreiches Land mit einer beachtlichen Wirtschaft, so Dempsey. Es sei aber kein Mitglied der Eurozone, fügt sie hinzu.

„Wenn Polen wirklich Einfluss in der EU haben möchte, sollte es der Eurozone beitreten“, betont Dempsey. Tatsächlich schmälere die regierende rechtsnationale Partei Recht und Ordnung (PiS) nach Ansicht Dempseys ihren europäischen Einfluss durch ihren eigenwilligen Umgang mit Themen wie Rechtsstaatlichkeit und Frauenrechte. Und das obwohl das Land „nach seinem Beitritt 2004 einer der großen Stars der Europäischen Union war“.

Getreidestreit: Schockwellen durch Osteuropa

Polen habe bisher auch nicht klargemacht, welche Art Europa es sich hinsichtlich der vielen Herausforderungen, mit denen die Union konfrontiert ist, vorstelle, sagt Dempsey. Das reicht von einer gemeinsamen Außenpolitik bis hin zum Umgang mit der Klimakrise. Die polnische Regierung lege „viel Wert auf nationale Souveränität“ und stelle dabei auch die Kompetenzen der Europäischen Kommission infrage, so Dempsey. „Wir haben das bereits im Streit um ukrainisches Getreide mit Polen, der Slowakei und Ungarn gesehen.“

Die Landwirte und Landwirtinnen der östlichen EU-Staaten sehen sich durch den im Zuge des Krieges ermöglichten zollfreien Import großer Mengen ukrainischen Getreides unverhältnismäßiger Konkurrenz ausgesetzt. In Polen und der Slowakei ist das Thema auch deshalb groß, weil in den beiden Ländern heuer gewählt wird. Für die in Polen regierende PiS-Partei ist die Landwirtschaft eine wichtige Klientel.

„Polens Status in der EU bleibt peripher“, schrieb Piotr Buras, Leiter der Zweigstelle des Thinktanks European Council on Foreign Relations (ECFR) in Warschau, in einem Blog. Die Parlamentswahl im Herbst brächte „Hoffnungen mit sich, dass eine neue Regierung – möglicherweise gebildet aus proeuropäischen und liberalen Kräften – die Erwartungen erfüllen kann, dass das Land eine führende Macht in der EU wird“.

Faktoren der Macht

Wer also gibt in der EU den Ton an? „Trotz aller Bemühungen und des guten Willens der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sind es eigentlich die Mitgliedsstaaten, die die Agenden vorgeben, das Sagen haben und die bilaterale Außenpolitik diktieren“, meint Dempsey. Die tatsächlichen Machtzentren liegen nach wie vor in Berlin und Paris.

Die Macht Deutschlands und Frankreichs begründe sich zum einen darin, dass sie zu den sechs Gründungsstaaten zählen, so Dempsey. Viel wichtiger sei aber noch, dass Deutschland und Frankreich die größten Volkswirtschaften und auch die beiden bevölkerungsreichsten Staaten der EU sind. Deutschland zählt 83 Mio. Einwohnerinnen und Einwohner, in Frankreich sind es rund 68 Mio. Polen gilt mit rund 38 Mio. Einwohnerinnen und Einwohnern als größtes osteuropäisches Land und rangiert auf Platz fünf.

Die baltischen Staaten sind sowohl mit Blick auf die Größe ihrer Bevölkerung und Wirtschaft zu klein, um der EU die Richtung weisen zu können. Behelfen können sich EU-Länder freilich, indem sie Allianzen schließen. Beispiele dafür gibt es mit der Visegrad-Gruppe oder den Bukarest Neun auch.

Allianzen ohne Einfluss?

An der Visegrad-Gruppe sind etwa Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn beteiligt. Das Bündnis besteht seit 1991. Die Bukarest Neun setzen sich aus Polen, Rumänien, Bulgarien, Tschechien, Ungarn, der Slowakei sowie Estland, Lettland und Litauen zusammen. Der Verbund entstand als Reaktion auf den russischen Einmarsch auf der Krim und der Ostukraine 2014.

In beiden Gruppen gilt Ungarn auch aufgrund seiner russlandfreundlichen Politik als Ausreißer. Eine gemeinsame Linie fehlt in vielen Fragen. Und: All jene Staaten würden mehr aus dem EU-Budget erhalten, als sie einzahlen, so der „Economist“. „In der Praxis schmälert das ihren Einfluss.“

Expertin sieht Chance für neue Bündnisse

Dempsey rät ohnehin dazu, Allianzen zwischen Staaten des Westens und des Ostens zu schließen. Sich nicht über Zentraleuropa hinwegzubewegen, sei „kontraproduktiv“ und würde nur „alte Vorurteile“ der Gründerstaaten bestätigen. „Es ist an der Zeit, darüber hinauszuwachsen und Koalitionen zu bilden, die eine viel stärkere europäische Sicht auf die Außen- und Sicherheitspolitik vermitteln, die Europa möglicherweise zu mehr Zusammenhalt verhelfen könnten.“ Dass es mit Macron und Scholz zu solchen Bündnissen komme, glaubt die Expertin nicht.

Den Zugewinn an Selbstbewusstsein könnten Polen und die baltischen Staaten aber allemal dafür nutzen, sich etwa prestigeträchtige EU-Posten auszuverhandeln. Dass die litauische Politikerin Jovita Neliupsiene jüngst zur EU-Botschafterin in Washington bestellt wurde, wurde in Brüssel als Signal der Anerkennung ost- bzw. nordeuropäischer Staaten gewertet. Zu erwarten ist, dass sich das gewachsene Selbstbewusstsein nach der Europawahl 2024 auch im Feilschen um Topjobs niederschlagen wird.