Menschen auf einer Einkaufsstraße
ORF.at/Roland Winkler
Extreme Teuerung

Überschuldung in „Mitte der Gesellschaft“

Die Teuerung führt bei vielen Menschen zu Mehrausgaben von mehreren hundert Euro pro Monat. Zusätzlich werden in immer mehr Fällen erdrückende Schulden zum Problem: So stiegen die Erstkontakte bei Schuldenberatungsstellen 2022 um zehn Prozent, wie aus dem am Dienstag präsentierten „Schuldenreport“ hervorgeht. Laut ASB Schuldnerberatung, der Dachorganisation der staatlich anerkannten Schuldenberatungen, sei die Überschuldung „in der Mitte der Gesellschaft“ angekommen.

In der Gesamtklientel der Schuldenberatungsstellen liegt die Verschuldung 2022 im Schnitt bei 61.430 Euro, wie der aktuelle Bericht ausweist. Maßgeblich wird der Betrag durch Fälle gescheiterter ehemaliger Selbstständiger in die Höhe getrieben.

Die durchschnittliche Überschuldung schlägt in diesem Fällen mit etwa 111.000 Euro zu Buche. Zentral gehe es um persönliche Haftungen für Firmenschulden, wie ASB-Geschäftsführer Clemens Mitterlehner gegenüber ORF.at sagte. Zinsen und Mahngebühren würden die Summen zusätzlich stark in die Höhe treiben.

Klientel immer breiter

Doch gehen die Fälle jener, die mit der Schuldnerberatung in Kontakt kommen, zunehmend in die Breite: „Menschen sagen immer öfter: ‚Ich habe eigentlich keinen Fehler gemacht und trotzdem bin ich in der Schuldenberatung‘“, sagte Mitterlehner bei der Berichtspräsentation. Die Zahl der Erstberatungen im ersten Quartal 2023 ging seinen Angaben zufolge weit über das Niveau im abgelaufenen Jahr hinaus.

Inflation schlägt bei Freizeit und Reisen durch

Die Inflation bleibt hoch. Laut einer Schnellschätzung der Statistik Austria beträgt die Inflationsrate im April voraussichtlich 9,8 Prozent, im März lag sie noch bei 9,2 Prozent. Vor allem in den Bereichen Freizeit, Reisen und Dienstleistungen nehme die Teuerung an Fahrt auf, so Statistik-Austria-Generaldirektor Tobias Thomas am Dienstag.

„Durch die gestiegenen Kosten und erhöhten Kreditzinsen kann es mittlerweile finanziell auch für jene eng werden, die sich das Leben bisher gut leisten konnten“, strich Mitterlehner hervor. Die Hauptursache für Überschuldung sei Arbeitslosigkeit beziehungsweise Einkommensverminderung. Bei einem Arbeitsplatzverlust reduzieren sich die Einkommen „auf einen Schlag auf 55 Prozent“ und die Klientinnen und Klienten hätten keine Reserven, auf die sie zugreifen könnten.

Auch mehr Privatkonkurse 2022

Die Zahl der eröffneten Privatkonkurse ging 2022 laut Schuldenreport gegenüber dem Jahr davor um 13,5 Prozent auf 8.176 nach oben, die Schuldenberatungen begleiteten 71 Prozent davon. Die Tendenz bei den Zahlungsausfällen ist weiter steigend. „Ein erster Anstieg ist bereits jetzt zu verzeichnen, teilweise hatten Schuldenberatungen Anfang 2023 eine Verdoppelung der Erstberatungen im Vergleich zu Anfang 2022“, berichtete Mitterlehner.

Das Risiko für Überschuldung und Armut steige – die Situation überschuldeter Menschen werde durch die Inflation weiter verschärft. „Erfahrungsgemäß werden auch die massiven Teuerungen erst zeitversetzt in der Schuldenberatung so richtig spürbar werden“, hielt der ASB-Chef fest. Besonders problematisch wird es, wenn sich die Menschen selbst einen Privatkonkurs nicht mehr leisten können. Denn dafür müssen alle Ausgaben mit den Einnahmen gedeckt werden können und keine neuen Schulden gemacht werden.

Plädoyer für Anhebung der Nettoersatzrate

Mitterlehner plädierte im Namen der Dachorganisation der staatlich anerkannten Schuldenberatungen für eine Anhebung der Nettoersatzrate bei Arbeitslosigkeit auf 70 Prozent. Insgesamt sei die Arbeitslosigkeit in Österreich derzeit relativ gering – in der Beratung seien aber fünfmal häufiger arbeitslose Menschen als in der Gesamtbevölkerung.

Neben einer Anhebung der Nettoersatzrate bei Arbeitslosigkeit wäre es laut ASB-Chef nötig, „das Existenzminimum zumindest an die Armutsgefährdungsschwelle von zuletzt 1.371 Euro monatlich nach oben zu setzen.“ 2022 lag das Existenzminimum bei 1.030 Euro pro Monat. „Dieser Betrag war schon vor den Teuerungen weitaus zu gering“, heißt es im aktuellen Schuldenreport.

Rund 56.000 Personen in Schuldenberatung

Menschen, die in die Schuldenberatung kommen, haben laut Schuldenreport monatlich durchschnittlich 1.400 Euro zur Verfügung. Bei fast der Hälfte sei die Pflichtschule die höchste abgeschlossene Ausbildung. Im abgelaufenen Jahr wurden rund 56.000 Personen von einer der zehn staatlich anerkannten Schuldenberatungen in Österreich unterstützt.

Auch plädierte Mitterlehner dafür, für Private die Möglichkeit einer Entschuldung innerhalb von drei Jahren aufrechtzuerhalten. Hier droht eine Anhebung auf fünf Jahre. Für Unternehmer bleibt es bei drei Jahren. „Da sind wir in Gesprächen – es kann nicht sein, dass Unternehmer besser gestellt sind als private Schuldner“, sagte Sozialminister Johannes Rauch von den Grünen.

Regierung verteidigt gesetzte Maßnahmen

Gleichsam verteidigt Rauch die bisher gesetzten Maßnahmen der Bundesregierung zur finanziellen Abfederung der extrem hohen Inflation. „Es ging darum, rasch zu handeln“, hielt er der Kritik entgegen, dass diverse Einmalzahlungen an alle Haushalte nach dem Gießkannenprinzip nicht „sozial treffsicher“ genug gewesen sein. Insgesamt seien dafür bisher 30 Mrd. Euro aufgewendet worden. „Hätten wir das nicht gemacht, würde sich die soziale Situation deutlich anders darstellen“, so der Minister.

Menschen mit geringen Einkommen wenden laut Rauch den Großteil ihres Haushaltseinkommens für Wohnen, Energie und Lebensmittel auf. Gerade in diesen Bereichen seien die Preise besonders stark gestiegen – oft wesentlich stärker als die Inflation. Im März lag der allgemeine Preisauftrieb beispielsweise bei 9,2 Prozent, Lebensmittel verteuerten sich aber um 14,5 Prozent. Das will sich der Sozialminister näher ansehen.

Erneut „Lebensmittelgipfel“ angekündigt

An dieser Stelle verwies er auf die Ankündigung eines „Lebensmittelgipfels“ – dieser solle einberufen werden, um festzustellen, wie sich die Situation darstelle, so Rauch. Seine Vorstellungen werde er „nicht über die Medien ausrichten“, sagte er auf APA-Nachfrage zu handfesten Details. „Zielsetzung muss sein, dass die Preise auf ein Niveau kommen, das darstellbar ist.“

Am 8. Mai sind Vertreter der Lebensmittelketten und der Landwirtschaft sowie Sozialpartner und Wirtschaftsforscher zu einem Gespräch gebeten, in dem über die hohen Preise beraten wird.

Statistik Austria: Inflation im April gestiegen

Die hohen Preise bestätigt auch die Inflation, die laut einer Schnellschätzung der Statistik Austria im April voraussichtlich 9,8 Prozent beträgt, im März lag sie noch bei 9,2 Prozent. Vor allem in den Bereichen Freizeit, Reisen und Dienstleistungen nehme die Teuerung an Fahrt auf, so Statistik-Austria-Generaldirektor Tobias Thomas am Dienstag.

Überrascht vom Anstieg zeigte man sich beim Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO). „Wir haben erwartet, dass die Inflation zurückgeht“, sagte WIFO-Inflationsexperte Josef Baumgartner zur APA. Noch sei nicht im Detail klar, woher der Anstieg komme. Dafür müsste man sich noch rund zwei Wochen bis zur Veröffentlichung der Detailzahlen gedulden.

Sein „erste Vermutung“ wäre, dass Preissteigerungen bei Reisen und Flügen durchgeschlagen haben. „Aber es könnte natürlich auch ein zusätzlicher Preisschock sein, den wir nicht auf dem Radar hatten“, so Baumgartner. Gegen so eine Entwicklung spreche aber, dass Branchenvertreter sonst schon auf unerwartete Kostensteigerungen hingewiesen hätten.