Ein Arbeiter in Rumänien kontrolliert Getreide aus der Ukraine
AP/Vadim Ghirda
Vor Sommerernte

Europas Poker um ukrainisches Getreide

Wochenlang hat eine Flut an günstigem ukrainischem Getreide für Aufschrei in östlichen EU-Staaten gesorgt. Die Silos sind voll, die Preise fallen und die Sommerernte steht erst bevor. Polen, Ungarn, Bulgarien und die Slowakei zogen mit nationalen Importstopps den Ärger der EU auf sich. Nun gibt es in dem Streit doch eine Einigung. Ist das Problem damit gelöst – oder verlagert es sich bloß? ORF.at hat bei dem Handelsexperten David Kleimann nachgefragt.

Die Einigung, die die EU-Kommission jüngst verkündet hatte, soll dafür sorgen, dass ukrainisches Getreide – wie ursprünglich beabsichtigt – auf dem Weltmarkt landet und nicht im Osten Europas hängen bleibt. Konkret wurde der Import von ukrainischem Weizen, Mais, Rapssamen und Sonnenblumen in Polen, Ungarn, Bulgarien, Rumänien und der Slowakei beschränkt, vorerst bis zum 5. Juni. Jene Agrarprodukte dürfen dort nicht mehr frei gehandelt werden – der Transit bleibt aber erlaubt.

Im Gegenzug sollen Polen, Ungarn, die Slowakei und Bulgarien nationale Maßnahmen, die auf Drängen von Landwirten und Landwirtinnen verhängt worden waren, aufheben. Zusätzlich versprach Brüssel EU-Gelder in der Höhe von 100 Mio. Euro. Die Einigung sei „suboptimal“, sagt Kleimann, Experte der Brüsseler Denkfabrik Bruegel, „einerseits für die Ukraine, andererseits aber auch für die Europäische Union.“

Experte befürchtet „negative Anreize“

Aufseiten der Ukraine bedeute der Deal, dass die für das Land überlebensnotwendigen Agrarexporte „geringfügiger vom europäischen Markt absorbiert“ würden, so der Experte. Aufseiten der EU würden „der interne Markt und die Zollgemeinschaft“ aufgespaltet. Kleimann befürchtet „negative Anreize“ für andere EU-Staaten, die sich an dem Vorgehen ein Beispiel nehmen könnten, um die Kommission ähnlich unter Druck zu setzen.

Problematisch sei die Einigung noch dazu, „weil der Druck, der auf die Agrarmärkte in diesen Anrainerstaaten besteht, nachweislich nicht ganz so hoch ist, wie man das der Kommission hat versucht glauben zu machen“, sagte Kleimann weiter und verwies auf eine zusätzliche Dimension in der Debatte – nämlich die Gefahr, „dass diese Krise natürlich der russischen Propaganda in die Hände spielt“.

Gründe für das Getreidechaos

Zur Erinnerung: Nachdem der Export ukrainischer Getreideerzeugnisse über Schwarzmeer-Häfen im Vorjahr zwischenzeitlich blockiert war, erleichterte die EU deren Einfuhr mittels „Solidarity-Lanes“. Konkret wurden neue Landwege für den Transport aufgebaut und Grenzkontrollen für Produkte aus der Ukraine erleichtert. Die Erhebung von Zöllen wurde ausgesetzt – voraussichtlich bis Juni 2024. Die Idee dahinter war, noch größere Hungersnöte im Globalen Süden zu vermeiden und die Ukraine wirtschaftlich zu unterstützen.

Waren über den Landweg zu transportieren ist aber mühsam und teuer. Beim Transport mit Güterzügen fällt etwa die unterschiedliche Spurbreite der Züge in der Ukraine und der EU ins Gewicht. So müssen Waggons an der Grenze umgeladen oder auf passende Fahrgestelle umgesetzt werden. Und auch der Weitertransport über Häfen in Polen, Rumänien und Co. stockt. Die Leistungsfähigkeit der polnischen Häfen sei dem Getreideaufkommen nicht gewachsen, sagte eine Sprecherin der polnischen Getreidehandelskammer kürzlich.

Eine Frau hält Brot bei einem Protest der Getreidebauern in Polen
AP/Andreea Alexandru
Protest der Getreidebauern in Polen

Bauern auf den Barrikaden

„Die Anrainerstaaten, die Frontline-States, wie die EU sie nennt, sind in Sachen Infrastruktur und auch in Fragen der Marktabsorbierung nicht darauf vorbereitet, diese Produkte so massiv aufzunehmen“, sagt Kleimann gegenüber ORF.at. Das habe zu Spannungen geführt, betont er. Bäuerinnen und Bauern gingen auf die Barrikaden und sprachen von Marktverwerfungen.

Polnische Bauern seien auf die Situation nicht vorbereitet gewesen, betonte auch die liberale polnische EU-Abgeordnete Roza Thun in der ORF-Sendung Inside Brüssel. Die Bauern hätten nämlich mit steigenden – nicht fallenden – Getreidepreisen gerechnet und deshalb auch „sehr viel produziert“, so Thun. In Warschau, Budapest, Bratislava und Sofia wurden im April Importverbote verhängt – zum Ärger der Kommission, die darauf verwies, dass Handelspolitik eine EU-Zuständigkeit sei.

Inside Brüssel zu Debatte über ukrainisches Getreide

Die EU-Kommission hat sich mit fünf Staaten im Osten Europas im Streit um günstiges ukrainisches Getreide auf eine Lösung verständigt. Die polnische Politikerin Roza Thun und „Politico“-Journalist Matthew Karnitschnig analysieren.

Wahlen als Faktor im Getreidestreit

Für so manchen Beobachter war das Vorgehen der osteuropäischen Regierungen – wenn auch im Widerspruch mit deren sonst so enger Verbundenheit mit der Ukraine – kalkuliert. Teilweise sei die Getreidedebatte „mit dem Ausblick auf Wahlen“ auch übertrieben worden, so Kleimann. In Polen und der Slowakei finden heuer Parlamentswahlen statt. 2024 wird in Rumänien gewählt. Die Landwirtschaft gilt überall als gewichtige Klientel.

In den Anrainerstaaten ist man nun bemüht, die Silos vor der bevorstehenden Sommerernte zu leeren. Allein in Polen sollen vier Millionen Tonnen an ukrainischem Getreide lagern, die nach Worten des polnischen Agrarministers Robert Telus bis Ende Juni exportiert werden sollen. Ob das machbar ist, ist unklar.

Ohnedies soll Warschau Brüssel einem „Politico“-Bericht zufolge weiter unter Druck setzen. Polen würde seine Zustimmung zum bereits ausverhandelten Cotonou-Abkommen (Handelsabkommen mit den Staaten in Afrika, im Karibischen Raum und im Pazifischen Ozean) davon abhängig machen, ob die EU das gesamte überschüssige Getreide der Ukraine abkaufe und an bedürftige Staaten liefere, so „Politico“ mit Verweis auf Insider.

Begrenzte Exportkapazitäten

Dass Importbeschränkungen nicht des Rätsels Lösung sein dürften, schrieb Bloomberg-Kolumnist Javier Blas: „Solange ukrainisches Getreide mit einheimischem Getreide in Polen, Rumänien und Bulgarien um begrenzte Exportkapazität konkurriert, werden lokale Preise in den Häfen unter Druck bleiben.“ Er verweist etwa auf den Hafen im polnischen Gdansk, den Hafen im bulgarischen Warda und den Hafen im rumänischen Constanta.

„Dabei spielt es keine Rolle, ob das Getreide nur für den Transit durch das EU-Gebiet bestimmt ist. Der Transit – und die Nutzung begrenzter Hafenexportkapazitäten – selbst hat große Auswirkungen auf den Preis“, so Blas.

„Problem wird nicht gelöst, nur weitergeschoben“

Der deutsche CDU-Agrarpolitiker Norbert Lins schlug indes aus einem anderen Grund Alarm: „Das Problem wird nicht gelöst, sondern nur innerhalb der EU weitergeschoben“, so der Vorsitzende des Agrarausschusses des EU-Parlaments. Er bezeichnete die von der Kommission beschlossenen Schutzmaßnahmen als Scheinlösung. „Es wird nur wenige Tage dauern, bis sich die Anrainerstaaten der Anrainerstaaten über Getreide auf ihren Märkten beschweren werden“, sagte er.

Dass sich das Problem auf „Anrainerstaaten der Anrainerstaaten“ – unter anderem Österreich – verlagere, sei möglich, sagte Kleimann. „Davon sind wir noch relativ weit weg“, so der Experte. Die EU-Kommission wollte derartige Befürchtungen auf ORF.at-Anfrage nicht kommentieren.

LKÖ fordert europaweite Schutzmaßnahmen

Die Landwirtschaftskammer Österreich (LKÖ) beobachte die Entwicklungen auf den weltweiten Märkten derzeit mit Sorge, teilte deren Präsident Josef Moosbrugger auf ORF.at-Anfrage mit. Angesichts fallender Agrarrohstoffpreise sei die europäische Politik „nicht nur in den fünf genannten Ländern gefordert, Maßnahmen zum Schutz der Landwirtschaft zu setzen, sondern in der ganzen Union“, so Moosbrugger. Die Solidarität mit der Ukraine sei grundsätzlich aufrechtzuerhalten, betonte er auch.

Getreideernte in der Ukraine
AP/Efrem Lukatsky
Die Ukraine gilt als Kornkammer Europas

Der stellvertretende ukrainische Landwirtschaftsminister Markijan Dmytrasewitsch im Euractiv-Interview äußerte Verständnis für die schwierige Situation seiner Nachbarstaaten. „Aber gleichzeitig haben wir in der Ukraine einen Krieg, und dieser Export ist für uns entscheidend – nicht um Geld zu verdienen, nicht um etwas hinzuzugewinnen, sondern um zu überleben“, so Dmytrasewitsch.

Getreideabkommen als „wahres Damoklesschwert“

Der Seeexport bleibe jedenfalls der einfachste und kostengünstigste Transportweg, hielt Agrarökonom Klaus Schumacher im Interview mit der ZDF-Journalistin Britta Hilpert fest. „Das wahre Damoklesschwert, das über uns hängt, ist der 18. Mai: Da endet möglicherweise der UN-Exportkorridor aus Odessa. Wenn es bis dahin der Türkei und den UN nicht gelingt, das Abkommen mit Russland zu verlängern, dann haben wir ein sehr großes Unterversorgungsproblem und über Nacht wieder deutlich höhere Preise auf dem internationalen Getreidemarkt.“

Laut der Türkei soll dazu am Freitag ein Treffen in Istanbul stattfinden. Russland droht immer wieder damit, das zuletzt Mitte März um 60 Tage verlängerte Abkommen platzen zu lassen.

Die östlichen EU-Länder hätten nur zum Teil ein Überversorgungsproblem, so Schumacher auch. Tatsächlich habe es in den letzten Jahren weltweit „schlechte Ernten“ gegeben. „Wir können es uns aktuell nicht leisten, erstens in diesem Jahr witterungsbedingt schlechte Ernten einzufahren und zweitens den Export aus der Ukraine zu verlieren für die weltweite Versorgung.“