Beschilderung des Drohnenverbotes nahe dem Kreml
APA/AFP/Natalia Kolesnikova
Vorfall in Moskau

Große Sorge vor neuer Eskalation

Der angebliche Drohnenangriff auf den Kreml hat am Donnerstag international große Sorge vor einer neuen Eskalation zwischen Moskau und Kiew ausgelöst. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell warnte, dass Russland den Vorfall als Rechtfertigung für weitere Angriffe verwenden könnte. Aus Moskau kommen unterdessen neue schwere Anschuldigungen.

„Was uns Sorgen macht, ist, dass das als Rechtfertigung für weitere Angriffe auf die Ukraine genutzt werden kann“, sagte Borrell am Donnerstag am Rande eines Treffens der EU-Entwicklungsminister und -ministerinnen in Brüssel. „Wir fordern Russland auf, diesen angeblichen Angriff nicht als Vorwand für eine weitere Eskalation des Krieges zu nutzen.“ An die EU-Staaten gerichtet sagte Borrell, das Wichtigste sei nun, die Ukraine weiterhin militärisch, politisch und wirtschaftlich zu unterstützen.

Schon tags zuvor warnte die UNO vor einer neuen Eskalation. Der stellvertretende Sprecher der Vereinten Nationen, Farhan Haq, sagte: „Wir wiederholen nachdrücklich unseren Aufruf an alle Beteiligten, von jeglicher Rhetorik oder Handlung Abstand zu nehmen, die den Konflikt weiter eskalieren könnte“, so Haq.

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell
AP/Frederic Sierakowski
Der EU-Außenbeauftragte Borrell warnte vor einer weiteren Eskalation

Kreml sieht USA als Drahtzieher

Auch wenn es über einen Tag nach dem angeblichen Angriff, bei dem Russland nach eigenen Angaben zwei Drohnen über dem Kreml abgeschossen haben soll, keine neuen Anhaltspunkte gibt, kamen aus Russland neue Anschuldigungen. „Die Entscheidungen über solche Angriffe werden nicht in Kiew, sondern in Washington getroffen. Kiew setzt nur um, was von ihm verlangt wird“, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. „Die Bemühungen Kiews und Washingtons, jegliche Verantwortung zu leugnen, sind völlig lächerlich.“

Die USA bezichtigen Russland der Lüge. Die Anschuldigungen Moskaus seien falsch, sagte der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates, John Kirby, in einem Interview mit MSNBC. „Ich kann Ihnen versichern, dass die Vereinigten Staaten daran nicht beteiligt waren. Was auch immer es war, wir waren nicht beteiligt. Wir hatten damit nichts zu tun.“ Mit Blick auf den russischen Präsidialamtssprecher sagte Kirby: „Dmitri Peskow lügt hier einfach.“

Borrell warnt vor Eskalation

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell hat sich am Rande eines Treffens der EU-Entwicklungsminister in Brüssel nach dem angeblichen Drohnenangriff auf den Kreml besorgt gezeigt. Er warnte, dass Russland den Vorfall als Rechtfertigung für weitere Angriffe verwenden könnte.

Gleichzeitig beklagte Russland, einer beispiellosen „Sabotage“-Welle ausgesetzt zu sein. „Die terroristischen Aktivitäten und die Sabotage durch die ukrainischen bewaffneten Kräfte erreichen ein beispielloses Ausmaß“, so das Außenministerium in Moskau. Im Süden des Landes brach zum zweiten Mal binnen kurzer Zeit ein Großbrand in einem Tanklager nahe der Halbinsel Krim aus.

Russland meldete weiteren Drohnenangriff

Das Feuer sei durch einen Drohnenangriff ausgelöst worden, berichtete die russische Staatsagentur TASS Donnerstagfrüh. Getroffen wurde laut den Angaben das Tanklager einer Ölraffinerie in der Ortschaft Ilski. Russische Drohnen gingen in der Nacht auf Odessa und Kiew nieder.

In der Nacht auf Mittwoch war es zu einem ähnlichen Vorfall in der rund 50 Kilometer entfernten Siedlung Wolna im Bezirk Taman gekommen, der ebenfalls in der südrussischen Region Krasnodar liegt. Auch dort geriet ein Treibstoffreservoir in Brand, auch dort nannten russische Stellen einen Drohnenangriff als Ursache. Am Rande von Wolna liegt ein großes Umschlagterminal für Öl und Ölprodukte, die dann über das Schwarze Meer verschifft werden.

Schwere Angriffe auf Ukraine

Auf der anderen Seite nahm Russland bei neuen schweren Drohnenangriffen gegen die Ukraine in der Nacht vornehmlich die Hafenstadt Odessa ins Visier. „Der Feind hat in der Nacht 15 Schahed-131/136 (iranische Kampfdrohnen, Anm.) auf Odessa gelenkt“, teilte der Kommandostab Süd der ukrainischen Streitkräfte am Donnerstag mit.

Zwölf Drohnen seien abgeschossen worden, drei hätten in einem Wohnheim einen Brand ausgelöst, der aber schnell und ohne Opfer gelöscht werden konnte, hieß es. Insgesamt wurden nach Angaben der Luftstreitkräfte 18 von 24 auf die Ukraine gelenkten Drohnen abgeschossen. Wie in der Nacht zuvor wurden die Drohnen ukrainischen Angaben zufolge vom westrussischen Gebiet Brjansk und vom Ostufer des Asowschen Meeres gestartet.

Drohnenangriffe auch auf Kiew

Neben Odessa meldete auch die Hauptstadt Kiew Drohnenangriffe. Nach Angaben der Militärverwaltung wurden dort aber alle Flugobjekte noch beim Anflug zerstört. Drohnentrümmer seien zwar auf einzelne Wohngebiete gestürzt, hätten dort aber keine Schäden angerichtet. Am Donnerstagabend wurde erneut Luftalarm in Kiew ausgelöst, Augenzeugen berichteten von mehreren Explosionen in der ukrainischen Hauptstadt. Nach knapp einer Stunde wurde Entwarnung gegeben.

Christian Wehrschütz zum Ukraine-Krieg

Ob eine Gegenoffensive der Ukraine unmittelbar bevorstehen könnte, analysierte ORF-Korrespondent Christian Wehrschütz.

In der Nacht zuvor wurde durch russische Drohnen ein Öllager in der Industrieregion Kirowohrad getroffen. Nächtliche Angriffe mit Raketen und Drohnen nutzt Russland in seinem vor gut 14 Monaten begonnenen Angriffskrieg gegen die Ukraine verstärkt seit vergangenem Herbst. Zunächst zielten die russischen Attacken auf die Energieversorgung des Nachbarlandes, um die Ukrainer während des Winters in Dunkelheit und Kälte zu stürzen und sie kriegsmüde zu machen. Trotz gewaltiger Schäden und längerer Stromausfälle ist es den Ukrainern aber gelungen, ihr Netz intakt zu halten.

Kreml sieht „Terroranschlag“ gegen Putin

Russland warf der Ukraine am Mittwoch einen versuchten Drohnenanschlag auf Kreml-Chef Wladimir Putin vor und drohte offen mit Gegenmaßnahmen. Der Angriff werde als „geplanter Terroranschlag und Mordversuch gegen den Präsidenten der Russischen Föderation“ eingestuft, so der Kreml.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wies die Vorwürfe zuvor zurück und sagte, der Kreml habe sich das ausgedacht. Seine Armee greife weder Moskau noch Putin an. „Wir kämpfen auf unserem Hoheitsgebiet, wir verteidigen unsere Dörfer und Städte“, sagte er. Die Stellungnahme Russlands könne darauf hinweisen, dass es sich auf einen großen „terroristischen“ Angriff auf die Ukraine in den kommenden Tagen vorbereite.

Ein Grab aus einem Video zeigt vermutlich einen Drohnenabschuss über dem Kreml
Reuters/Ostorozhno Novosti
In einem russischen Video ist eine Explosion über dem Kreml zu sehen

Der Russland-Experte Gerhard Mangott hält einen Angriff von ukrainischer Seite auf den Kreml in der Nacht auf Mittwoch für wahrscheinlich – wobei es wohl nicht darum gegangen sei, Präsident Putin zu töten, so Mangott im Telefonat mit der APA. Der Politologe der Universität Innsbruck spricht von einem „demonstrativen Akt der Ukraine“. Putin sei selten im Kreml, schon gar nicht in der Nacht, das wisse Kiew.

ISW: Drohnenangriffe auf Kreml selbst inszeniert

Nach Einschätzung internationaler Militärexperten dagegen hat Russland die angeblichen Kreml-Angriffe wahrscheinlich selbst inszeniert. Damit sollten der russischen Öffentlichkeit der Krieg nähergebracht und die Voraussetzungen für eine breitere gesellschaftliche Mobilisierung geschaffen werden, schrieb das in Washington ansässige Institute for the Study of War (ISW) in seinem Bericht am Mittwoch. Mehrere Indizien deuteten darauf hin, dass der Angriff von innen geführt und gezielt inszeniert worden sei.

Ukraine steht vor Gegenoffensive

Die Ukraine hat wieder zahlreiche russische Drohnenangriffe gemeldet. Der Beginn einer ukrainischen Gegenoffensive steht im Raum.

Laut der US-Denkfabrik haben die russischen Behörden in letzter Zeit Schritte unternommen, um die Luftverteidigung zu verstärken, auch innerhalb Moskaus selbst. Es sei daher äußerst unwahrscheinlich, dass zwei Drohnen mehrere Luftverteidigungsringe hätten durchdringen und direkt über dem Herzen des Kremls detoniert oder abgeschossen werden können – und das laut Bericht auf eine Art und Weise, die von einer Kamera gut eingefangen werden konnte, um spektakuläre Bilder zu liefern.

Für die nahe Zukunft wird mit einer Frühjahrsoffensive der Ukraine gegen die russischen Invasionstruppen gerechnet. Verteidigungsminister Olexij Resnikow hatte kürzlich gesagt, die Vorbereitungen für die Gegenoffensive seien so gut wie abgeschlossen.