Hafen von Odessa
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Ukraine-Krieg

Mafia muss sich weltweit umstellen

Der russische Überfall auf die Ukraine hat auch eine in der Öffentlichkeit wenig beachtete, aber durchaus folgenreiche Auswirkung: Einer der wichtigsten Umschlagplätze des organisierten Verbrechens kam weitgehend zum Stillstand. Die eingespielte Zusammenarbeit zwischen russischer und ukrainischer Mafia funktioniert nicht mehr – mit Folgen für das organisierte Verbrechen auf der ganzen Welt.

Laut der NGO GI-TOC (Global Initiative Against Transnational Organized Crime – Globale Initiative gegen grenzüberschreitendes organisiertes Verbrechen) waren die Ukraine und Russland zusammen bis zum russischen Überfall auf die Ukraine das „größte kriminelle Ökosystem Europas“.

Die russischen und ukrainischen Mafia-Gruppen kontrollierten die einträglichen Schmuggelrouten zwischen Russland und Westeuropa, auf denen von Gold über Zigaretten, Holz, Kohle und Drogen bis hin zu Menschen alles geschmuggelt wurde. Die Schwarzmeer-Metropole Odessa war zudem ein wichtiger Umschlaghafen für Schmuggelware. Entsprechend groß war der politische und wirtschaftliche Einfluss proukrainischer wie prorussischer Oligarchen.

Wichtiger Umschlagplatz

Die 1794 von Russland gegründete Hafenstadt Odessa war für ihre multiethnische Zusammensetzung und die internationale Ausrichtung berühmt – und für Schmuggel. Das diesbezüglich wohl bekannteste literarische Stadtporträt verfasste Isaac Babel in den „Geschichten aus Odessa“.

Wichtige Heroin- und Kokainroute

Neben dem Balkan und dem Kaukasus war die Ukraine die wichtigste Route für Heroin aus Afghanistan nach Europa. Kokain aus Lateinamerika wurde vielfach via Schwarzmeer-Häfen angeliefert. Umgekehrt wurden Waffen von dort in Richtung Afrika und Asien verladen. In der Ukraine selbst boomte die Produktion von Amphetaminen und illegaler Tabakprodukte.

Nach der Maidan-Revolution 2014 und dem russischen Überfall auf die Krim und Teile der Ostukraine kam es in dem Land zu vermehrten Anstrengungen im Kampf gegen die Mafia und Korruption. Vor allem bei der Justizreform gab es aber vergleichsweise wenig Fortschritt. Der eingefrorene Konflikt im Donbas schuf laut GI-TOC zudem neue Geschäftszweige für Verbrechenssyndikate.

„Verräter zu sein ist etwas ganz anderes“

Der russische Überfall im Februar 2022 habe aber beim organisierten Verbrechen einen „schweren Schock“ ausgelöst, so GI-TOC in einem zuletzt vorgelegten Bericht. Die Kooperation zwischen russischen und ukrainischen Mafia-Gruppen wurde politisch für beide Seiten unmöglich. „Verbrecher zu sein ist das eine. Aber als Verräter zu gelten ist etwas ganz anderes“, zitierte das britische Wochenmagazin „Economist“ dazu den Experten Mark Galeotti. Zum selben Schluss kam auch das UNO-Institut für interregionale Kriminalitäts- und Justizforschung (UNICRI) Ende letzten Jahres.

Die Schwarzmeer-Häfen wurden geschlossen und sind es großteils heute noch. Die Fronten machen das Schmuggeln fast unmöglich. Dazu kommen nächtliche Ausgangssperren. Und die Mafia hat laut GI-TOC auch ein Personalproblem, da viele Männer zur Armee rekrutiert wurden. Viele Oligarchen verließen zudem bereits zu Kriegsbeginn das Land.

Alternative Routen aufgebaut

Die in Genf ansässige NGO warnt allerdings, die Verbrechenssyndikate hätten längst begonnen, alternative Routen aufzubauen: Estnische Behörden fingen etwa mit Hilfe von Europol in einem ihrer Häfen – in Muuga – im Vorjahr 3,5 Tonnen Kokain aus Lateinamerika ab. Der türkische Zoll berichtete über einen Anstieg von Heroin- und Amphetamintransporten aus dem Iran.

Und laut GI-TOC gibt es auch innerhalb der Ukraine Anzeichen für ein Wiedererstarken organisierter Kriminalität nach dem Schock der ersten Kriegsmonate. Die Schmugglertätigkeit habe sich stark in den Westen an die Grenze etwa zu Polen, der Slowakei und Moldawien verlagert. Und nicht zuletzt würden Soldaten an der Front mit synthetischen Drogen versorgt.

Laut UNICRI sind neue Geschäftsfelder der Transport kommerzieller Waren unter Vortäuschung humanitärer Hilfe und der Schmuggel von Mangelwaren wie Treibstoff aus Nachbarstaaten in die Ukraine. Geplünderte Ware wie Getreide würde ebenso gehandelt. Auch der Menschenhandel hat zugenommen – laut GI-TOC aber bisher weniger stark als befürchtet. Auch das Außerlandesbringen von Männern, die der Einberufung zur Armee entgehen wollen, ist ein neu entstandener Geschäftszweig.

Zwei große Anreize für Mafia

Angesichts des völlig offenen Ausgangs des Krieges sind Prognosen extrem schwierig. Zwei Probleme in der Ukraine liegen aber auf der Hand: die schlagartig gestiegenen Waffenbestände und die vielen Milliarden, die für den Wiederaufbau des Landes fließen werden. Beides dürfte Verbrecherkonglomerate anlocken – wenn nicht staatlicherseits die nötigen Gegenmaßnahmen gesetzt werden und Korruption in den Reihen von Politik und Behörden entsprechend strikt geahndet wird.

Die NGO fordert vor allem weitere durchgreifende Reformen, insbesondere in der Justiz und im Sicherheitsapparat. Der noch in sowjetischen Strukturen verharrende Geheimdienst SBU versuche gegenwärtige Erfolge in der Spionageabwehr bereits politisch dazu zu nutzen, um künftige Reformen und eine eventuelle Aufspaltung von vornherein zu verhindern. Entscheidend für den Erfolg von Reformen könnte hier der Druck der westlichen Alliierten werden: Denn die nötige finanzielle Unterstützung wird vor allem aus dem Westen kommen und mit Reformschritten verknüpft sein.

Russland: Engere Verbindungen mit Unterwelt

In Russland habe der Krieg bereits dazu geführt, dass die Verbindungen zwischen der Unterwelt und dem Staat enger geworden seien, so der Experte Galeotti laut „Economist“. Kriminelle würden teils für den Staat Geheimdiensttätigkeiten ausüben und etwa beim Umgehen von Sanktionen helfen, insbesondere den Import von Halbleitern organisieren.

Für die Ukraine könnte die durch den russischen Überfall erzwungene Abnabelung des Landes von Russland hingegen im besten Fall zu einer Chance werden, ähnliche oligarchische Strukturen dauerhaft aufzubrechen. UNICRI empfahl als Unterstützungsmaßnahmen konkret unter anderem den Aufbau mobiler grenzüberschreitender Einheiten an der EU-Ukraine-Grenze und eine engere Zusammenarbeit via Europol. Und vor allem fordert das UNO-Institut die Unterstützung bei und Überwachung von Reformen bei der Strafverfolgung.