Roter Teppich in Cannes
Festival du Cannes
Filmfestspiele Cannes

Nostalgie an der Croisette

Indiana Jones auf der Leinwand, Martin Scorsese auf dem roten Teppich und auf dem Plakat Catherine Deneuve: Die 76. Filmfestspiele von Cannes starten am Dienstagabend mit einem Programm, das alte Zeiten in Erinnerung ruft und mit Jessica Hausner auch eine österreichische Regisseurin geladen hat. Dass die Gegenwart kompliziert ist wie nie, will der künstlerische Leiter Thierry Fremaux vergessen machen.

Na gut, vielleicht war früher doch nicht alles besser. Als Jeanne Vaubernier, Geliebte des Grafen du Barry, am Hof König Ludwig XV. vorgestellt wird, lacht sie ihm trotz gegenteiliger Ermahnung geradewegs ins Gesicht. Ihre Stellung als seine Vorzugsmätresse ist ihr damit sicher, doch dass der König deswegen auch noch mit weiteren Damen ins Bett geht, kränkt sie dann doch, und politisch gefährlich wird die Liaison dann ohnehin.

„Jeanne du Barry“ mit Johnny Depp und unter der Regie von Maiwenn Le Besco eröffnet die diesjährigen Filmfestspiele von Cannes, und es ist ein Jahrgang, der auf den ersten Blick wie aus der Zeit gefallen wirkt: James Mangolds „Indiana Jones und das Rad des Schicksals“ weckt außerhalb des Wettbewerbs Bubenträume, Harrison Ford (80) bekommt in seinem fünften Auftritt als abenteuerlustiger Archäologe diesmal seine Patentochter Helena („Fleabag“-Star Phoebe Waller-Bridge) zur Seite gestellt.

Martin Scorsese (80) präsentiert sein Drama „Killers of the Flower Moon“ mit Leonardo DiCaprio, Robert De Niro und Brendan Fraser, der britische Arbeiterfilmer Ken Loach (86) ist mit seinem letzten Film „The Old Oak“ über ein Flüchtlingswohnheim im Wettbewerb, ebenso wie der erst 83-jährige Marco Bellocchio und sein Drama „Die Entführung“, Wim Wenders (77) mit einem lyrischen Drama um einen japanischen Kloputzer und die französische Regielegende Catherine Breillat (76) mit „L’ete dernier“, einem Liebesdrama zwischen einer Anwältin und ihrem 17-jährigen Stiefsohn.

Schaulaufen der alten Hasen

Zwischen all den alten Haudegen findet sich eine Handvoll Filme jüngerer Kolleginnen und Kollegen wie Todd Haynes, Aki Kaurismäki, Wes Anderson, Nanni Moretti und Catherine Corsini. Im Wettbewerb läuft außerdem Jessica Hausners provokantes Psychodrama „Club Zero“ um eine manipulative Lehrerin an einer Eliteschule mit der Australiern Mia Wasikowska in der Hauptrolle. Bis auf ein paar Ausnahmen, darunter eben Hausner, liest sich das Festivalprogramm, als wäre es vor 15 Jahren festgelegt worden.

Szene aus „CLUB ZERO“
coop99
In Jessica Hausners „Club Zero“ spielt Mia Wasikowska eine Lehrerin, die Böses will

Einen auffallenden Unterschied gibt es aber doch: Mit sieben Regisseurinnen sind so viele Filme von Frauen im Wettbewerb wie noch nie, neben Hausner, Corsini und Breillat auch Justine Triet, Alice Rohrwacher, die Tunesierin Kaouther Ben Hania und erstmals Ramata-Toulaye Sy, deren Film „Banel & Adama“ eine Koproduktion von Frankreich, Senegal und Mali ist.

Vielleicht ist das auch der Tatsache geschuldet, dass Fremaux seit diesem Jahr die Münchnerin Iris Knobloch als Präsidentin des Festivals an seiner Seite hat, die erste Frau an der Spitze des Festivals.

Deswegen sind manche Filme aber nicht weniger umstritten: Corsini etwa wird eine Verletzung der Sorgfaltspflicht gegenüber einer minderjährigen Darstellerin in einer Intimszene vorgeworfen, und Maiwenn, der Regisseurin des Eröffnungsfilms „Jeanne du Barry“, die selbst die Titelrolle spielt, hat, musste für die Besetzung von Depp nach seinem Verleumdungsprozess gegen seine Ex-Frau Amber Heard viel Kritik einstecken.

Schmutzwäsche und Galaroben

Auch bei den Dreharbeiten dürfte es wüst zugegangen sein, Depp und Maiwenn hätten einander Schreiduelle geliefert, berichtete ein Schauspielkollege vom Set. Doch das hinderte Cannes nicht daran, den Film einzuladen: An der Croisette mögen viele jenen Glamour, den Depp mitbringt, sein amerikanisches, kommerzielles Bad-Boy-Image.

Auch Maiwenn hat kürzlich Schlagzeilen gemacht, weil sie einen Journalisten bespuckt hatte, der sie zu ihrem früheren, unter Vergewaltigungsverdacht stehenden Ehemann Luc Besson befragen wollte. Französische Schmutzwäsche erfordert besonderes Fingerspitzengefühl. Implizit sendet dieser Eröffnungsfilm noch eine andere Botschaft, dass hier nämlich jene keine Deutungshoheit bekommen, die klare Kante gegen Machtmissbrauch und rücksichtsloses Benehmen fordern.

Widerstand formiert sich

Ein solcher Zugang ist jedoch besonders aus der Zeit gefallen, mehr denn je sind ausbeuterische Arbeitsbedingungen in der Branche Thema: In Hollywood ist der Writers’ Strike in vollem Gange, zahlreiche Filmschaffende, auch jene, die nicht selbst der Autorengewerkschaft angehören, haben sich solidarisiert und boykottieren Veranstaltungen und Preisverleihungen.

Fisher Stevens, Jeffrey Wright, Tony Revolori, und Bob Balaban in „ASTEROID CITY“
Pop. 87 Productions/Focus Features
Wes Andersons „Asteroid City“ sieht aus wie die Karikatur eines Wes-Anderson-Films

Es geht bei dem Streik nicht nur um faire Bezahlung, die speziell bei den Streaminganbietern ein großes Problem ist, sondern auch jenseits dessen um Arbeitsumstände wie etwa den Zugang zu Filmsets. Da mit Scorsese und Anderson zwei der prominentesten amerikanischen Filmschaffenden dieser Cannes-Ausgabe selbst Mitglieder in der Writers’ Guild sind, wird davon bestimmt auch an der Croisette die Rede sein.

Parallel ist die deutsche Filmbranche in Aufruhr, seit Til Schweiger am Set von „Manta Manta – zwoter Teil“ Fehlverhalten vorgeworfen wurde, was auch in Deutschland vor wenigen Wochen eine zornige Debatte über Arbeitsbedingungen losgetreten hatte.

All diese Entwicklungen sind auch im Kontext des Weinstein-Skandals zu sehen, in einem Klima, in dem sich ein Widerstand gegen Machtmissbrauch formiert hatte – das ist jetzt breit angekommen. Wie sich das auf Cannes auswirkt, die nobelste europäische Auslage des Welt- und vor allem auch US-Kinos, wird in den nächsten elf Tagen spannend zu beobachten. Die Preise werden am Abend des 27. Mai verliehen.