Direkt als bekannt wurde, dass Loreen, Song-Contest-Gewinnerin von 2012, heuer erneut im nationalen schwedischen Vorentscheid ins Rennen gehen würde, setzte sich das Land bei den Buchmachern auf Platz eins – und blieb dort bis zum Schluss auch angeheftet. Zwar sagen Wettquoten über die weitere Reihung der Beiträge oft recht wenig aus, beim Siegertitel ist die Trefferquote aber extrem hoch und lag in den vergangenen zehn Jahren immer richtig. Einzig Conchita Wursts Sieg 2014 ließ sich offenbar nicht prophezeien – sie rutschte erst nach dem gewonnenen Halbfinale in die Top Drei der Vorhersagen.
„Tattoo“ reiche nicht an „Euphoria“ heran, waren sich vorab zwar alle einig, dass die schwedische Popmaschine wieder einen handwerklich einwandfreien Beitrag und eine herausragende Künstlerin ins Rennen geschickt hat, stand aber ebenso außer Frage. Die gut geölte PR-Maschinerie tat ihr Übriges, und so war „Tattoo“ tatsächlich die einzige Nummer, die schon vor der Song-Contest-Woche in den internationalen Charts Topplatzierungen belegte. Damit geht ein Vielfaches an medialer Aufmerksamkeit und Airplay gegenüber den anderen Teilnehmerländern einher.
Schweden: Loreen – „Tattoo“
Jurys deutlich berechenbarer
Dass sich davon eher Jurys als Publikum beeinflussen lassen, zeigt sich daran, dass nicht Loreen, sondern der Finne Käärijä mit „Cha Cha Cha“ das Televoting klar gewonnen hätte. Seine enorme TikTok- und Instagram-Präsenz in den vergangenen Tagen brachten dem exaltierten Künstler und seiner wilden Show Aufmerksamkeit und offenkundig Sympathien. Nicht aus einem einzigen Land bekam Schweden von den Zuschauerinnen und Zuschauern zwölf Punkte. Umgekehrt sahen die Jurys auch Israels Noa Kirel mit „Unicorn“ und den Italiener Marco Mengoni mit „Due vite“ noch vor Finnland.
Finnland: Käärijä – „Cha Cha Cha“
Anfang vom Ende der Jurys?
Das Auseinanderklaffen von Jury- und Publikumswertung ist nicht neu und sorgt seit Jahren für Debatten. Während die jeweils fünf von den Sendern ausgewählten, nationalen Expertinnen und Experten gerne sehr klassische, radiotaugliche Songs bevorzugen, lässt sich das Publikum immer wieder auch auf Ausgefallenes ein.
Als Reaktion auf die anhaltende Kritik und im Versuch, den Bewerb spannender zu machen, wurden die Jurys heuer in den Halbfinal-Shows bereits abgeschafft. Im Finale unterschieden sich nun nicht nur bei Finnland die beiden Wertungen auffällig. Belgiens Sänger Gustaph etwa konnte beim Publikum wenig holen, wurde dank Jurys aber Siebter, ähnlich wie die Achtplatzierte Estin Alika mit der Ballade „Bridges“ auf Platz acht landete, die australische Band Voyager mit „Promise“ auf Platz neun.
Estland: Alika – „Bridges“
Große Breite, dünne Spitze
Wie jedes Jahr wird freilich auch heuer wieder über die Qualität des gesamten Song-Contest-Jahrgangs debattiert. Auffällig war jedenfalls die musikalische Breite des Felds: Die sonst in inflationären Massen auftretenden Genres (textil hochgerüstete Sängerinnen mit dramatischen Schmetterballaden, Danceliedchen im 08/15-Format etc.) waren diesmal angenehm dünn besetzt.
Umgekehrt war allerdings auch die Zahl der herausstechenden Acts mit wirklichen Chancen auf die vorderen Plätze stärker als sonst limitiert. Das lässt sich auch an den Voting-Ergebnissen ablesen: Nur sieben Acts bekamen vom Publikum mehr als 100 Punkte, acht waren es bei den Jurys. In den vergangenen Jahren waren diese Zahlen nicht übermäßig deutlich, aber doch signifikant höher. Und das lässt sich nicht nur durch das heuer etwas kleinere Starterfeld erklären.
Zielstrebiges Skandinavien
Mit Loreen und „Tattoo“ setzte sich ein Genre durch, das seit einigen Jahren immer Chancen auf den Sieg hat: radiotauglicher Pop, der nicht groß aneckt. Dafür ist Schweden auch der große Spezialist, nicht umsonst beliefern Songschreiberinnen und Songschreiber auch sämtliche US-Musikstars mit Liedern nach schwedischer Bauart. Und was dort nicht gebraucht wird, verhökert man an andere Song-Contest-Teilnehmerländer.
Eigene, nicht ganz unähnliche Strategien haben die skandinavischen Nachbarn Norwegen und Finnland entwickelt. Aus Norwegen kommen geviefte Produktionen wie Subwoofer im Vorjahr oder leicht trashige, aber sehr publikumswirksame Klischeeschleudern wie heuer Alessandra mit „Queen of Kings“. Finnland legt da traditionell noch einen Zacken Wahnsinn dazu, das geht zwar manchmal in die Hose, manchmal – und das zeigt das Beispiel Käärijä heuer – landet man aber auch einen Volltreffer.
Norwegen: Alessandra – „Queen of Kings“
Die drei skandinavischen Länder sowie Italien beweisen zudem von Jahr zu Jahr aufs Neue, dass sie auch das Ziel haben, den Bewerb zu gewinnen und die Austragung im Folgejahr in Kauf nehmen. Bei vielen anderen Ländern stellt sich die Frage, ob es pures Unvermögen ist oder sie mit angezogener Handbremse ins Abenteuer Song Contest gehen.
Maneskin-Effekt zu unprofessionell
Deutlich zu sehen war heuer auch ein verspäteter Maneskin-Effekt: Nach dem Sieg der Italiener 2021 schickten mehr Länder Bands nach Liverpool. Das mag der musikalischen Vielfalt gut getan haben, die jeweiligen Songs waren aber durchwegs nicht konkurrenzfähig. Es bleibt abzuwarten, ob da ein Lerneffekt eintritt oder in den nächsten Jahren nach dem Trial-and-Error-Prinzip Bands zu Hause bleiben müssen.
Dass sich erfolgreiche Titel aus den Vorjahren nicht einfach kopieren lassen, war auch heuer wieder deutlich. Traurige Männer wie der Gewinner von 2019, Duncan Laurence, kommen mit ihren Balladen mittlerweile ebenso wenig weit wie Ethnodance-Kracher.
Tanzen statt Singen
Apropos Dance: Gleich drei Teilnehmerinnen, Noa Kirel aus Israel, Blanka aus Polen und Brunette aus Armenien machten in ihren Performances Pause vom Singen und widmeten sich dafür einer recht langen Tanzeinlage. Im Falle Kirels wurde daraus eine beeindruckende Bodenturnübung, die eigentlich mehr hermachte als der gesungene Part. Vielleicht genau damit wurde sie Dritte, bei den Jurys müsste man aber vielleicht bei der Regelkunde ein bisschen nachschärfen. Es heißt ja schließlich Song Contest und nicht Dancing Stars.
Alleinstellungsmerkmale wirken
Dass mitunter ein einziger origineller Gedanke reicht, um herausstechen, sah man an Acts wie Serbien und Tschechien – auch wenn damit nicht sofort ein Spitzenplatz erreicht wird. Der Show an sich tat das gut. Highlight in dieser Hinsicht war die kroatische Band Let 3, die mit Rockkabarett und Politsatire für die knalligsten Minuten des Abends verantwortlich war – und zumindest vom Publikum dafür auch belohnt wurde.
Serbien: Luke Black – „Samo mi se spava“
Teya & Salena als Basis für die Zukunft
Genau das hätte man sich auch für die Österreicherinnen Teya & Salena wünschen können, die letztlich mit Platz 15 unter Wert geschlagen wurden. Und das ist die international vorherrschende Meinung und keine patriotische Schönfärberei. Ob es an der ungünstigen Startnummer eins gelegen hat, der schwachen Konkurrenz im Semifinale zwei oder, wie auch von manchen zu hören, den ausgefallenen Outfits: Das ist alles Makulatur.
Teya & Salena – „Who the Hell Is Edgar?“
Ihr Song „Who the Hell Is Edgar?“ sorgte zu Recht für reichlich Gesprächsstoff, die beiden boten eine sympathische und professionelle Show und waren vor allem selbst mit ihrer Leistung zufrieden. Mit Originalität ohne Peinlichkeit punkten zu wollen ist sicherlich der richtige Ansatz, mit dem man von heuer Lehren ziehen kann und an dem man in den nächsten Jahren anknüpfen sollte.
Deutsch-britische Leidensspirale
Noch größer wurde hingegen der deutsche Scherbenhaufen. Egal ob man es mit Klamauk wie 2021, einer eh soliden Radiopopnummer wie 2022 oder brachial mit ironiefreiem Provokatiönchen wie heuer versucht, das Ergebnis ist immer der gleiche letzte Platz. Auch die Reaktion kehrt jedes Jahr wieder: Man fühlt sich missverstanden. Deutschland muss wohl gut überlegen, um dieser Spirale zu entfliehen.
Deutschland: Lord Of The Lost – „Blood & Glitter“
Ganz ähnlich geht es Großbritannien, für die der zweite Platz von Sam Ryder im Vorjahr nur ein positiver Ausreißer war. Mae Muller leistete sich heuer grobe gesangliche Schnitzer, ihr Song wirkte anfangs zwar nett, entpuppte sich aber als zu billig.
Gefeierte Gastgeberländer
Ganz anders präsentierte sich Großbritannien, das als Vorjahreszweitplatzierter freiwillig die Austragung von der Ukraine übernommen hatte, in der Gastgeberrolle. Die Einbindung der Unkraine gelang vom Rahmenprogramm abseits des Bühnengeschehens bis zur gemeinsamen Moderation, ließ viel Raum für ukrainische Künstlerinnen und Künstler und sorgte auch abseits des Bewerbs für Gänsehautmomente und Überraschungen.
Den furiosen Auftakt zur Eröffnung machte das Kalush Orchestra mit einer Remix-Version ihres Siegerhits „Stefania“ und einer selten so enthusiastisch gesehenen Flaggenparade, begleitet von weiteren ehemaligen ukrainischen Song-Contest-Stars der vergangenen Jahre. Nächstes Jahr wird es für Schweden schwierig, den Britinnen und Briten das Wasser zu reichen, Bühne, Shows und Moderationsteam setzten sehr hohe Maßstäbe.
Kleines Haar in der Suppe
Wenn man Unstimmigkeiten im heurigen Bewerb sucht, dann wird man am ehesten bei der Veranstalterin, der European Broadcasting Union (EBU), fündig. Diese versucht den Bewerb für ein noch breiteres Publikum interessant zu machen – und setzt unter anderem auf einen Exklusivdeal mit der chinesischen Plattform TikTok.
Dafür wurden in der ersten Probewoche Bloggerinnen und Blogger sowie Medien ausgesperrt, nur per TikTok wurden Einblicke gewährt. Das sorgte auch bei den Teilnehmerländern, die das Spektakel ja mitfinanzieren, für Ärger. Und ob die TikTokisierung der Musik, die ohnehin schon jenseitige Ausmaße angenommen hat, ausgerechnet von öffentlich-rechtlicher Seite noch weiter angekurbelt werden sollte, ist sehr fragwürdig.