Person hält Wahlzettel in Hand
APA/AFP/Ozan Kose
Erdogan dürfte nötige Mehrheit fehlen

Türkei steuert auf Stichwahl zu

Nach 20 Jahren an der Macht muss sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan voraussichtlich erstmals einer Stichwahl stellen. Weder Erdogan noch sein Herausforderer Kemal Kilicdaroglu kamen bei der Wahl am Sonntag auf die erforderlichen 50 Prozent. Es sind allerdings noch nicht alle Stimmen ausgezählt. Im Parlament hielt Erdogans AKP gemeinsam mit einer Partnerpartei die absolute Mehrheit.

Beim Stand von rund 99 Prozent der ausgezählten Wahlurnen im Inland und über 80 Prozent im Ausland liege Erdogan bei 49,4 Prozent der Stimmen, sagte der Chef der Wahlbehörde, Ahmet Yener, Montagvormittag in Ankara. Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu kam laut den Angaben auf 44,96 Prozent. Damit kam es im Vergleich zum Auszählungsstand von 95 Prozent nur zu minimalen Verschiebungen zugunsten Kilicdaroglus. Beide verfehlten damit die absolute Mehrheit von 50 Prozent und müssen vermutlich am 28. Mai in eine Stichwahl gehen.

Weit abgeschlagen auf dem dritten Platz landete laut Wahlbehörde Sinan Ogan von der ultranationalistischen Ata-Allianz mit rund 5,2 Prozent. Dem Außenseiter könnte noch eine wichtige Rolle zukommen. Bei der Stichwahl wird wichtig sein, welche Wahlempfehlung er abgibt. Am Montag sagte Ogan, er werde sich nun mit seinen Anhängern beraten.

Der 69-jährige Erdogan sagte in der Wahlnacht vor Anhängern, es sei unklar, ob die Wahl im ersten Wahlgang ende. „Wenn sich unsere Nation für eine zweite Runde entschieden hat, ist das auch zu begrüßen“, sagte Erdogan und machte damit klar, dass er sich auch einer Stichwahl stellen würde. Er verwies darauf, dass die im Ausland abgegebenen Stimmen erst ausgezählt werden. Hier hatte er 2018 eine Mehrheit von 60 Prozent. Auch in Österreich war die Unterstützung in der Türkei Wahlberechtigter für Erdogan traditionell groß.

AKP-Allianz im Parlament hält Mehrheit

Die Wahlbehörde gab das Ergebnis der Parlamentswahl zunächst nicht bekannt. Es zeichnete sich jedoch ab, dass Erdogans Regierungsallianz ihre Mehrheit verteidigen konnte. Der Präsident hat seit der Einführung eines Präsidialsystems 2018 weitreichende Befugnisse, das Parlament mit seinen 600 Abgeordneten ist dagegen geschwächt.

Eine Grafik zeigt die vorläufige Mandatsverteilung nach der türkischen Parlamentswahl
Grafik: APA/ORF; Quelle: AA

Die Wahl galt als richtungsweisend. Es wird befürchtet, dass das NATO-Land unter weiteren fünf Jahren Erdogan noch autokratischer werden könnte. Der 74-jährige Kilicdaroglu ist Kandidat für ein breites Bündnis aus sechs Parteien. Er verspricht die Rückkehr zu einem parlamentarischen System sowie zur Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Auch international wurde die Wahl aufmerksam beobachtet. Eine neue Regierung hätte Auswirkungen auf Konflikte in der Region wie den Syrien-Krieg und auch auf das Verhältnis zur EU.

Ringen um Deutungshoheit am Wahlabend

Schon zu Beginn der Auszählung gab es Zweifel an den von der Staatsagentur Anadolu veröffentlichten Zahlen. Die oppositionellen Bürgermeister der Metropolen Istanbul und Ankara traten regelmäßig vor die Presse und beschuldigten die Regierung, die Werte von Erdogan zu schönen. Kilicdaroglu warf Erdogans AKP vor, die Auszählung in Hochburgen der Opposition mit Einsprüchen zu blockieren. Erdogan warf der Opposition wiederum „Raub des nationalen Willens“ vor.

Eine Grafik zeigt die Stimmanteile der türkischen Präsidentschaftskandidaten nach der ersten Wahlrunde
Grafik: APA/ORF; Quelle: Wahlbehörde

Auch wenn Erdogan in zwei Wochen noch immer gewinnen kann – für den 69-Jährigen ist das Ergebnis ein Rückschlag. In seinen 20 Jahren an der Macht hat er bisher jede landesweite Wahl gewonnen. 2003 wurde er zunächst Ministerpräsident, seit 2014 ist er Staatspräsident. Die Aura des Unbesiegbaren geht ihm durch diese Stichwahl verloren. Erdogan zeigte sich in der Nacht auf Montag dennoch gut gelaunt vor jubelnden Anhängern in Ankara und stimmte ein Lied an.

Opposition gibt sich zuversichtlich

Kilicdaroglu trat in der Nacht gemeinsam mit den Parteichefs seines Sechserbündnisses vor die Presse. „Erdogan hat trotz seiner Diffamierungen und Beleidigungen nicht das Ergebnis erreicht, das er sich erwartet hatte“, sagte er. Alle Seiten sehen sich nun mit einer vollkommen neuen Situation konfrontiert – es ist nicht nur die erste Stichwahl für Erdogan, sondern auch für Herausforderer Kilicdaroglu – und für die Bürger. Der Präsident wird erst seit 2014 direkt vom Volk gewählt.

ORF-Korrespondentin Wagner zur Türkei-Wahl

ZIB-Korrespondentin Katharina Wagner spricht unter anderem über den Streit über die Auszählungsergebnisse sowie darüber, ob es in zwei Wochen eine Stichwahl geben wird.

Parlamentsergebnis als wichtiger Faktor

Alle Augen richten sich auf die Große Nationalversammlung in Ankara. Erdogans islamisch-konservative AKP und ihr ultranationalistischer Partner MHP werden dort ihre absolute Mehrheit voraussichtlich halten können. Erdogan kann in dem Fall vor der Stichwahl mit der Gefahr einer Regierungskrise argumentieren. Und er machte das prompt schon in der Nacht auf Montag. Er sei sich sicher, dass die Wähler in einer Stichwahl „Sicherheit und Stabilität“ bevorzugten, sagte er.

Erdogan spielte darauf an, dass einander Parlament und Präsident theoretisch blockieren könnten, sollte die Mehrheit der Abgeordneten an die Regierungsallianz fallen, das Präsidentenamt aber an die Opposition oder umgekehrt. Zwar kann der Präsident ohne Zustimmung des Parlaments ein Dekret erlassen, verabschiedet das Parlament aber ein Gesetz zum selben Thema, würde das Dekret ungültig. Es kommen in jedem Fall schwierige zwei Wochen auf die Türkei zu. Die Landeswährung Lira könnte durch die unsichere Situation weiter an Wert verlieren.

Wahltag ohne Behinderungen

Der Wahlkampf stand auch im Zeichen des verheerenden Erdbebens vom 6. Februar in der Südosttürkei. Wie hoch die Wahlbeteiligung in den betroffenen Regionen war, wird sich am Ende der Auszählung zeigen. Die Wahl lief nach einer ersten Einschätzung der zuständigen Behörde ohne Probleme ab. Oppositionspolitiker meldeten kleinere Zwischenfälle aus verschiedene Provinzen.

Der Wahlkampf galt als unfair, auch wegen der medialen Übermacht der Regierung. Erdogan hatte die Opposition scharf attackiert und seinen Gegner etwa als „Säufer“ und „Terroristen“ bezeichnet. Die Opposition hielt mit einer positiven Kampagne dagegen. Auch vor der Stichwahl wird Erdogan auf die meisten Medien und die Regierungsmehrheit im Parlament bauen können.

Wer was verspricht

Erdogan wirbt vor allem mit Wahlgeschenken wie der Erhöhung von Beamtengehältern und Großprojekten in Infrastruktur und Rüstungsindustrie. Kilicdaroglu verspricht, Korruption und Inflation zu bekämpfen und das Land zu demokratisieren. In der Migrationsfrage schlägt er einen nationalistischen Ton an. Die rund 3,5 Millionen Flüchtlinge aus Syrien will er zurückschicken und das Flüchtlingsabkommen mit der EU neu verhandeln. Insgesamt waren rund 64 Millionen Menschen zur Stimmabgabe aufgerufen, davon rund 3,4 Millionen im Ausland.