Person nimmt Wahlkarten auf einer Box
Reuters/Hannah McKay
Türkei

Erdogan vor Stichwahl angezählt

In der Türkei stehen die Zeichen auf Wandel und vielleicht sogar einen Wechsel: Der bisherige Präsident Recep Tayyip Erdogan muss sich einer Stichwahl mit Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu stellen. Sollte Erdogan die Stichwahl für sich entscheiden, gilt er dennoch als deutlich angeschlagen und könnte entsprechend auch seine Politik ändern.

Zwei Wochen haben Erdogan und Kilicdaroglu Zeit, für die erste Stichwahl in der Türkei am 28. Mai Wähler und Wählerinnen für sich zu gewinnen, nachdem sie die absolute Mehrheit von 50 Prozent verfehlt haben. Entscheidend könnte sein, wie sich die Wählerschaft des Drittplatzierten Sinan Ogan von der ultranationalistischen Ata-Allianz verhält. Bisher ist offen, ob und welche Wahlempfehlung Ogan abgibt – und auch, ob Erdogan davon profitieren würde.

Erdogan und Kilicdaroglu trennen jedenfalls nur wenige Prozentpunkte: Erdogan erhielt im ersten Wahlgang 49,51 Prozent, teilte der Chef der Wahlbehörde mit, Kilicdaroglu 44,88 Prozent. Ogan kam auf 5,17 Prozent und liegt auf Platz drei. Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu meldete, laut Wahlbehörde sei die Wahlbeteiligung im Inland bei vorläufig 88,92 Prozent und im Ausland bei 52,69 gelegen. Von den wahlberechtigten Türkinnen und Türken in Österreich hätten nach Auszählung von 97,14 Prozent der Wahlurnen knapp 72 Prozent für Erdogan gestimmt.

Eine Grafiken zeigt regionale Mehrheiten für Recep Tayyip Erdogan und Kemal Kilicdaroglu nach der Präsidentschaftswahl in der Türkei
Grafik: ORF; Quelle: New York Times/www.sozcu.com.tr

Zu Beginn der Auszählung hatte Erdogan mit deutlich über 50 Prozent noch geführt, der Abstand zu Kilicdaroglu schmolz aber im Laufe des Abends zusehends. Gerade die Ballungsräume sowie die westlich gelegenen Provinzen und die Gebiete von Istanbul bis nach Antalya konnte Kilicdaroglu für sich gewinnnen, ebenso die Kurdengebiete im Osten und Südosten, während Erdogan in den ländlichen Gegenden punktete – darunter in acht von elf vom jüngsten Erdbeben betroffenen Provinzen.

Kritik an Wahlkampf und Abstimmung

Der Wahlkampf war auch im Zeichen des verheerenden Erdbebens vom 6. Februar in der Südosttürkei gestanden. Er galt als unfair, auch wegen der medialen Übermacht der Regierung. Erdogan attackierte die Opposition scharf und bezeichnete seinen Gegner etwa als „Säufer“ und „Terroristen“ – wohl auch wegen der Annäherung Kilicdaroglus an die prokurdische HDP. Die Opposition hielt mit einer positiven Kampagne dagegen.

Eine Grafik zeigt die Stimmanteile der türkischen Präsidentschaftskandidaten nach der ersten Wahlrunde
Grafik: APA/ORF; Quelle: Wahlbehörde

Auch die Abstimmung rief Kritik hervor, es gab zu Beginn Zweifel an den von der Staatsagentur Anadolu veröffentlichten Zahlen. Die oppositionellen Bürgermeister der Metropolen Istanbul und Ankara beschuldigten die Regierung, die Werte von Erdogan zu schönen. Kilicdaroglu warf Erdogans Partei AKP vor, die Auszählung in Hochburgen der Opposition mit Einsprüchen zu blockieren. Erdogan warf der Opposition wiederum „Raub des nationalen Willens“ vor.

Wahlbeobachter sahen jedenfalls Mängel bei den Abläufen. Die Türkei erfülle die Prinzipien einer demokratischen Wahl nicht, sagte Frank Schwabe (SPD), Leiter der Wahlbeobachtungsmission des Europarats, am Montag in Ankara. Bei der Stimmauszählung habe es an Transparenz gefehlt, hieß es von der Delegation. Die Wahlbehörde solle klarstellen, wie genau sie Wahlergebnisse veröffentliche. Der Behörde wird unterstellt, unter dem Einfluss der Regierung zu stehen.

Politologin Bilgin Ayata über die Türkei-Wahl

Die Politologin Bilgin Ayata spricht unter anderem über die Wahlen in der Türkei und ob die Stichwahl für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan eine Niederlage darstellt. Des Weiteren berichtet sie, warum die Wechselstimmung im Land so hoch war.

Erdogans Macht schwindet

Klar ist angesichts des Ergebnisses jedenfalls, dass Erdogan nach 20 Jahren an der Macht nicht mehr so sicher im Sattel sitzt, obwohl und womöglich auch gerade weil er die Türkei und seine Partei AKP politisch stark auf sich zugeschnitten hat. Seit er 2003 zunächst zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, hat Erdogan jede landesweite Wahl gewonnen. Seit 2014 – seit damals wird der Präsident direkt vom Volk gewählt – ist Erdogan Staatspräsident.

Kilicdaroglu, Kandidat für ein breites Bündnis aus sechs Parteien, versprach im Wahlkampf die Rückkehr zu einem parlamentarischen System, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und will Korruption und Inflation bekämpfen. In der Migrationsfrage schlägt er einen nationalistischen Ton an. Die rund 3,5 Millionen Syrien-Flüchtlinge will er zurückschicken und das Flüchtlingsabkommen mit der EU neu verhandeln. Erdogan wirbt vor allem mit Wahlgeschenken wie der Erhöhung von Beamtengehältern und Großprojekten in Infrastruktur und Rüstungsindustrie.

International wurde die Wahl jedenfalls aufmerksam beobachtet, auch wegen der Bedeutung des NATO-Lands für die Konflikte in der Region. Die Türkei gehört auch zu den weltweit 20 größten Wirtschaftsmächten. Das Land gewann zuletzt politisch stark an Bedeutung. Erdogan selbst ist einer der wichtigsten Verbündeten des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Der Kreml erklärte, auch in Zukunft mit der Türkei zusammenzuarbeiten, egal wer die Wahl gewinne. Unter türkischer Vermittlung kam das Getreideabkommen zwischen Russland und der Ukraine zustande.

Stabilität als Faktor in der Stichwahl?

In der zweiten Runde habe das Bündnis um Erdogan jedenfalls „numerische und psychologische Vorteile“, meinte Galip Dalay, Experte beim britischen Thinktank Chatham House. „Im Wahlkampf dürfte er vor allem das Thema Stabilität betonen, zumal sein Bündnis schon jetzt die Mehrheit im Parlament hat.“ Kilicdaroglu muss nach Einschätzung von Experten nun seine Strategie überarbeiten, um die Stimmen der Nationalisten zu gewinnen. Es wird damit gerechnet, dass sich die beiden Kandidaten in den kommenden Tagen mit Ogan treffen.

Erdogan muss sich Stichwahl stellen

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan muss sich einer Stichwahl stellen. Nach dem vorläufigen Endergebnis der Wahl hat kein Kandidat die absolute Mehrheit. Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu lag knapp hinter ihm. In der Türkei kritisierten am Montag Wahlbeobachterinnen und Wahlbeobachter den Urnengang.

Das Ergebnis der Parlamentswahl gab die Wahlbehörde zunächst nicht bekannt. Es zeichnete sich jedoch ab, dass Erdogans Regierungsallianz aus seiner islamisch-konservativen AKP und dem ultranationalistischen Partner MHP ihre Mehrheit verteidigen konnte. Der Präsident hat seit der Einführung eines Präsidialsystems 2018 weitreichende Befugnisse, das Parlament mit seinen 600 Abgeordneten ist dagegen geschwächt.

Sollte Kilicdaroglu bei einer Stichwahl gewinnen, könnten sich Parlament und Präsident theoretisch blockieren, was zu einer Regierungskrise führen könnte. Zwar kann der Präsident ohne Zustimmung des Parlaments ein Dekret erlassen, verabschiedet das Parlament aber ein Gesetz zum selben Thema, würde das Dekret ungültig. In Umfragen hatte Kilicdaroglu zwei bis zehn Prozentpunkte vor Erdogan gelegen.

Beide Seiten wollen kämpfen

In ihren ersten Reaktionen noch in der Nacht zeigten sich Erdogan und Kilicdaroglu jeweils siegesgewiss und kämpferisch. Der 69-jährige Erdogan stimmte vor seinen jubelnden Anhängern in Ankara ein Lied an. Der 74-jährige Kilicdaroglu trat gemeinsam mit den Parteichefs seines Sechserbündnisses vor die Presse. „Erdogan hat trotz seiner Diffamierungen und Beleidigungen nicht das Ergebnis erreicht, das er sich erwartet hatte“, sagte er. Am Montag hatten beide zunächst keine Termine.

Ogan machte am Montag unterdessen seine Unterstützung von einem Verzicht auf Zugeständnisse an Kurden abhängig. „Wir werden uns mit unserer Wählerbasis für unsere Entscheidung in der Stichwahl beraten“, sagte er am Montag der Nachrichtenagentur Reuters. „Aber wir haben bereits jetzt deutlich gemacht, dass der Kampf gegen Terrorismus und das Zurückschicken von Flüchtlingen unsere roten Linien sind.“

Die prokurdische Oppositionspartei HDP, die Kilicdaroglu bei der Präsidentenwahl unterstützt, zeigte sich enttäuscht. Die endgültigen Ergebnisse stünden noch nicht fest, „dennoch ist vollkommen klar, dass wir hinter unseren Zielen zurückliegen“, sagte Koparteichef Mithat Sancar. Er beklagte zudem Repressionen gegen seine Partei im Wahlkampf. Insgesamt waren rund 64 Millionen Menschen zur Stimmabgabe aufgerufen, davon rund 3,4 Millionen im Ausland.