der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko
APA/AFP/Mikhail Klimentyev
Belarus

Moskaus ungeliebter Handlanger

Belarus und dessen nicht demokratisch legitimierter Machthaber Alexander Lukaschenko gelten als wichtigste Verbündete des russischen Präsidenten Wladimir Putin im Ukraine-Krieg. Doch Lukaschenko ist in Moskau nicht unbedingt beliebt. Lieber hätte der Kreml offenbar die Hand direkt auf Belarus – ohne den Handlanger Lukaschenko. Ein weiterer Schritt zum versuchten „russischen Imperium“ ist neben dem Ukraine-Krieg auch die Stationierung russischer Atomwaffen in Belarus.

Der ehemalige sowjetische Geheimagent Putin und der als „letzter Diktator Europas“ bezeichnete Lukaschenko sind alte Rivalen aus der Zeit des Zerfalls der Sowjetunion, den beide jeweils bedauern.

Der ehemalige Verwalter einer Kolchose und Ex-Politoffizier in der Roten Armee Lukaschenko wollte Mitte der 1990er Jahren – in der Ära des ersten russischen Präsidenten Boris Jelzin – Präsident einer Union zwischen Belarus und Russland werden.

der russische Präsident Wladimir Putin und der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko
AP/Vladimir Smirnov
Den russische Präsidenten Wladimir Putin verbindet mit dem belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko eine jahrzehntelange Beziehung

Keine „Diskussion“ über gemeinsame politische Linie

Mit der Ablöse Jelzins und dem Machtantritt Putins in Russland gab Lukaschenko diese Pläne allerdings wegen geplatzter Erfolgschancen auf, wie die Website Treffpunkt Europa vor geraumer Zeit schrieb. Der kleinere Partner Belarus hätte sich damit auch zu einem gewichtigen Machtfaktor in Russland gemacht. Nun ist die Situation seit längerer Zeit umgekehrt.

Trotz Kooperation will der Kreml mit Lukaschenko nicht über eine gemeinsame politische Linie „diskutieren“. Lukaschenko soll einfach den Willen Moskaus ausführen, dafür werden er und Belarus unterstützt, so das Credo.

Experten sehen reale Chancen für Annexion

Ein Steinchen, um Russland wieder zu neuer imaginierter imperialer bzw. sowjetischer Größe zu führen und damit die Zeit zurückzudrehen, ist neben der Ukraine auch Belarus. Internationale Politikbeobachter und -beobachterinnen schätzen die Möglichkeit eines Anschlusses bzw. einer Annektion von Belarus an Russland als durchaus real ein.

Russlands Möglichkeiten, sich Belarus einzuverleiben, sind in der Praxis allerdings begrenzt. So gilt eine formelle Annexion Belarus durch Russland als unwahrscheinlich, denn sie wäre teuer und aufwendig, wie die in London ansässige Website Emerging Europe schreibt.

Dazu kommt die Stimmung in der Bevölkerung, Widerstand bis hin zu einem Aufstand wäre möglich, heißt es bei Emerging Europe weiter. Bei der letzten international nicht anerkannten Wahl wurde die russlandtreue Politik Lukaschenkos abgewählt und bekam eigentlich die proeuropäische Opposition mit ihrer Kandidatin Swetlana Tichanowskaja die meisten Stimmen.

die belarussische Oppositionsführerin Svetlana Tichanowskaja
AP/Alastair Grant
Die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja

„Marionette Moskaus“ als Nachfolger möglich

Viel wahrscheinlicher ist allerdings, dass Moskau einen Verbündeten, eine Marionette als Präsidenten installieren würde, so Emerging Europe. Solle es dabei zu Massendemonstrationen und Rufen nach mehr Demokratie bzw. demokratischen Wahlen kommen, würden zuerst die belarussischen Sicherheitsorgane für die Niederschlagung wie bereits 2020 zuständig sein.

Sollte das nicht gelingen, würde Russland den Unionsvertrag als „rechtliche Grundlage“ heranziehen und „Hilfe“ für den neuen Verbündeten, die neue Marionette, schicken, so Emerging Europe.

Vieles von Armee und Sicherheitsdienst abhängig

Laut dem Artikel wäre dann die Haltung der belarussischen Militär- und Sicherheitsdienste von entscheidender Bedeutung. Und da gibt es viele Fragezeichen. So könnte der belarussische Sicherheitsdienst versuchen, das Regime Lukaschenkos selbst fortzusetzen und damit einen letzten kleinen Teil an belarussischer Autonomie noch hochzuhalten.

Unklar ist auch, wie sich die Armee, die sich nie gegen Lukaschenko ausgesprochen hat, aber sich auch nicht der russischen Invasion in der Ukraine angeschlossen hat, verhalten würde, heißt es weiter bei Emerging Europe. Sie könnte eine friedliche russische Übernahme bzw. auch eine friedliche Besetzung durch russische Truppen unterstützen oder auch nicht.

Abhängigkeit seit 2020 gestiegen

Unmöglich scheint laut Emerging Europe ein Einmarsch russischer Kampftruppen. Gerade in Zeiten des russischen Angriffskrieges in der Ukraine fehlt der russischen Armee das nötige auch ausgerüstete und ausgebildete Armeekontingent dazu. Auch wäre Belarus als Flächenstaat schwer zu besetzen. Ein Einmarsch mit Kampftruppen würde wohl auch einen weiteren Krieg auslösen – eine Gefahr, in die sich Moskau nicht bringen will, heißt es in dem Artikel weiter.

Demonstrtion am Hauptplatz in Minsk, August 2020
Reuters/Vasily Fedosenko
Eine friedliche Demonstration gegen Lukaschenko auf dem Hauptplatz der belarussischen Hauptstadt Minsk im August 2020

Seit der umstrittenen Präsidentenwahl 2020, bei der sich Lukaschenko ohne Anerkennung im Westen zum Sieger erklärte, geriet Minsk zunehmend in Abhängigkeit von Moskau. Inzwischen ist Belarus international fast völlig isoliert und finanziell, aber auch militärisch auf Russland angewiesen.

Belarus hing bereits zuvor traditionell am Tropf Russlands. Wegen der Sanktionen der EU und der USA gegen den Machtapparat von Lukaschenko ist die Ex-Sowjetrepublik mehr denn je auf finanzielle Hilfe Russlands angewiesen. Nach dem Einmarsch in der Ukraine wurden allerdings auch die finanziellen und wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland verstärkt.

Russische Truppen könnten in Belarus bleiben

Russland stationierte auch vor dem Einmarsch in der Ukraine Truppen in Belarus. Es wird von Fachleuten erwartet, dass der Kreml nach Beendigung bzw. „Abflauen“ des Krieges mit der Ukraine die russischen Truppen in Belarus nicht abziehen wird, sondern dass diese weiter stationiert bleiben.

Ein weiterer Hinweis darauf ist auch, dass in Belarus russische Atomwaffen installiert werden. Lukaschenko hatte erst kürzlich in Moskau nach einem Treffen mit Putin gesagt, dass die angekündigte Verlegung der Waffen in das Land bereits begonnen habe.

Atomwaffen als weiterer russischer Baustein

Aus Sicht des US-Instituts für Kriegsstudien (ISW) ergibt sich daraus allerdings keine erhöhte Bedrohungslage, weil die Atommacht Russland schon jetzt mit ihren Nuklearwaffen Ziele überall erreichen könnte. Nach Angaben Moskaus sollen die taktischen Atomwaffen, die eine geringere Reichweite haben als strategische Nuklearraketen, an der Grenze zu Polen stationiert werden.

Die ISW-Experten sehen die Stationierung der Waffen vor allem als einen Weg Russlands, seinen Einfluss in dem Nachbarland weiter auszubauen. Durch die neuen Waffen sei ein Ausbau der militärischen Infrastruktur und der russischen Kommandostrukturen dort notwendig. Die Atomwaffen blieben unter russischer Kontrolle. Der Kreml beabsichtige auf diese Weise, sich die Sicherheitsstrukturen in Belarus weiter unterzuordnen.

Lukaschenko ließ Verfassung ändern

Putin begründete die Stationierung Ende März auch damit, dass die USA seit Jahren Atomwaffen in Europa, darunter auch in Deutschland, vorhielten. Belarus erhält nach der freiwilligen Abgabe seiner Atomwaffen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nun erstmals seit den 1990ern Jahren wieder nukleare Raketen.

Dazu hatte Lukaschenko auch die Verfassung ändern lassen, in der nun kein atomwaffenfreier Status mehr festgeschrieben ist. Die Bunker für die Lagerung der Atomsprengköpfe sollen am 1. Juli fertig gebaut sein. Die Waffen sollen an der Grenze zu Polen stationiert werden. Russland behält nach eigenen Angaben die Kontrolle über die Atomwaffen.

Aufregung über Geheimpapier

Bei all diesen immer weiter führenden Verflechtungen zwischen Russland und Belarus wundert denn auch nicht die Aufregung über ein russische Geheimpapier zu einer Übernahme von Belarus, das Ende Februar bekanntwurde. Den Medienbericht zufolge hat der Kreml offenbar Pläne für eine schrittweise Übernahme seines Nachbarn Belarus bis zum Jahr 2030. Das legt ein Dokument aus der Moskauer Präsidialverwaltung nahe, über das die „Süddeutsche Zeitung“ berichtete und das gemeinsam mit dem WDR, dem NDR und neun weiteren Medien ausgewertet worden sei.

Laut dem Dokument soll Belarus offenbar politisch, wirtschaftlich und militärisch unterwandert werden. Ziel wäre ein gemeinsamer Unionsstaat unter russischer Führung, wie die Zeitung unter Berufung auf das Dokument berichtete.

Einfluss soll noch weiter ausgedehnt werden

Das interne 17-seitige Kreml-Dokument mit dem Titel „Strategische Ziele der russischen Föderation in Belarus“ stammt offenbar aus dem Sommer 2021. Darin werden laut dem Bericht die strategischen Ziele Russlands in Belarus in den Bereichen Politik/Verteidigung, Handel und Ökonomie sowie Gesellschaft aufgelistet und in kurzfristig (bis 2022), mittelfristig (bis 2025) und langfristig (2030) unterteilt.

Das strategische Ziel Moskaus ist dem Papier zufolge unter anderem „die Sicherstellung des vorherrschenden Einflusses der Russischen Föderation in den Bereichen Gesellschaftspolitik, Handel, Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung und Kultur“.

Westliche Sicherheitskreise halten das Papier laut der „Süddeutschen Zeitung“ für authentisch. Das Strategiepapier sei als Teil eines größeren Plans von Putin zu sehen: der Schaffung eines neuen großrussischen Reichs.

Demo in Minsk im August 2020
AP
Monatelange Massenproteste gegen die Wiederwahl Lukaschenkos 2020 wurden mit Gewalt niederschlagen

Auch Opposition hat Pläne

Neben Russland macht sich auch die belarussische Opposition unter Tichanowskaja so ihre Gedanken, wie ein Machtwechsel – in diesem Fall ein demokratischer – gelingen könnte. Die nun im Exil lebende Tichanowskaja war im Sommer 2020 bei der Präsidentschaftswahl in der ehemaligen Sowjetrepublik gegen Lukaschenko angetreten. Sie sprang dabei für ihren Mann ein, den Blogger Sergej Tichanowski. Dieser war nach Bekanntgabe seiner Kandidatur vom Regime festgenommen worden; Ende 2021 wurde er wegen der „Vorbereitung und Organisation von Massenaufständen“ zu 18 Jahren Straflager verurteilt.

Nach Lukaschenkos vom Westen nicht anerkannter angeblicher Wiederwahl prangerte Tichanowskaja Wahlfälschung an und reklamierte den Sieg für sich. Massenproteste nach der Wahl ließ der autoritär regierende Staatschef gewaltsam und brutal niederschlagen. Tausende Menschen wurden festgenommen bzw. flohen ins Ausland.

Unterstützung von Polen benötigt

Laut Alexander Dabrawolski, einem Berater von Tichanowskaja, hat die Opposition mehrere Aktionspläne, sollte Lukaschenko plötzlich versterben oder handlungsunfähig werden, ausgearbeitet. „Wir müssen Kontakt zu denen aufnehmen, die in Belarus kampfbereit sind, wir müssen Kontakt zu denen aufnehmen, die versuchen, Veränderungen herbeizuführen, zu Politikern“, so Dabrawolski laut Emerging Europe.

Natürlich müsse man über eine Neuwahl nachdenken, „wie wir eine mehr oder weniger stabile Wirtschaft gewährleisten und uns vor jeglichem Revanchismus schützen können“, so der Oppositionelle. Damit man allerdings erfolgreich sein könne, benötigt die belarussische Opposition die Unterstützung ihrer Verbündeten, insbesondere Polens, das an Weißrussland grenzt, so Dabrawolski.

Polen, das Millionen von Vertriebenen aus der Ukraine aufgenommen und integriert hat, dürfte eine weitere Flüchtlingswelle aus Weißrussland nicht so gut bewältigen können, sollte es in Belarus zu Chaos kommen.

Rüsten für alle Eventualitäten gefordert

In der polnischen Ausgabe des US-Magazins „Newsweek“ forderte denn auch kürzlich der Politologe Jacek Pawlicki den polnischen Präsidenten Andrzej Duda, auf sicherzustellen, dass das Land einen einheitlichen Plan für alle Eventualitäten in Belarus hat.

„Es lohnt sich, die Opposition jetzt in all das einzubeziehen – ein demokratisches und stabiles Belarus liegt im Interesse aller politischen Kräfte (in Polen, Anm.)“, schrieb er. Auch die EU sollte Notfallpläne erstellen. Ein demokratisches und stabiles Belarus liege auch im Interesse der EU.

Hoffen auf friedlichen demokratischen Machtwechsel

Es sollte zumindest sichergestellt werden, dass Kommunikationswege mit den belarussischen Streitkräften, hochrangigen Diplomaten und Beamten vorhanden seien und dass öffentliche Unterstützungsbekundungen für die territoriale Integrität des Landes abgegeben würden, schrieb Pawlicki weiter.

Dann sollten Anreize für einen friedlichen, demokratischen Machtwechsel geschaffen werden. Politische Gefangene sollten im Austausch für die Aufhebung einiger Sanktionen freigelassen werden, mit der Zusicherung, dass andere aufgehoben würden, sobald eine freie und faire Wahl des Nachfolgers Lukaschenkos stattgefunden hat, so Pawlicki.