Er selbst bezeichnete es im Vorjahr als eine große Ehre, von jedem amtierenden US-Präsidenten seit Nixon – mit Ausnahme von Amtsinhaber Joe Biden – offiziell zu Gesprächen und Diskussionen über Außenpolitik ins Weiße Haus geladen worden zu sein. Dazu kommen weitere offizielle und etliche inoffizielle Treffen – gleich mehrmals traf sich Kissinger etwa mit Bidens Vorgängern Barack Obama und Donald Trump.
Wann Biden die Liste von Kissingers offiziellen Besuchen im Weißen Haus vervollständigt, bleibt offen – die Wege der beiden kreuzten sich aber ohnehin schon mehrfach. Dafür reicht ein Blick auf deren tragende Rolle in der US-Außenpolitik, aber auch auf das freundschaftlich anmutende Verhältnis, das Kissinger und Biden bis heute offenbar verbindet.
Es erscheint somit naheliegend, dass Kissinger dem Weißen Haus auch unter Biden beratend zur Seite steht. Wie die in Washington erscheinende Zeitung „The Hill“ (Onlineausgabe) kurz nach der US-Wahl 2020 schrieb, habe Kissinger auch „seinem neunten Präsidenten“ schon „Nachhilfe in Sachen China-Politik“ erteilt.
Von Krisen der Welt geprägtes Leben
Angefangen mit der Flucht seiner Familie aus Nazi-Deutschland, als er 15 Jahre alt war, sei Kissingers Leben bis heute von den großen Krisen und Bedrohungen der Welt geprägt, heißt es dazu beim „Handelsblatt“. Das umfasst mit künstlicher Intelligenz auch ein Thema, von dem er nach eigenen Worten mittlerweile „besessen“ sei.
Aufhorchen ließ Kissinger schließlich auch immer wieder in Sachen Ukraine – zuletzt etwa mit der Aussage, laut der er die Schuld am Krieg nicht allein bei Russland sehe. Im Interview mit der „Zeit“ bezeichnete Kissinger die vor Jahren erfolgte „Einladung“ der Ukraine zu einem NATO-Beitritt als folgenschweren Fehler – mittlerweile sei er aber „absolut dafür, die Ukraine nach dem Ende des Krieges in die NATO aufzunehmen“.
„Hass und Verehrung, Ablehnung und Ehrfurcht“
Was den weiteren Kriegsverlauf betrifft, rechnet Kissinger mit einem noch heuer anlaufenden Verhandlungsprozess – und wie er über US-Medien mitteilte, würde er bei einem Anruf vom Weißen Haus auch mit 100 Jahren seine Dienste nicht verweigern. „Ich wäre geneigt, es zu tun, ja“, sagte Kissinger bei einem Interview mit dem US-Sender CBS auf die Frage, ob er nach Moskau fliegen und mit Russlands Präsident Wladimir Putin sprechen würde, sollte Biden danach fragen.
Abseits des Kissinger seit Jahrzehnten zugesprochenem geopolitischen Gewichts scheidet einer der wohl bekanntesten Diplomaten der US-Geschichte bis heute die Geister. Für die einen ist Kissinger ein herausragender Realpolitiker und Staatsmann, auf den man weiter hören sollte – für die anderen ein zynischer Machttaktiker, der ruchlos US-Interessen durchsetzte, dabei Menschenrechte missachtete und von seinen schärfsten Gegnern auch als Kriegsverbrecher bezeichnet wurde und wird.
„Auch lange nach dem Ende seiner Amtszeit entzünden sich an Kissinger kontroverse Meinungen“, urteilt sein Biograf Walter Isaacson. „Hass und Verehrung, Ablehnung und Ehrfurcht, dazwischen liegt nicht allzu viel neutrales Territorium.“
Zusammen mit Nixon bei Kreisky
Kissinger trieb eine Entspannung der Beziehungen zum Erzrivalen Sowjetunion voran und war maßgeblich an der Entstehung des Rüstungskontrollvertrags „SALT I“ im Jahr 1972 beteiligt. Er leitete auch eine vorsichtige Annäherung an das kommunistisch regierte China ein. Berühmt ist Kissinger zudem für seine „Shuttle-Diplomatie“ im Nahost-Konflikt, in dem er mit einer Vielzahl von Reisen vermittelte. Gleich mehrmals war er in zu Besuch in Österreich – 1972 wurde er zusammen mit Nixon etwa vom damaligen Kanzler Bruno Kreisky in Salzburg empfangen.

Ein Jahr später wurde er zusammen mit dem nordvietnamesischen Chefunterhändler Le Duc Tho auch für ein Waffenstillstandsabkommen im Vietnam-Krieg mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Tho lehnte die Ehrung ab, weil der Krieg trotz des Abkommens weiterging. Kissinger selbst wollte den Preis später zurückgeben.
Neue Enthüllungen über Rolle in Kambodscha
Ohnehin steht Kissinger für seine Rolle im Vietnam-Krieg in der Kritik, unter anderem mit Blick auf die Bombardierung der Nachbarländer Laos und Kambodscha. Neue Vorwürfe gegen Kissinger dazu kamen zuletzt vom US-Aufdeckerportal The Intercept. Kissinger sei demzufolge nicht nur „Architekt der amerikanischen Bombardierung Kambodschas von 1969 bis 1973 und ein Befürworter der Invasion von 1970“ – auch die bisher mit 50.000 bezifferte Zahl ziviler Todesopfer sei womöglich dreimal so hoch.
Auch abseits des Vietnam-Krieges ist die Liste der Vorwürfe lang. Kissinger wurde für die Mitverantwortung der USA beim Pinochet-Putsch in Chile 1973 scharf kritisiert. Er ignorierte von Pakistan während des Bangladesch-Kriegs 1971 begangene Massaker und billigte Indonesiens blutigen Einmarsch in Osttimor 1975. Nach den Worten von CNN sei es zum 100. Geburtstag auch „angebracht, auf sein Erbe zurückzublicken und zu untersuchen, wie er die Welt, die ihm als Leinwand diente, beeinflusst hat – zum Guten oder gelegentlich auch zum Schlechten“.