Der ehemalige US-Außenminister Henry A. Kissinger
AP/Jim Davidson
Von Nixon bis Biden

Kissingers tiefe Spur durch die US-Diplomatie

Bevor er vom 1968 zum US-Präsidenten gewählten Richard Nixon als Nationaler Sicherheitsberater ins Weiße Haus geholt und wenig später Außenminister wurde, hat er auch Nixons Vorgänger John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson beraten – und sein Wort hat in Washington bis heute Gewicht: Henry Kissinger, der am Samstag seinen 100. Geburtstag feiert, ist eine seit Jahrzehnten prägende, kontroverse Figur der US-Diplomatie.

Er selbst bezeichnete es im Vorjahr als eine große Ehre, von jedem amtierenden US-Präsidenten seit Nixon – mit Ausnahme von Amtsinhaber Joe Biden – offiziell zu Gesprächen und Diskussionen über Außenpolitik ins Weiße Haus geladen worden zu sein. Dazu kommen weitere offizielle und etliche inoffizielle Treffen – gleich mehrmals traf sich Kissinger etwa mit Bidens Vorgängern Barack Obama und Donald Trump.

Wann Biden die Liste von Kissingers offiziellen Besuchen im Weißen Haus vervollständigt, bleibt offen – die Wege der beiden kreuzten sich aber ohnehin schon mehrfach. Dafür reicht ein Blick auf deren tragende Rolle in der US-Außenpolitik, aber auch auf das freundschaftlich anmutende Verhältnis, das Kissinger und Biden bis heute offenbar verbindet.

Es erscheint somit naheliegend, dass Kissinger dem Weißen Haus auch unter Biden beratend zur Seite steht. Wie die in Washington erscheinende Zeitung „The Hill“ (Onlineausgabe) kurz nach der US-Wahl 2020 schrieb, habe Kissinger auch „seinem neunten Präsidenten“ schon „Nachhilfe in Sachen China-Politik“ erteilt.

Fotostrecke mit 9 Bildern

Der ehemalige US-Präsident Richard Nixon (1969 bis 1974) mit Henry A. Kissinger im Gespräch 1972
picturedesk.com/dpa Picture Alliance/CNP
US-Präsident Richard Nixon holte Kissinger zunächst als Nationalen Sicherheitsberater ins Weiße Haus – später wurde Kissinger US-Außenminister
Die Reisen des Präsidentenberaters Henry A. Kissinger 1973
AP
Kissinger galt als Außenminister als „Mann der vielen Missionen“ und prägte bei seinen Vermittlungen in Nahost etwa den Begriff „Shuttle-Diplomatie“
Henry Kissinger im Oktober 1973, nachdem er erfahren hat, dass er den Nobelpreis gewonnen hat
picturedesk.com/AP/JD
Für seine Rolle bei der Vermittlung für einen Friedensvertrag wurde Kissinger 1973 – zusammen mit Nordvietnams Unterhändler Le Duc Tho – für den Friedensnobelpreis nominiert
Henry A. Kissinger, Berater für Außen- und Sicherheitspolitik 1971
AP
Neben seinen außenpolitischen Erfolgen gibt es eine ganze Liste an Kriegen und Krisen, in denen Kissinger eine zweifelhafte Rolle zugesprochen wird – darunter etwa Pinochets Machtergreifung in Chile und die US-Bombardements in Kambodscha
Princess Diana and Henry Kissinger in New York 1995
picturedesk.com/Camera Press/Rota
Während seiner Zeit als US-Außenminister stand Kissinger im Rampenlicht – unter anderem auch dank prominenter Besuche: 1995 empfing er in New York etwa Lady Di
Der russische Präsident Wladimir Putin im Gespräch mit dem ehemaligen US-Außenminister Henry Kissinger bei einem Treffen in Moskau im Juli 2001
Reuters
Auch lange nach seiner aktiven Laufbahn war Kissinger, wie 2001 beim russischen Präsidenten Wladimir Putin, weltweit bei Staats- und Regierungschefs ein geschätzter Gast
Der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger beim damaligen US-Präsidenten Donald Trump im Mai 2017
Reuters/Kevin Lamarque
Kissinger wurde – mit Ausnahme von Amtsinhaber Joe Biden – seit Nixon von allen US-Präsidenten zu einem offiziellen Besuch ins Weiße Haus geladen (im Bild im Mai 2017 mit Donald Trump)
Der damalige US-Vizepräsident Joe Biden begrüßt Henry Kissinger bei der Sicherheitskonferenz in München 2009
Reuters
Die Wege von Biden und Kissinger kreuzen sich seit Jahrzehnten – unter anderem 2009 bei der Münchner Sicherheitskonferenz
Henry Kissinger im Februar 2023 zum Gedenken an den 112. Geburtstag von Ronald Reagan in Simi Valley (Kalifornien)
IMAGO/ZUMA Wire/Brian Cahn
Obwohl gesundheitlich angeschlagen, will Kissinger von Ruhestand auch weiter nichts wissen und hielt etwa im Februar eine Rede anlässlich Ronald Reagans 112. Geburtstag

Von Krisen der Welt geprägtes Leben

Angefangen mit der Flucht seiner Familie aus Nazi-Deutschland, als er 15 Jahre alt war, sei Kissingers Leben bis heute von den großen Krisen und Bedrohungen der Welt geprägt, heißt es dazu beim „Handelsblatt“. Das umfasst mit künstlicher Intelligenz auch ein Thema, von dem er nach eigenen Worten mittlerweile „besessen“ sei.

Aufhorchen ließ Kissinger schließlich auch immer wieder in Sachen Ukraine – zuletzt etwa mit der Aussage, laut der er die Schuld am Krieg nicht allein bei Russland sehe. Im Interview mit der „Zeit“ bezeichnete Kissinger die vor Jahren erfolgte „Einladung“ der Ukraine zu einem NATO-Beitritt als folgenschweren Fehler – mittlerweile sei er aber „absolut dafür, die Ukraine nach dem Ende des Krieges in die NATO aufzunehmen“.

„Hass und Verehrung, Ablehnung und Ehrfurcht“

Was den weiteren Kriegsverlauf betrifft, rechnet Kissinger mit einem noch heuer anlaufenden Verhandlungsprozess – und wie er über US-Medien mitteilte, würde er bei einem Anruf vom Weißen Haus auch mit 100 Jahren seine Dienste nicht verweigern. „Ich wäre geneigt, es zu tun, ja“, sagte Kissinger bei einem Interview mit dem US-Sender CBS auf die Frage, ob er nach Moskau fliegen und mit Russlands Präsident Wladimir Putin sprechen würde, sollte Biden danach fragen.

Abseits des Kissinger seit Jahrzehnten zugesprochenem geopolitischen Gewichts scheidet einer der wohl bekanntesten Diplomaten der US-Geschichte bis heute die Geister. Für die einen ist Kissinger ein herausragender Realpolitiker und Staatsmann, auf den man weiter hören sollte – für die anderen ein zynischer Machttaktiker, der ruchlos US-Interessen durchsetzte, dabei Menschenrechte missachtete und von seinen schärfsten Gegnern auch als Kriegsverbrecher bezeichnet wurde und wird.

„Auch lange nach dem Ende seiner Amtszeit entzünden sich an Kissinger kontroverse Meinungen“, urteilt sein Biograf Walter Isaacson. „Hass und Verehrung, Ablehnung und Ehrfurcht, dazwischen liegt nicht allzu viel neutrales Territorium.“

Mit Nixon bei Kreisky

Kissinger trieb eine Entspannung der Beziehungen zum Erzrivalen Sowjetunion voran und war maßgeblich an der Entstehung des Rüstungskontrollvertrags „SALT I“ im Jahr 1972 beteiligt. Er leitete auch eine vorsichtige Annäherung an das kommunistisch regierte China ein. Berühmt ist Kissinger zudem für seine „Shuttle-Diplomatie“ im Nahost-Konflikt, in dem er mit einer Vielzahl von Reisen vermittelte. Gleich mehrmals war er zu Besuch in Österreich – 1972 und 1974 wurde er zusammen mit Nixon etwa vom damaligen Kanzler Bruno Kreisky jeweils in Salzburg empfangen.

V.l.: Henry Kissinger, US-Präsident Richard Nixon und der damalige Bundeskanzler Bruno Kreisky in Schloss Kleßheim in Salzburg 1972
picturedesk.com/brandstaetter images/Votava
1972 war Kissinger zusammen mit Nixon bei Kreisky zu Besuch in Salzburg

Ein Jahr später wurde er zusammen mit dem nordvietnamesischen Chefunterhändler Le Duc Tho auch für ein Waffenstillstandsabkommen im Vietnam-Krieg mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Tho lehnte die Ehrung ab, weil der Krieg trotz des Abkommens weiterging. Kissinger selbst wollte den Preis später zurückgeben.

Neue Enthüllungen über Rolle in Kambodscha

Ohnehin steht Kissinger für seine Rolle im Vietnam-Krieg in der Kritik, unter anderem mit Blick auf die Bombardierung der Nachbarländer Laos und Kambodscha. Neue Vorwürfe gegen Kissinger dazu kamen zuletzt vom US-Aufdeckerportal The Intercept. Kissinger sei demzufolge nicht nur „Architekt der amerikanischen Bombardierung Kambodschas von 1969 bis 1973 und ein Befürworter der Invasion von 1970“ – auch die bisher mit 50.000 bezifferte Zahl ziviler Todesopfer sei womöglich dreimal so hoch.

Auch abseits des Vietnam-Krieges ist die Liste der Vorwürfe lang. Kissinger wurde für die Mitverantwortung der USA beim Pinochet-Putsch in Chile 1973 scharf kritisiert. Er ignorierte von Pakistan während des Bangladesch-Kriegs 1971 begangene Massaker und billigte Indonesiens blutigen Einmarsch in Osttimor 1975. Nach den Worten von CNN sei es zum 100. Geburtstag auch „angebracht, auf sein Erbe zurückzublicken und zu untersuchen, wie er die Welt, die ihm als Leinwand diente, beeinflusst hat – zum Guten oder gelegentlich auch zum Schlechten“.