Die ehemalige EU-Parlamentsvizepräsidentin Eva Kaili
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EU und Korruption

Kritik an „Kultur der Straflosigkeit“

Die Ex-EU-Parlamentsvizepräsidentin Eva Kaili, die jüngst ihre Fußfessel ablegen durfte, will ins EU-Parlament zurückkehren. Kaili ist das Gesicht jenes Bestechungsskandals, der Europa Ende 2022 aufrüttelte. Auf EU-Ebene ist man um Imagepolitur bemüht. Doch was ist seit dem Skandal um mutmaßliche Einflussnahme durch die Regierungen von Katar und Marokko tatsächlich geschehen? „Sehr wenig“, sagt Nick Aiossa von Transparency International (TI) zu ORF.at. Pläne für ein Ethikgremium sieht er, wie mehrere EU-Abgeordnete, skeptisch.

Bei dem Gremium handelt es sich um ein Vorhaben, auf das seit Jahren gewartet wird. 2019 wurde es erstmals angekündigt. Spätestens mit dem Bestechungsskandal mehrten sich Rufe, die dessen Umsetzung einforderten. Das interinstitutionelle Ethikgremium, für das EU-Vizekommissionspräsidentin Vera Jourova zuständig ist, soll für angepasste Kontrollmechanismen und hohe Standards für Integrität und Unabhängigkeit sorgen.

Vor allem geht es um mehr Transparenz, etwa was die Erklärung von Vermögenswerten betrifft. „Bürger sehen ‚die EU‘ oder ‚Brüssel‘, nicht unterschiedliche Institutionen, deshalb ist es wichtig, klare gemeinsame Regeln zu haben“, erklärte EU-Kommissionssprecher Christian Wigand auf Anfrage von ORF.at.

EU-Parlament in Straßburg
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Der Bestechungsskandal handelt von der mutmaßlichen Einflussnahme auf das EU-Parlament durch Katar und Marokko

Gremium gegen „ethische Schlupflöcher“?

Das Regelwerk soll für neun Institutionen, die derzeit noch ihre eigenen Süppchen kochen, gelten. Dazu zählen unter anderem EU-Parlament, EU-Kommission, Rat und die Europäische Zentralbank. Regelmäßig soll überprüft werden, ob und wie jene Standards in der Praxis umgesetzt werden, so Wigand. Wann genau die Pläne präsentiert werden, ist unklar. Gerechnet wird derzeit mit Anfang Juni.

Im „Katar-Gate“

geht es um mutmaßliche Einflussnahme auf das EU-Parlament durch Katar und Marokko. Den Beschuldigten, darunter mehrere EU-Abgeordnete und ein Ex-EU-Abgeordneter, werden Korruption, Geldwäsche und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen.

Dass sich das Gremium mit Strafsachen befasse, sei nie vorgesehen gewesen, sagt Wigand auch. Dafür gebe es Behörden, wie die EU-Betrugsbekämpfungsbehörde OLAF, die Europäische Staatsanwaltschaft (EUStA) sowie die Polizei und andere nationale Behörden, hält er fest. EUStA und OLAF hätten Aiossa zufolge aber nur ein limitiertes Mandat.

Warnung vor fehlenden Sanktionsmöglichkeiten

TI-Vizedirektor Aiossa und mehrere EU-Parlamentarier befürchten, dass die Pläne der EU-Kommission nicht weit genug gehen. Dem Gremium werde voraussichtlich die nötige Macht fehlen, um die aktuell bestehenden „ethischen Schlupflöcher“ zu stopfen, sagt Aiossa.

Er rechnet damit, dass dem Gremium sowohl Ermittlungs- als auch Überwachungsbefugnisse fehlen. Am besorgniserregendsten sei, „dass es mit Sicherheit keine Sanktionsbefugnisse haben wird“, so Aiossa. „Ohne diese Elemente wird es keinesfalls ein angemessenes Instrument oder Gremium sein, um die – unserer Meinung nach – allgemeine Kultur der Straflosigkeit anzugehen, insbesondere seitens des Parlaments, wenn es um ethische Regeln und Verhalten geht“, sagt der Experte.

EU-Vizekommissionspräsidentin Vera Jourova
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EU-Vizekommissionspräsidentin Vera Jourova

Deutscher Abgeordneter: Gremium ist „Etikettenschwindel“

Dass ein Skandal wie „Katar-Gate“ mit strengeren Transparenzregeln verhindert werden kann, glauben viele nicht. Bei Jourovas Ethikgremiumplänen handle es sich nach den Worten des deutschen EU-Abgeordneten Daniel Freund (Grüne) um einen „Etikettenschwindel“. Freund setzte sich bereits 2021 im Parlament für ein solches Gremium mit weitreichenden Kompetenzen ein.

„Wir brauchen keinen Gesprächskreis zu einheitlichen Standards in den EU-Institutionen. Was wir brauchen, ist eine Durchsetzung der bestehenden Regeln“, sagt er auf ORF.at-Anfrage. Ein Verstoß müsse seiner Ansicht nach von unabhängiger Seite festgestellt und eine Sanktion vorgeschlagen werden. „Wenn Regeln nicht durchgesetzt und kleinere Verstöße nicht geahndet werden, ist die Versuchung größer, immer noch einen Schritt weiterzugehen“, so Freund.

Österreichs EU-Abgeordnete uneins

Nachholbedarf orten auch österreichische EU-Abgeordnete. Was die Kompetenzen und Ausgestaltung eines Ethikgremiums betrifft, gehen die Meinungen allerdings auseinander. Für Othmar Karas, erster Vizepräsident und langjähriger ÖVP-Abgeordneter im EU-Parlament, sei „die rote Linie in der Politik“ nicht das Strafrecht. „Politische Verantwortung beginnt weit davor, und es ist richtig, sie klarer zu definieren“, sagt er in einem Statement.

Das Gremium müsse „auf eigene Initiative tätig werden können, Ermittlungsbefugnisse und Zugang zu internen Dokumenten bekommen“, forderte SPÖ-EU-Abgeordneter Andreas Schieder. „Auch die Möglichkeit, Sanktionen vorzuschlagen, ist essenziell.“

Er sprach sich zudem für stärkere Veröffentlichungspflichten und weitere Regulierungen im Bereich der Nebentätigkeiten sowie eine deutliche Cooling-off-Phase für EU-Abgeordnete nach ihrer Tätigkeit aus. Schieder ist Chefverhandler der S&D-Fraktion im Ausschuss für Desinformation und ausländische Einmischung, der mit der Erarbeitung von Reformvorschriften betraut ist.

„Zahnloses Beratungsgremium wäre Farce“

„Ein zahnloses Beratungsgremium nach so einem weitgreifenden EU-Korruptionsskandal wäre eine Farce“, sagen Monika Vana, Delegationsleiterin der österreichischen Grünen im Europaparlament, und Thomas Waitz, Kovorsitzender der Europäischen Grünen-Partei und EU-Abgeordneter. Neben umfangreichen Befugnissen für das Gremium sprechen sie sich für Reformen im Parlament aus. Gefordert werden ein verpflichtendes Transparenzregister, Schutz für Whistleblower (Hinweisgeber, Anm.) und strenge Strafen für EU-Abgeordnete.

Die Freiheitlichen, die das Vorhaben der Kommission für „zahnlos“ halten, fordern ein allgemeines Betretungsverbot von Lobbyisten im Haus – bis auf einzelne Ausnahmen. Weiters spricht sich die FPÖ für ein „zusätzliches Strafmaß, welches über das normale Strafmaß im Falle von Korruption hinausgeht“, sowie eine Einverständniserklärung dieser Maßnahmen durch EU-Abgeordnete und Assistenten aus. Nicht zuletzt fordert die Partei sofortige Neuwahlen auf EU-Ebene.

Die NEOS-EU-Abgeordnete Claudia Gamon bezeichnet das Vorhaben als „nicht annähernd ehrgeizig genug“, wie sie sagt. „Wir brauchen kein weiteres Gremium, das Regeln festlegt. Was wir brauchen, ist eine Institution, die in problematischen Fällen verlässlich und lückenlos ermitteln kann.“

Mangelnder Reformwille im EU-Parlament?

Scharfe Kritik äußert der TI-Vizedirektor Aiossa allerdings auch am Reformwillen des EU-Parlaments selbst. Die EU-Parlamentarier hätten in den letzten Monaten vor externen Bedrohungen gewarnt, unverbindliche Resolutionen zur Umsetzung von Reformen unterstützt und der EU-Kommission die Schuld gegeben, weil diese noch kein Ethikgremium präsentiert habe, sagt Aiossa.

Dabei sei das Parlament in der Lage, Regeln zu Interessenskonflikten und ethischen Konflikten sowie Regeln zu Lobbying und Transparenz selbst zu reformieren, sagt er. Das Gremium sei einzig in der Lage, ein Element der Unabhängigkeit beizusteuern. „Die Regeln, die im EU-Parlament in Kraft sind, zählen zu den schwächsten aller Institutionen“, sagt er.

EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola hatte im Jänner in Reaktion auf den Bestechungsskandal einen 14-Punkte-Plan präsentiert. Umgesetzt wurde davon bisher etwa eine Abkühlperiode für ehemalige Abgeordnete. Auch das sorgte für Hohn. Der Grund? EU-Abgeordnete sollen künftig frühestens sechs Monate nach Ende ihres Mandats als Lobbyisten Tätigkeiten mit Parlamentsbezug ausüben – der ursprüngliche Vorschlag seien zwei Jahre gewesen, sagte die europäische Bürgerbeauftragte Emily O’Reilly. „Sechs Monate sind keine echte Abkühlperiode“, so O’Reilly.

Geschenke und Luxushotel: Wirbel um Metsola

Metsolas 14-Punkte-Plan sei ein Anfang, dieser würde allerdings nicht bevorstehende „größere Reformen“ behandeln, so Aiossa auch. Er vermisst eine Überarbeitung des Verhaltenskodexes sowie die Einführung eines Sanktionsregimes. Die EU-Parlamentspräsidentin, die als einzige Sanktionen verhängen könne, würde das kaum tun.

Metsola selbst stand Anfang des Jahres in der Kritik, weil sie eine Reise samt Aufenthalt in einem Luxushotel zu spät gemeldet hatte. Die Kosten für die Übernachtung im Oktober wurden von einer französischen Weinbruderschaft übernommen. Zudem hatte Metsola 125 Geschenke entgegen den Regeln für Abgeordnete zu spät öffentlich gemacht.

Besonders kritisch sieht Aiossa, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von EU-Institutionen aktuell keinen Schutz durch die bereits 2021 umgesetzte EU-Whistleblower-Richtlinie erhalten. Es gebe zwar interne Regelungen, die EU-Personal schützen würden – jene des EU-Parlaments seien dabei besonders schlecht, meint er. Er vermutet, dass EU-Personal deshalb auch davor zurückschrecke, Missstände publik zu machen.

„Bedauerliche Doppelmoral“

In puncto Ethikgremium äußert der TI-Experte zudem Verständnis für das zögernde Vorgehen der Kommission. Immerhin bestehe seinen Worten nach das Risiko, dass ein Kommissionsvorschlag in Verhandlungen mit anderen Institutionen verwässert werde – was vor den Europa-Wahlen im Juni 2024 für alle Beteiligten unangenehm sei. „Niemand in dieser Stadt möchte verbindliche Regeln für Institutionen in Brüssel vorschlagen, verhandeln oder verabschieden“, so Aiossa.

Er spricht von einer „bedauerlichen Doppelmoral“. Bedeutende Reformen nicht umzusetzen, sei angesichts der Wahl ein großes Risiko für das Parlament sowie die gesamte EU. Allein in Österreich hat das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die EU einer Onlineumfrage des Linzer Meinungsforschungsinstituts market zufolge stark eingebüßt. Aiossa dazu: „Vor allem rechtspopulistische Parteien werden das gegen die EU verwenden.“