Die EU-Ratspräsidentschaft im kommenden Jahr sei „kein Recht, sondern eine Pflicht“, erklärte die ungarische Justizministerin Judit Varga am Freitag im Onlinedienst Facebook. „Was wir versprochen haben, werden wir mit Integrität erfüllen, das kann uns niemand nehmen“, sagte Varga.
Der Stabschef von Ministerpräsident Viktor Orban, Gergely Gulyas, hatte zuvor erklärt, es gebe „keine rechtliche Möglichkeit für die EU“, Ungarn an der Übernahme der Präsidentschaft zu hindern. „Wenn das Europäische Parlament eine solche Entscheidung trifft, ist sie genauso bindend, wie wenn das aserbaidschanische Parlament eine solche Entscheidung treffen würde“, sagte Gulyas vor Journalisten in Budapest.
Fraktionen warnen vor ungarischem Vorsitz
Angestoßen wurde die Debatte von einem Entschließungsantrag zu Ungarns Verstößen gegen Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte. Gegen Ungarn läuft das Artikel-7-Verfahren. Es kann zum Ausschluss aus der EU führen. Das Parlament ergänzte die Resolution zuletzt und fragt nun, ob Ungarn vor diesem Hintergrund der richtige Ratsvorsitz sei. Publik wurden die Pläne bereits am Mittwoch.
Demzufolge bezweifeln die Abgeordneten von der konservativen EVP-Fraktion, der sozialdemokratischen S&D, der liberalen Fraktion Renew Europe, den Grünen sowie den Linken, dass Ungarn in der Lage sei, „diese Aufgabe im Jahr 2024 glaubwürdig zu erfüllen“, da das Land EU-Recht und EU-Werte „nicht einhält“.

Debatte für Edtstadler „kontraproduktiv“
Die EU-Mitgliedsstaaten sollen demzufolge „so schnell wie möglich eine angemessene Lösung finden“, um zu verhindern, dass Ungarn die sechsmonatige Ratspräsidentschaft wie geplant ab Juli 2024 übernimmt. Zu jener Zeit werden auch Weichen für die nächste EU-Kommission gestellt. Die Resolution ist zwar nicht rechtsverbindlich, hat aber Signalwirkung. Sie macht die tiefe Kluft zwischen Ungarn und dem Rest der EU deutlich.
Während Österreichs Europaministerin Edtstadler gegen die Resolution ist, stehen Österreich EU-Abgeordnete mehrheitlich dahinter. Der EU-Vertrag gebe „klar vor, dass der Ratsvorsitz nach einem gleichberechtigten Turnus rotiert“, so Edtstadler. „Gerade vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs ist es kontraproduktiv, mit solch vertragswidrigen Forderungen die EU intern zu spalten.“ Ungarn zeige Bewegung bei der Rechtsstaatlichkeit.
Vorsitzverschiebung als „Weckruf“?
„Es gibt viele Beispiele dafür, dass die ungarische Regierung die Prinzipien jener EU mit Füßen tritt, von der die ungarische Bevölkerung täglich profitiert. Vielleicht wirkt die Verschiebung dieser Ratspräsidentschaft als Weckruf in Budapest“, sagte dagegen Lukas Mandl, ÖVP-Sprecher für Justiz und Innere Sicherheit im Europaparlament.
Die Forderung einer Aussetzung sei nicht nur „ein symbolisches Zeichen“, sondern stoße „einen wichtigen Prozess“ an, sagte Theresa Bielowski, SPÖ-EU-Abgeordnete und Mitglied im zuständigen Innenausschuss, der APA. Staaten, die wie Ungarn von einem Artikel-7-Verfahren betroffen sind, sollte künftig das Privileg des Ratsvorsitzes entzogen werden, so Bielowski.
Die Situation der Rechtsstaatlichkeit verschlechtere sich zunehmend, heißt es von den Grünen. Es sei „überdies das erste Mal, dass ein Mitgliedsstaat, der sich im Verfahren nach Artikel 7 befindet, die rotierende Ratspräsidentschaft übernehmen soll. Wir haben große Bedenken“, so Monika Vana, Delegationsleiterin der österreichischen Grünen. NEOS-EU-Abgeordnete Claudia Gamon kritisierte: „Wer die EU mit Hitler vergleicht, sollte nicht mal ein Praktikum in Brüssel bekommen – geschweige denn die Ratspräsidentschaft.“
FPÖ gegen Vorsitzentzug
Als „demokratiepolitisch befremdlich“ kommentierte dagegen der freiheitliche Delegationsleiter im EU-Parlament, Harald Vilimsky, die Forderung. „Ungarn ist und bleibt ein wichtiger Partner in Europa. Allein der Gedanke, dass man Ungarn die Ratspräsidentschaft entzieht, kann man nur als demokratiepolitisch befremdlich bezeichnen.“
Der deutsche Europaabgeordnete Daniel Freund (Grüne), er gilt als vehementer Orban-Kritiker, erklärte auf dem Kurznachrichtendienst Twitter: „Sollte Viktor Orban tatsächlich die Ratspräsidentschaft übernehmen, müssen wir im Europaparlament über ein Hausverbot nachdenken. Wir geben Autokraten in unserem Haus keine Bühne. Wir verhandeln mit Autokraten keine Gesetze.“
„Eine ungarische Ratspräsidentschaft wäre, wie wenn man den Schulhofschläger Orban zum Schuldirektor wählt“, wurde der FDP-EU-Abgeordnete Moritz Körner von der „Süddeutschen Zeitung“ zitiert.
Laufendes Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn
Die EU-Staaten hatten erst im Dezember 2022 beschlossen, Ungarn Gelder in Milliardenhöhe aus dem EU-Budget vorläufig nicht auszuzahlen. Hintergrund des beispiellosen Vorgehens ist die Sorge, dass EU-Gelder in dem Land wegen Problemen mit Korruption nicht ordnungsgemäß verwendet werden.
Ungarn blockierte in den vergangenen Monaten immer wieder große EU-Entscheidungen: So kann derzeit wegen Ungarn weitere EU-Militärhilfe für die Ukraine nicht ausgezahlt und das elfte Paket mit Russland-Sanktionen nicht fertig geschnürt werden. Budapest fordert, dass die einheimische Bank OTP von der ukrainischen Liste der Kriegsunterstützer gestrichen wird.

Entmachteter Ratsvorsitz als Option?
Wenngleich so manche Kritikerinnen und Kritiker in der Resolution vor allem einen symbolischen Schritt ansehen, so gibt es doch Stimmen, die eine Änderung beim Ratsvorsitz als möglich erachten.
Die vorhergehende belgische und die spanische Ratspräsidentschaft hätten zwei Optionen, schrieb Alberto Alemanno, Professor für EU-Recht an der HEC Business School, auf Twitter. Einerseits könnten sie Ungarn die Ausrichtung von Treffen zum Thema Rechtsstaatlichkeit verbieten „Das würde als die erste entmachtete Präsidentschaft des Rates in die Geschichte eingehen“,so Alemanno.
Die zweite Option? Eine vollständige Aussetzung der ungarischen Präsidentschaft, so der Experte. Belgien und Spanien könnten den sechsmonatigen Vorsitz Ungarns untereinander aufteilen. Das würde bedeuten, dass die Präsidentschaften der beiden Staaten jeweils neun Monate andauern würden.