Erdogan-Wahlplakat in Istanbul
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Wirtschaft im Krisenmodus

Erdogans schwer haltbare Versprechen

Die wirtschaftliche Lage war schon einmal besser, die Landeswährung Lira ist schwach, die Inflationsrate enorm hoch. Trotzdem sieht die Mehrheit der Türkinnen und Türken die Verantwortung dafür offenbar nicht bei ihrem Präsidenten Recep Tayyip Erdogan – wie sein Wahlsieg vom Sonntag zeigt. Er verspricht einmal mehr, die Probleme zu lösen, die das Land bisher nicht in den Griff bekommen hat. Einige Versprechen dürfte er nur sehr schwer einlösen können.

Erdogan ist seit 2014 Präsident der Türkei, zuvor war er ab 2003 Ministerpräsident, am Sonntag gewann der die Stichwahl gegen seinen Herausforderer Kemal Kilicdaroglu mit 52,18 zu 47,82 Prozent der Stimmen. In seiner Zeit an der Regierungsspitze bzw. als Staatschef hat die Türkei wirtschaftlich sehr unterschiedliche Zeiten gesehen.

Ab 2006 war es mit hohen Wachstumsraten deutlich aufwärts gegangen, das Pro-Kopf-Einkommen steig, 2018 schlitterte das Land in eine Währungs- und Schuldenkrise. Aktuell kämpft die türkische Zentralbank (TCMB) erneut gegen eine Abwertung der Lira und gegen die sehr hohe Inflationsrate, zwei der dringendsten Probleme und schwer zu lösen.

„Der große Test“ kommt bald

Der Kurs der Landeswährung sank am Dienstag weiter auf ein neues Tief. Ein Dollar bzw. Euro kosteten 20 bzw. 22 Lira. Die Inflation lag im April bei knapp 44 Prozent, im Oktober 2022 war sie auf einen historischen Höchststand von 85,5 Prozent gestiegen. Als Grund für beides gilt, wie es am Dienstag etwa in einer Analyse der „Financial Times“ hieß, „nicht nachhaltige“ Wirtschaftspolitik.

Erdogan besteht trotz der enormen Teuerungsrate auf einem vergleichsweise niedrigen Leitzins, wobei sich dieser aktuell nach mehreren Senkungen bei 8,5 Prozent bewegt. Der Griff nach Devisenreserven zur Stabilisierung des Wechselkurses der Lira lässt diese schwinden. Der Kurs sei kaum zu halten, hieß es nach der Stichwahl in der internationalen Wirtschaftspresse. Der große „Test“ für Erdogan in seiner dritten Amtszeit werde sein, die türkische Wirtschaft zu stabilisieren, schrieb die „Financial Times“.

Das Land ist mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von zuletzt umgerechnet rund 840 Mrd. Euro (rund zweimal so viel wie Österreich) die Nummer 19 unter den größten Volkswirtschaften. Das BIP pro Kopf liegt laut Daten der Weltbank bei rund 10.600 Dollar. Zum Vergleich: In Österreich ist es fünfmal so hoch.

„Verbrennen“ von Reserven

Erdogans Kurs sei nicht nachhaltig, zitierte die britische Wirtschaftszeitung Liam Peach, Experte für Emerging Markets beim Londoner Analyseunternehmen Capital Economics. Die Türkei könne nicht weiter den Leitzins niedrig halten, eine „sehr lose Geldpolitik“ fortsetzen und länger alle möglichen Devisenreserven „verbrennen“.

Straßenverkäufer vor einem Lokal der AKP in Istanbul
Reuters/Dilara Senkaya
Ein Plakat verspricht: „Das Jahrhundert der Türkei beginnt“ – aktuell sind die wirtschaftlichen Zeiten allerdings nicht rosig

Das renommierte Londoner Unternehmen, spezialisiert auf Makroökonomie, hatte seinerseits schon vor der Wahl vor allen möglichen Risiken für das Land gewarnt, sollte Erdogan gewinnen. Laut „Financial Times“ sind die Fremdwährungsreserven der Türkei seit Jahresbeginn um den Gegenwert von rund 25 Mrd. Euro kleiner geworden. Das Leistungsbilanzdefizit ist hoch.

„Wenn das jemand schafft, schaffe ich es“

Erdogan will trotzdem bei seiner Linie bleiben und betonte nach seinem Wahlsieg, dass die Zinsen nicht steigen würden. Die türkische Notenbank hatte diese auf seine Anweisung gesenkt, die enorme Teuerungsrate werde gleichfalls sinken, betonte Erdogan. „Wenn das jemand schafft, schaffe ich es“, wurde er zitiert.

Recep Tayyip Erdogan jubelt seinen Anhängern zu
APA/AFP/Turkish Presidential Press Service/Murat Cetin Muhurdar
Erdogan nach seinem Sieg bei der Stichwahl in Ankara, er sprach von einem Sieg für alle im Land

Den Anstieg der Preise und den Verlust des Wohlstands zu bremsen seien „die dringendsten Themen der kommenden Tage“, so Erdogan. Wie er das machen will, sagte er nicht. Niemand habe am Tag des Wahlsieges verloren, jeder einzelne der 85 Millionen Einwohner des Landes habe gewonnen, ist nach dem Wahlsieg auf der Website des Präsidenten zu lesen. Zuletzt hieß es, nach der Wahl könnten mehrere Minister ausgetauscht werden, Ex-Finanzminister Mehmet Simsek solle das Ressort Wirtschaft übernehmen.

Das große Thema Identität

Mit der türkischen Wirtschaft ging es unter Erdogan (erst als Ministerpräsident) bergauf, aber später auch deutlich bergab. Naheliegend wäre, dass die Wähler ihm das in Rechnung stellten, was sie aber mehrheitlich nicht taten. Warum? Erdogan habe das Land in zwei Lager gespalten, zitierte die „Financial Times“ in einem anderen Artikel Emre Peker vom US-Beratungsunternehmen Eurasia Group.

Obwohl das Land „durch seine schlimmste wirtschaftliche Phase seit 2001“ gehe, könne Erdogan immer noch Wahlen gewinnen – mit Identitätspolitik. Der größte Teil seiner konservativen Anhängerschaft glaubte immer noch seinen „nationalistischen Schwüren“, dass er die Türkei zu einer der großen Spielerinnen in der internationalen Politik und globalen Wirtschaft machen werde.

Wenn nicht hier, dann dort: Auslandstürken und „Heimat“

Das Thema Identität spielt auch – und oft besonders – unter den Auslandstürken eine Rolle, wie der Integrationsexperte Kenan Güngör am Montag im Interview mit der ZIB1 sagte. Ihnen habe Erdogan eine solche Identität gegeben. Die Menschen suchten Anerkennung und Zugehörigkeit. Wenn sie das nicht hier fänden, dann gebe es die Türkei, wo Erdogan verspreche: „Egal, wie lange ihr schon im Ausland lebt, wir sind immer für euch da.“

Entsprechend hieß es bei den Siegesfeiern für den türkischen Präsidenten am Sonntagabend in Wien-Favoriten von jungen Burschen: Grund ihrer Freude sei „der Stolz auf unser Land“. Die lautstarken Siegesfeiern sorgten erneut für eine innenpolitische Debatte über Migration und Integration.

Austrotürken feiern Erdogan-Sieg

350.000 Menschen in Österreich haben ihre Wurzeln in der Türkei. Mehr als 100.000 davon haben nach wie vor die türkische Staatsbürgerschaft und sind daher wahlberechtigt. 59 Prozent sind wählen gegangen, drei Viertel haben für Erdogan gestimmt. Dementsprechend ist sein Sieg gefeiert worden – vor allem in Wien.

Gerade in Österreich schnitt Erdogan mit fast 74 Prozent der Stimmen der 108.000 wahlberechtigten Auslandstürken besonders gut ab, knapp 58 Prozent hatten von ihrem Stimmrecht Gebrauch gemacht. In Deutschland gewann er knapp 68 Prozent der Stimmen, in Frankreich 67, in den Niederlanden gut 70 Prozent, nur in Belgien waren es mit 74,9 Prozent noch mehr als in Österreich. In Ländern wie Großbritannien, Schweden und der Schweiz lag Kilicdaroglu vorne.

Experten sehen „Missgeschicke“

An der Umsetzung von Erdogans wirtschaftspolitischen Versprechen meldeten Experten vor und nach Erdogans Wahlsieg Zweifel an. Seine geldpolitischen Missgeschicke brächten das Land aus der Spur, hatte es noch vor der Stichwahl in einer weiteren Analyse der „Financial Times“ geheißen.

Viele seiner Wähler erhofften sich von einer dritten Amtszeit „einen Aufstieg ihres Landes zu neuer Größe“, schrieb der deutsche „Spiegel“. Aber: „Die Finanzmärkte beurteilen die Lage sehr viel nüchterner.“ Manche sehen das Risiko einer weiteren Währungskrise.

Teure Wahlgeschenke

Erdogan verteilte viele Wahlzuckerl, die das Land viel Geld kosten werden, darunter die Abschaffung des Mindestpensionsalters und Gehaltserhöhungen für Staatsbedienstete. Schritte wie diese könnten die Reserven „ausbluten“ lassen, analysierte für die „Asia Times“ Ahmet Kuru, Professor für Politikwissenschaften an der US-Universität von San Diego.

Mittlerweile hätten die triste wirtschaftliche Lage und die zunehmend autoritäre Politik einen Brain-Drain ausgelöst, viele junge Menschen mit guter Ausbildung würden das Land verlassen. „Erdogan hat die Wahl gewonnen, ohne irgendwelche Änderungen in der Innen- oder Außenpolitik zu versprechen“, so Kuru. Aber wenn sich die Krise nicht entschärfe, könne es sein, dass Erdogan zu Kursänderungen gezwungen werde.

Herausforderer trat mit 13-Punkte-Programm an

Erdogan, der auch Vorsitzender der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP ist, gewann die Wahl gegen seinen Herausforderer Kilicdaroglu von der säkularen sozialdemokratischen CHP mit einem Bündnis von sechs anderen Parteien hinter sich im ersten Durchgang am 14. Mai mit 49,2 zu 45,1 Prozent (5,1 Prozent entfielen auf den Nationalisten Sinan Ogan).

In der Stichwahl gewann Erdogan mit 52,2 zu 47,8 Prozent. Kilicdaroglu hatte ein 13-Punkte-Programm zur Sanierung der türkischen Wirtschaft vorgeschlagen, darunter Haushaltsdisziplin, Rechnungsprüfungen, Ausgabenkontrollen durch die parlamentarische Opposition, die Einrichtung eines nationalen Fiskalrats und keine Einmischung der Politik in wirtschaftliche Institutionen – siehe Leitzins und Notenbank.