Brennende Reifen in Port-au-Prince
APA/AFP/Richard Pierrin
Haiti in Geiselhaft

Kein Mittel gegen brutale Gangs

In Haiti wird die Bevölkerung bereits seit Jahren von Banden unterdrückt, gequält und de facto in Geiselhaft gehalten. Ärzte ohne Grenzen zeigt nun, wie groß das physische und psychische Leiden unter der permanenten willkürlichen Gewalt ist. Groß sind die Hilfeschreie der UNO und der haitianischen Übergangsregierung nach einer internationalen Friedensmission. Doch niemand, auch nicht das US-Militär, traut sich, eine Kampfansage an die Gangs zu machen.

Seit der Ermordung von Präsident Jovenel Moise im Juli 2021 stürzte Haiti ins Chaos ab. In dem Karibikstaat, einem der ärmsten Länder der Welt, herrsche „ein endloser Kreislauf der Gewalt“, hieß es von der UNO Anfang Mai. Die Behörden könnten die Bevölkerung nicht ausreichend schützen. Die Gewalt zerreiße die Gesellschaft. Die Bevölkerung ist den Banden ausgeliefert, wie auch Berichte von Ärzte ohne Grenzen zeigen.

„Gewalt und Unsicherheit halten die haitianische Hauptstadt Port-au-Prince fest im Griff. Kugelhagel oder Entführungen gehören zum Alltag, die wirtschaftliche Situation ist angespannt“, heißt es von der Organisation nun.

Polizei in Port-au-Prince
Reuters/Ralph Tedy Erol
Ein haitianischer Polizist patrouilliert in Port-au-Prince nach einem Angriff auf die Polizeistation

„Komplexe und multidimensionale humanitäre Krise“

„Verschiedene politische, soziale und wirtschaftliche Ereignisse haben die komplexe und multidimensionale humanitäre Krise ausgelöst. Der Zugang zu grundlegenden Diensten wie Gesundheitsversorgung, psychosozialer Betreuung, Wasser und Abwasserentsorgung ist in ganz Port-au-Prince und insbesondere in den von der Gewalt am stärksten betroffenen Vierteln stark beeinträchtigt“, schildert Ärzte ohne Grenzen die Lebensumstände der Bevölkerung.

Das Vorgehen der organisierten Kriminellen, um die Bevölkerung zu unterdrücken, wird als äußerst brutal geschildert. Die Gangs nutzten Scharfschützen, um „wahllos“ auf Menschen auf der Straße zu schießen, und „feuern in Häuser“, heißt es in einem UNO-Bericht. Menschen seien „in den öffentlichen Verkehrsmitteln lebendig verbrannt“ worden. Auch sexuelle Gewalt werde in einem „schrecklichen Ausmaß“ von den Banden eingesetzt.

UNO: Neue Welle extremer Gewalt

Mehr als 600 Menschen sind nach UNO-Angaben allein im April in Haiti durch Bandenkriminalität getötet worden. „Eine neue Welle der extremen Gewalt“ habe mehrere Teile der Hauptstadt Port-au-Prince erfasst, so die UNO bei der Präsentation des Berichts. Mindestens 846 Menschen seien bereits in den ersten drei Monaten des Jahres getötet worden, 393 Menschen wurden in diesem Zeitraum verletzt und 395 Menschen entführt. Nach UNO-Angaben hatten bereits 2022 die Morde und Entführungen in Haiti im vierten Jahr in Folge zugenommen.

Der Konflikt zwischen rivalisierenden bewaffneten Gruppen erschwere es den Menschen, sich in der Stadt frei zu bewegen, und ein Großteil der Bevölkerung lebe in extremer Unsicherheit, so Ärzte ohne Grenzen.

Bild des getöteten Präsidenten Jovenel Moise
Reuters/Ricardo Arduengo
Ein Mann neben dem Bild des ermordeten Präsidenten Präsident Jovenel Moise bei einem Gedenken

Ärzte ohne Grenzen mit mobilen Kliniken unterwegs

In vielen Stadtteilen wurden aufgrund der angespannten Lage Spitäler geschlossen. Der Weg ins Spital war oft ob der Banden äußerst gefährlich. Ärzte ohne Grenzen versucht nun, die Lücke mit mobilen Spitälern zu füllen. Fast täglich sei man mit den mobilen Kliniken im Einsatz, heißt es von der Organisation.

„Die Teams können so Hunderte Frauen, Männer, Kinder und insbesondere ältere Menschen behandeln, die in ihren Stadtvierteln ausharren müssen“, schreibt die Organisation. In den ersten vier Monaten dieses Jahres hätten die mobilen Teams insgesamt 7.781 Patienten und Patientinnen versorgt. Mehr als 300.000 Liter Trinkwasser seien in Regionen, die besonders stark von der Gewalt betroffen seien, ausgegeben worden.

MSF Emergency Center of Turgeau
MSF/Alexandre Marcou
Ärzte ohne Grenzen versucht so gut es geht den Patienten und Patientinnen zu helfen

Besonderer Bedarf an psychologischer Betreuung

Die Teams von Ärzte ohne Grenzen setzen sich aus verschieden Spezialisten und Spezialistinnen zusammen, wie etwa Ärzten und Ärztinnen, Pflegefachkräften, Geburtshelferinnen und Psychologinnen und Psychologen. „Mobile Kliniken sind in einer Umgebung wie Port-au-Prince jetzt unerlässlich“, sagte Michele Trainiti, der den Einsatz von Ärzte ohne Grenzen in Haiti leitet. In den noch vorhandenen öffentlichen Gesundheitseinrichtungen fehle es an allem, und die Gesundheitseinrichtungen, die noch in Betrieb seien, seien für viele Menschen unbezahlbar.

„Mobile Kliniken füllen diese Lücken in der medizinischen Versorgung“, so Trainiti weiter. „Sie sind zwar nicht perfekt, aber sie erlauben uns, flexibel und anpassungsfähig zu sein und Menschen in den von Gewalt betroffenen Stadtteilen direkt zu versorgen. Sie verbessern buchstäblich den Zugang zur Gesundheitsversorgung“, so Trainiti. Hilfsbedarf im Bereich der psychologischen und sexuellen Gesundheit seien besonders hoch.

Angstzustände, Depressionen und Schlafstörungen

„Die Gewalt ist allgegenwärtig – und sie hat erhebliche Auswirkungen auf die Psyche derer, die sie erleben müssen“, so Camille Dormetus. Die Psychologin ist derzeit mit der mobilen Klinik im Einsatz. „Kugelhagel, Angst vor Angriffen oder die Ermordung von Verwandten: Das sind alles höchst traumatische Ereignisse“, so Dormetus. Viele Patienten und Patientinnen müssten wegen Angstzuständen, Depressionen, Schlafstörungen oder Hypervigilanz behandelt werden.

Zehntausende Bewohner und Bewohnerinnen sollen aus der Hauptstadt geflüchtet sein, so denn möglich, denn die Banden riegeln laut den Berichten teils neben den Zugängen zur Stadt auch ihr Territorium ab.

Banden militärisch bewaffnet

Insgesamt sollen rund 200 bewaffnete Banden in Haiti ihr Unwesen treiben, rund die Hälfte davon in der Hauptstadt Port-au-Prince mit ihren rund 1,3 Millionen Einwohnern, so die BBC. Die Banden sind auch militärisch ausgerüstet, so die „New York Times“ von Anfang Juni.

Röntgenbild
MSF/Johnson Sabin
Auf diesem Röntgen ist ein Projektil deutlich zu sehen

Der Staat schafft es nicht, gegen die Gangs vorzugehen. Die Armee sei schlecht ausgebildet und ausgerüstet, die Polizeitruppe von 9.000 Sicherheitskräften machtlos, heißt es in der „New York Times“ weiter. Polizisten würden selbst zu Opfern der Banden – entweder von Gewalt oder sie würden zum Mitmachen gezwungen.

Nachbarschaftspatrouillen gegen Gangs

Einzelne Haitianer hätten sich zu bewaffneten Gruppen organisiert, um die Banden zu bekämpfen. Die Furcht ist groß: Sollte sich das Problem nicht bald lösen, drohe ein Bürgerkrieg, so die „New York Times“ nun weiter.

Auch laut „Washington Post“ versuchen immer mehr Haitianer, ihre „Grätzl“ zu schützen, und organisieren sich zu Nachbarschaftspatrouillen. Sie bewachen ihre Nachbarschaft und versuchen, den Banden etwas entgegenzusetzen. Bewaffnet sind sie meist mit Macheten oder Ähnlichem – im Gegensatz zu den schwer bewaffneten Banden.

Es soll auch zu Lynchmorden an Bandenmitgliedern gekommen sein, wie Medien berichteten. Bei einem Zwischenfall soll ein Bus mit Gangmitgliedern gewaltsam angehalten und die Kriminellen mit Benzin übergossen und angezündet worden sein, schildert auch die „Washington Post“ einen Vorfall.

USA wollen Militär wegen Afghanistan nicht schicken

Die UNO hatte bereits mehrmals, wie auch die derzeitige Übergangsregierung, gefordert, eine spezialisierte internationale Truppe zu entsenden, um den Frieden wieder herzustellen. Auch die US-Regierung von US-Präsident Joe Biden sprach sich bereits für eine internationale Truppe in ihrem „Hinterhof“ aus.

Patientin im MSF Hospital of Tabarre
MSF/Alexandre Marcou
Einer Frau musste ein Bein abgenommen worden – sie war in einer Schießerei von einem Querschläger getroffen worden

Doch die Bemühungen waren bis jetzt vergeblich. Der Grund: Niemand will einen Einsatz in Haiti anführen – zu groß sind offenbar die Risiken einer derartigen Friedensmission. Den USA steckt zudem noch der chaotische und von Gewalt begleitete Rückzug aus Afghanistan 2021 in den Knochen, auch hier stand zuletzt eine jahrelange „Friedensmission“ im Mittelpunkt – mit verheerenden Konsequenzen, so die „Washington Post“.

Entführungen zur Hauptverkehrszeit

Die untereinander schwer zerstrittenen Banden gehen laut BBC ihrem „Geschäft“ in einigen Fällen auch „geordnet“ nach. So ist die Hauptverkehrszeit in der Früh zwischen 6.00 und 9.00 Uhr auch die Hauptzeit für Entführungen. Menschen werden einfach auf dem Weg zur Arbeit von der Straße „geschnappt“. Auch die abendliche Hauptverkehrszeit von 15.00 bis 18.00 Uhr gilt als Hauptzeit für Entführungen. Das Lösegeld soll laut BBC zwischen 200 Dollar und einer Million Dollar liegen.

Die meisten Opfer kommen, wenn das Lösegeld bezahlt ist, auch lebend wieder zurück. Allerdings werden laut dem Bericht die Entführten gequält. So würden Männer etwa geschlagen oder mit geschmolzenem Plastik gefoltert, so Gedeon Jean vom haitianischen Zentrum für Menschenrechte. Frauen und Mädchen würden indes Opfer von Gruppenvergewaltigungen.

Korruption als Stütze für Banden

Unterstützung erhalten die Banden auch von korrupten Politikern und Richtern und Polizisten. Es habe schon immer Beziehungen zwischen Politikern und Banden gegeben, so die BBC. Diese Kollaborationen hätten sich aber hauptsächlich auf arme, bevölkerungsreiche Bezirke beschränkt. Seit der Wahl 2011 seien diese Beziehungen institutionalisiert worden, so James Boyard von Universität von Haiti zur BBC.

Die Banden würden zuerst „als Subunternehmer eingesetzt, um politische Gewalt zu erzeugen“. In den letzten Jahren ist das allerdings immer ärger geworden und hat sich auf alles Stadtteile bzw. auf ganz Haiti ausgedehnt.

„Es gibt keine Strafverfolgung“

Wenn ein Bandenmitglied verhaftet wird, könne ein Anruf seiner Unterstützer dafür sorgen, dass es unverzüglich freigelassen wird – und zwar mit seinen Waffen, so die BBC weiter. Menschenrechtsaktivisten sagten bereits, es gebe jede Menge Verbrechen, aber keine Strafen.

„Es gibt keine Strafverfolgung“, sagte auch Marie Rosy Auguste Ducena von Haitis National Human Rights Defense Network (RNDDH) zur BBC. „Richter wollen diese Fälle nicht bearbeiten. Sie werden von den Banden bezahlt.“ Manche Polizisten seien wie ein Unterstützungssystem für die Banden, „indem sie ihnen Panzerwagen und Tränengas zur Verfügung stellen“, so das Fazit von Ducena.