Eine Frau arbeitet an der Nähmaschine in einer Textilfirma in Bangladesh
Reuters/Andrew Biraj
Erster „Meilenstein“

Lieferkettengesetz nimmt Hürde in Brüssel

Das EU-Parlament hat am Donnerstag in Brüssel seine Position zum Lieferkettengesetz festgelegt. Um zu verhindern, dass gegen Menschenrechte und Umweltstandards verstoßen wird, sollen große europäische Unternehmen künftig die Produktion ihrer Lieferketten ins Visier nehmen. NGOs sprechen von einem „Meilenstein“. Ob es zu der Einigung kommen würde, schien kurz zuvor noch völlig unklar: Abgeordnete der Europäischen Volkspartei (EVP) hatten überraschend Abänderungsanträge eingebracht.

Nach Vorstellung des EU-Parlaments sollen die neuen Regeln auch für Firmen mit mehr als 250 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie für den Finanzsektor gelten. Konkret werden in dem Text des EU-Parlaments Unternehmen, unabhängig von ihrem Sektor, mit mehr als 250 Beschäftigten und einem weltweiten Umsatz von über 40 Millionen Euro sowie für Muttergesellschaften mit mehr als 500 Beschäftigten und einem weltweiten Umsatz von über 150 Mio. Euro miteinbezogen, geht aus einer Aussendung hervor.

Für Unternehmen mit Sitz außerhalb der EU soll ein Umsatz von mehr als 150 Mio. Euro gelten, wenn mindestens 40 Mio. in der EU erwirtschaftet wurden. Diese Unternehmen wären dann verpflichtet, negative Auswirkungen ihrer Tätigkeit auf die Menschenrechte und die Umwelt „zu ermitteln und erforderlichenfalls zu verhindern, zu beenden oder abzumildern“, heißt es in der Mitteilung des EU-Parlaments.

Ein Kind arbeitet in einer Werkstatt in Dhaka, Bangladesh
Reuters/Mohammad Ponir Hossain
Unternehmen in der EU sollen ihre Lieferketten etwa in Bezug auf Sklaven- und Kinderarbeit genauer kontrollieren

Auch müssten sie ihre „Partner in der Wertschöpfungskette überwachen und bewerten“ – dazu würden nicht nur Lieferanten, sondern unter anderem auch Verkauf, Vertrieb und Transport gehören. Produkte wie Kleidung und Handyakkus dürften in Europa „nicht auf Zwangsarbeit basieren“, so die Ankündigung von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Vorjahr.

Europäischer „Green Deal“

Der Europäische „Green Deal“ sieht vor, dass die EU-weiten Emissionen bis 2050 auf null reduziert werden. Das Ziel ist rechtlich verbindlich im EU-Klimagesetz verankert. Bis 2030 sollen die Nettotreibhausgasemissionen um mindestens 55 Prozent gegenüber 1990 gesenkt werden.

Nationale Aufsichtsbehörde geplant

Auch zu den ambitionierten Plänen des Europäischen „Green Deal“ sollen die Maßnahmen beitragen. So sollen Managerinnen und Manager das Geschäftsmodell und die Strategie ihres Unternehmens so ausrichten, dass das Ziel, die globale Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, erreicht wird. Es müssen nach Ansicht des EU-Parlaments Beschwerdemechanismen eingeführt werden und die Informationen über die Sorgfaltspflicht auf der Unternehmenswebsite verfügbar sein.

Verstoßen die Unternehmen gegen die Regelungen, sollen sie durch nationale Aufsichtsbehörden sanktioniert werden können – etwa mit Geldstrafen in Höhe von fünf Prozent des weltweiten Nettoumsatzes. Nicht-EU-Unternehmen könnten von der öffentlichen Auftragsvergabe in der EU ausgeschlossen werden.

Die Verhandlungsposition wurde mit 366 Ja-Stimmen, 225 Nein-Stimmen und 38 Enthaltungen angenommen. Die ÖVP-EU-Abgeordneten stimmten mit Ausnahme von Othmar Karas dagegen. Karas sowie die drei freiheitlichen EU-Mandatare enthielten sich. Dafür votierten die SPÖ, die Grünen und NEOS.

Menschen- und Umweltschutzorganisationen zufrieden

Zufrieden mit dem Votum des EU-Parlaments zeigte sich die Menschenrechtsorganisation Südwind. Man hoffe, dass die fortschrittliche Position sich in den weiteren Verhandlungen durchsetzen werde. Zwar seien die Themen Umwelt und Klima nach wie vor unterrepräsentiert, prinzipiell sei die Abstimmung aber ein „Meilenstein“, so Stefan Grasgruber-Kerl gegenüber ORF.at.

Es gebe „wesentliche Verbesserungen“ im Vergleich zum Kommissionsvorschlag und zur Position des Rates. „Zuvor wären laut Arbeiterkammer in Österreich nur 0,06 Prozent der Unternehmen betroffen gewesen, jetzt sind es wesentlich mehr.“

Ein Feuerwehrmann in einer abgebrannten Fabrik 2013
Reuters/Andrew Biraj
Bei dem Einsturz der Textilfabrik Rana Plaza 2013 kamen 1.135 Menschen ums Leben

Vorfälle wie den Einsturz der Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch 2013, bei dem 1.135 Menschen getötet und 2.438 verletzt wurden, werde man zwar nicht verhindern können. Dennoch sei es ein wesentlicher Schritt für die „Menschenrechte im Globalen Süden und Norden und für verlässliche Lieferketten“. Auch in Bulgarien, Rumänien und in Italiens Lederindustrie würden derzeit Menschenrechte verletzt.

Beweislast bei Betroffenen „große Kehrseite“

„Bisher haben sich Klimaverschmutzung und Menschenrechtsverletzung wirtschaftlich gelohnt. Wenn die EU-Position so umgesetzt wird, wäre das ein echter Fortschritt – weil Nachhaltigkeit belohnt wird und nicht bestraft“, so auch Hannah Keller von der Umweltschutzorganisation Global 2000 gegenüber ORF.at.

Dass das EU-Parlament die Anforderungen für Unternehmen statt ab 500 Mitarbeitern ab 250 Mitarbeiter vorsehe, sei eine positive Verbesserung – ebenso die Berücksichtigung der Pariser Klimaziele. Dass die Beweislast auf der Seite der Betroffenen liege, sei jedoch problematisch.

Ein Feuerwehrmann löscht einen Brand bei einer Fabrik 2021
Reuters/Mohammad Ponir Hossain
Auch 2021 kam es in einer Textilfabrik in Bangladesch zu einem Brand

Auch Ursula Bittner von Greenpeace Austria bezeichnet die „Hürden für Betroffene“ als „große Kehrseite“. Begrüßenswert sei aber die Chance auf „fairen Wettbewerb“ und dass es der EVP nicht gelungen sei, das Gesetz mit Blick auf den Klimaschutz „zu verwässern“.

EVP mit „neuer ablehnender Haltung“

Dass die Position so kurzfristig noch auf der Kippe gestanden war und derartigen Streit verursacht hatte, sei nicht zu erwarten gewesen, so die „Süddeutsche Zeitung“ („SZ“). Die Reihe von Änderungsanträgen konservativer Abgeordneter, die die Parlamentsposition im letzten Moment noch abschwächen wollten, stünde aber im Kontext einer „neuerdings insgesamt ablehnenden Haltung der EVP“. Auch gegen Teile des „Green New Deal“ hatte sich die EVP, darunter ÖVP-Europaabgeordnete Simone Schmiedtbauer, zuletzt ausgesprochen.

Kritik an der Parlamentsposition kam am Donnerstag umgehend von ÖVP-EU-Delegationsleiterin Angelika Winzig. Diese sei „nicht zielführend, sondern beinhaltet nicht umsetzbare Maßnahmen und Belastungen für unsere Betriebe“, so Winzig laut Mitteilung. „Grundsätzlich muss es die Aufgabe jedes Staates sein, mit seinen Gesetzen zu garantieren, dass die Verletzung von Menschenrechten, Umweltstandards oder Sozialrechten vermieden bzw. bestraft wird.“

WKO und IV fordern Nachbesserungen

„Nachbesserungen“ forderte auch der Generalsekretär der Wirtschaftskammer Österreich (WKO), Karlheinz Kopf. „Wir appellieren insbesondere an die verhandelnden Mitgliedsstaaten im Rat, sich für einen praktikablen und verhältnismäßigen Rechtsrahmen einzusetzen. Die EU muss als zukunftsfähiger und wirtschaftsfreundlicher Standort erhalten bleiben“, forderte Kopf.

Die Industriellenvereinigung (IV) erklärte: „Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht – überlappende Regelungen und weitreichende Belegpflichten erschweren wirtschaftliches Handeln und nehmen Unternehmerinnen und Unternehmer in ungerechtfertigte Pflicht.“

Verantwortung als Wettbewerbsvorteil

Laut Andre Martinuzzi, Leiter des Instituts für Nachhaltigkeitsmanagement an der Wirtschaftsuniversität (WU) Wien, könnten digitale Technologien wie Blockchain und Artificial Intelligence dazu beitragen, „dass der Aufwand für Administration, Prüfvorgänge und Qualitätssicherung für die Unternehmen im Rahmen bleibt“. Die meisten Unternehmen würden sich standardisierte, einheitliche Vorgaben wünschen, um Doppelarbeiten zu vermeiden.

Verantwortung könne zudem durchaus auch einen Wettbewerbsvorteil darstellen, wenn sie „nicht nur als Pflicht oder gesellschaftliches Anliegen, sondern als Chance und damit als strategischer Erfolgsfaktor begriffen wird“, so Martinuzzi gegenüber ORF.at. Wer eng mit Liefernetzwerken zusammenarbeite, sei verlässlicher, rascher, kundenorientierter – und damit auch für Kunden und industrielle Abnehmer attraktiver.

Sozialdemokraten und Grüne sehen historischen Schritt

Freude herrschte unterdessen bei den Sozialdemokraten und den Grünen sowie Arbeiterkammer (AK). SPÖ-EU-Abgeordnete Evelyn Regner sprach von einem „Paradigmenwechsel“. Die Sozialdemokraten wären zwar „gerne noch in einigen Bereichen weitergegangen“, aber mit dem heutigen Bericht sei schon „viel erreicht“.

Der grüne EU-Abgeordnete Thomas Waitz sieht in der Abstimmung einen „historischen Schritt für mehr Transparenz für Konsumenten und Konsumentinnen, mehr Verantwortung und Handhabe im Kampf gegen Kinderarbeit und ausbeuterische Praxis von Großkonzernen“. Scharfe Kritik übte Waitz an der EVP, diese erweise sich zunehmend als „unzuverlässige Verhandlungspartnerin“.

Trilog

Als Trilog werden informelle Verhandlungstreffen zwischen Vertretern der drei am EU-Gesetzgebungsprozess beteiligten Organe – Kommission, Parlament und Ministerrat – bezeichnet. Sie sollen unter Vermittlung der Kommission zu einer Einigung zwischen Europäischem Parlament (EP) und Ministerrat und zu einem Gesetzesvorschlag führen.

Der Präsident des Österreichischen Gewerkschaftsbundes (ÖGB), Wolfgang Katzian, sieht in der Position des EU-Parlaments „wichtige ÖGB-Forderungen“ umgesetzt. „Jetzt geht es darum, weitere Verwässerungsversuche der Wirtschaftslobbyisten zu bekämpfen“, so Katzian in einer Aussendung.

Startschuss für Gesetzestextverhandlungen

In einem weiteren Schritt können die Verhandlungen über den finalen Gesetzestext zwischen EU-Parlament und den Mitgliedsländern beginnen. Kommt es zu einer Einigung, haben die Mitgliedsstaaten zwei Jahre Zeit, die Richtlinie in nationales Recht umzusetzen und der Kommission die entsprechenden Texte zu übermitteln.

Die EU-Staaten einigten sich bereits im Dezember auf eine allgemeine Ausrichtung. Österreich hatte sich enthalten. ÖVP-Wirtschaftsminister Martin Kocher forderte mehr Zeit, um Schutzstandards einerseits und Praktikabilität anderseits auszugleichen. „Erst nach Vorliegen des finalen Verhandlungsergebnisses können die Auswirkungen auf die österreichische Wirtschaft beurteilt werden“, hieß es dazu aus dem Wirtschaftsministerium auf Anfrage von ORF.at.