Flüchtlinge auf einem Boot in der Nähe der Insel Kreta
APA/AFP/Coastas Metaxakis
Verfahren bis Verteilung

Neuer Zündstoff in Debatte über EU-Asylpakt

Dass es einen Durchbruch bei der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) braucht, darüber ist man sich in der EU weitgehend einig. Beim „Wie“ scheiden sich vor dem EU-Innenministertreffen in Luxemburg am Donnerstag die Geister. Im Raum stehende Vorprüfungen von Asylanträgen an EU-Außengrenzen sowie eine „Freikaufoption“ für Staaten, die die Aufnahme von Flüchtlingen verweigern, riefen Kritikerinnen und Kritiker auf den Plan.

Gerade die Einigung über die Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU gilt seit Jahren als Mammutaufgabe. Mehrere Staaten weigern sich ganz oder großteils, Flüchtlinge aufzunehmen. Dafür könnte nun eine Lösung gefunden worden sein. Im Vorschlag der EU-Kommission und jenem der schwedischen Ratspräsidentschaft gehe es nicht um „verpflichtende Verteilung“, sondern um „verpflichtende Solidarität“, sagte etwa die EU-Innenkommissarin Ylva Johansson vor Journalistinnen und Journalisten in Brüssel.

Im Raum steht die Option, dass sich EU-Staaten von der Aufnahme Geflüchteter „freikaufen“ können. Zwischen 10.000 und 22.000 Euro könnte ein Staat pro nicht aufgenommenem Flüchtling zahlen müssen, berichtete „Politico“ mit Verweis auf Insider. Jene Summen würden als Kompensationszahlungen für Mitgliedsstaaten, die Geflüchtete unterbringen, fungieren. Möglich sind auch weitere Formen materieller Hilfe.

Stillschweigen in „Freikauffrage“

Die schwedische EU-Innenkommissarin Johansson wollte die kursierenden Zahlen am Dienstag nicht kommentieren. Es handle sich um einen Vorschlag der schwedischen Ratspräsidentschaft, sagte sie auf Nachfrage.

Österreich wolle nach Verabschiedung einer neuen europäischen Asylpolitik jedenfalls keine Migranten aus Drittstaaten mehr aufnehmen, sagte Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) noch Mitte Mai. Er ist der Ansicht, dass bei der künftigen Verteilung auch berücksichtigt werden müsse, wie viele Menschen ein Mitgliedsland in der Vergangenheit bereits aufgenommen habe.

Weiter geht Polen: Die Regierung in Warschau kündigte bereits an, weder Flüchtlinge aufzunehmen noch finanzielle Hilfe zu leisten. Eine Einigung könnte Polen alleine aber nicht verhindern. Im Rat der Mitgliedsstaaten genügt eine qualifizierte Mehrheit. Konkret heißt das 55 Prozent der Mitgliedsstaaten – derzeit also mindestens 15 –, die gleichzeitig zusammen mindestens 65 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU ausmachen.

EU-Innenkommissarin erwartet „Durchbruch“

„Was bei den Verhandlungen derzeit auf dem Tisch liegt, ist ausgewogen“, sagte Johansson zu Journalisten. Die Chance, dass es bei dem EU-Innenministertreffen am Donnerstag in Luxemburg zu einem „wichtigen Durchbruch“ bei der Reform des EU-Asyl- und -Migrationspakts kommt, ist ihren Worten zufolge „groß“. Bei einem Treffen der EU-Botschafter der Mitgliedsstaaten am Mittwoch könnte möglicherweise bereits eine Vorentscheidung fallen.

Alle Mitgliedsstaaten „in die Pflicht“ zu nehmen hält auch der Migrationsforscher Florian Trauner gegenüber ORF.at für „grundsätzlich sinnvoll“. „Wenn eine Regierung partout keine Asylsuchenden von Staaten mit höheren Antragszahlen aufnehmen will, dann kann diese Art von Geldzahlungen einen Ausgleich schaffen“, so Trauner.

Zweifel an „Freikaufoption“

Zweifel bleiben aber bestehen: Uneinigkeit herrscht Berichten zufolge über die Höhe der Ausgleichszahlungen, aber auch die damit einhergehenden menschenrechtlichen Implikationen. Einzelne Staaten wie Italien sind besorgt, dass die Hilfe in Form von Ausgleichszahlungen in der Realität ausbleibt. Auch in puncto Aufnahmekontigente bleiben Fragezeichen: Am Mittwoch berichtete „Politico“ von einem Entwurf für das Innenministertreffen, dem zufolge jährlich 30.000 Flüchtlinge verteilt werden könnten.

Angesichts gestiegener Zahlen von Ankünften Flüchtender sehen EU-Staaten derzeit dringenden Handlungsbedarf. Seit Monaten versuchen viele, von Nordafrika über das Mittelmeer in die EU zu gelangen. Nach Angaben aus Rom kamen seit Jänner mehr als 50.000 Menschen auf Booten nach Italien. Italien, Spanien aber auch Griechenland schlagen immer wieder Alarm. Das hängt auch mit dem Dublin-Abkommen zusammen. Diesem zufolge ist – zumindest theoretisch – das Land der Erstaufnahme für Asylverfahren und die Rücknahme Geflüchteter zuständig.

Frau und Kinder auf der Insel Lesbos
Reuters/Yara Nardi
In der Debatte über Asylverfahren an EU-Außengrenzen gibt es Rufe nach Ausnahmen für Minderjährige und Familien

Asylverfahren an Außengrenzen: Berlin will Ausnahmen

Tatsache ist, dass europaweit an einem restriktiven Asylkurs festgehalten wird: Bei der gemeinsamen europäischen Asylpolitik geht es neben einer gerechten Verteilung geflüchteter Menschen und einem einheitlichen Vorgehen bei Abschiebungen in sichere Dritt- oder Herkunftsstaaten, daher auch um einen besseren Schutz der Außengrenzen mit bereits dort eingeleiteten Asylverfahren.

Beim Innenministertreffen wird konkret die Frage behandelt, ob und unter welchen Rahmenbedingungen es Vorprüfungen von Asylanträgen an den EU-Außengrenzen geben soll. Laut Diplomaten soll es Schnellverfahren etwa für Geflüchtete mit geringen Aufnahmechancen geben, die bis zum Erhalt eines Bescheids in grenznahen Asylzentren festgehalten werden.

Österreich gilt etwa als Verfechter schneller Asylverfahren an EU-Außengrenzen. Deutschland ist offen dafür, will aber durchsetzen, dass Minderjährige unter 18 und Familien mit Kindern diese Verfahren nicht durchlaufen müssen.

„Schritt zu einem restriktiveren EU-Asylsystem“

„Die Idee dieser Vorprüfungen ist, dass Asylsuchende nicht mehr in Europa weiterreisen (können), um dann in einem von ihnen ausgesuchten Staat erneut einen Antrag zu stellen“, so Trauner. Unter Fachleuten sorgt das für Skepsis: Grenzverfahren würden „meist zulasten des Asylwerbers“ entschieden, kritisierte Migrationsforscherin Judith Kohlenberger. „Grenzverfahren haben eine fünfmal niedrigere Anerkennungsquote als reguläre Asylverfahren“, so Kohlenberger weiter.

Dem stimmt Trauner gegenüber ORF.at zu. Man riskiere Schnellverfahren, die „qualitativ weniger gründlich sind und zu mehr negativen Bescheiden“ führen: „Es kann daher als ein Schritt zu einem restriktiveren EU-Asylsystem angesehen werden“, so Trauner.

Der Experte glaubt auch, dass so eine Regel vor verschiedenen Gerichten angefochten werden würde. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hätte 2013 zwar ein mehrmonatiges Festhalten in maltesischen Transitlagern für rechtens erklärt, aber in anderen Urteilen von „unmenschlicher Behandlung“ von Migrantinnen und Migranten in Schubhaft an der EU-Außengrenze gesprochen, merkt Trauner an. „Es wird daher darauf ankommen, was genau ausverhandelt wird, ob so eine Regelung rechtskonform ist.“

Wenig Zuversicht äußerte der Rat für Migration, dem fast 200 Fachleute angehören. Vielmehr befürchtet dieser eine Verschärfung der Lage. Forschungen zu bereits in Pilotprojekten umgesetzten Maßnahmen der EU-Asylreform zeigten, „dass diese nicht menschenrechtskonform umgesetzt werden können“, teilte dieser mit.

Es sei zu erwarten, dass die Vorschläge weitere Anreize für Staaten an den Außengrenzen schafften, noch stärker illegale Zurückweisungen vorzunehmen und Schutzsuchende an den Grenzen zu inhaftieren. Auch bliebe das Grundproblem des Dublin-Systems bestehen.

NGOs sorgen sich um Kinder

Alarmiert zeigten sich mehrere NGOs. Sollten im Zuge der Grenzverfahren auch geflüchtete Kinder und Jugendliche von Inhaftierung oder haftähnlicher Unterbringung betroffen sein, verstoße das gegen das in der UNO-Kinderrechtskonvention verankerte Recht auf Schutz vor Folter und Freiheitsentzug, kritisierten Amnesty International Deutschland und das Deutsche Kinderhilfswerk.

„Wenn wir bereit sind, geflüchtete Kinder in Haftlagern unterzubringen, geben wir im Kern unsere europäischen Werte auf. Kinderrechte, Freiheit und Humanität dürfen nicht in einem politischen Kuhhandel eingetauscht werden“, sagte Marvin Mc Neil von der Organisation Save the Children Deutschland.

Kritik an Forderung nach Asylverfahren in Drittstaaten

Dass es zu einer Abstimmung über die von Österreich mehrfach geforderten Asylzentren und Asylverfahren in sicheren Drittstaaten kommen wird, zeichnete sich im Vorfeld des Innenministertreffens nicht ab. Asylverfahren nach britischem Vorbild in Drittstaaten zu verlagern sei nicht mit den Menschenrechten vereinbar, hatte UNO-Menschenrechtskommissar Volker Türk jüngst etwa gewarnt.

Seit 20 Jahren gebe es seitens EU-Politikerinnen und -Politikern immer wieder Rufe nach der Auslagerung von EU-Asylverfahren, merkt Migrationsforscher Trauner an. Politisch sei das angesichts des Widerstands aus Drittstaaten de facto nicht umsetzbar. Zudem gebe es „schwierige menschenrechtliche und administrative Fragen, die noch ungeklärt“ sind, so Trauner.

Für mehr Kooperation zwischen der EU-Grenzschutzagentur Frontex und Marokko, Mauretanien und Senegal machte sich indes die EU-Kommission stark. Wenn Nicht-EU-Staaten illegal eingereiste Menschen zurücknehmen, sollen sie verstärkt von Investitionen profitieren, hieß es bei der Präsentation eines Aktionsplans gegen illegale Migration und Schlepperkriminalität.

Abschluss vor EU-Wahl?

Aber zurück zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems: Legt der Rat der EU-Innenministerinnen und -minister seine Position fest, so können schon bald die Verhandlungen mit dem EU-Parlament starten. Bis Februar 2024 sollen jene immerhin abgeschlossen sein. Dann startet nämlich der Wahlkampf für die EU-Wahlen im Juni.