Satellitenbild des zerstörten Staudamms
AP/Planet Labs PBC
Russland beschuldigt

Dammsprengung mit unabsehbaren Folgen

Nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms im Süden der Ukraine sind Orte in der Region Cherson überflutet und evakuiert worden. Die gesamte Stadt Nowa Kachowka am Staudamm wurde nach russischen Angaben überflutet. Russland und die Ukraine machten sich gegenseitig für die Zerstörung verantwortlich. Die Folgen der Überflutungen sind unklar – auch für die Kühlung des Atomkraftwerks Saporischschja.

Die von Russland eingesetzten Behörden in der besetzten ukrainischen Oblast Cherson teilten am Dienstag mit, die Evakuierung des Gebiets am Fluss Dnipro habe begonnen. Insgesamt seien 14 Orte und mehr als 22.000 Menschen von Überflutungen bedroht, erklärte der von Moskau eingesetzte Verwaltungschef der Region Cherson, Andrej Alexejenko, am Dienstag.

Auf der Flussseite unter ukrainischer Kontrolle haben die ukrainischen Behörden die Evakuierung von rund 17.000 Menschen eingeleitet. Für Gegenden mit insgesamt mehr als 40.000 Einwohnerinnen und Einwohnern bestehe Überflutungsgefahr, erklärte der ukrainische Generalstaatsanwalt Andrij Kostin. Militärgouverneur Olexander Prokudin berichtete von zunächst acht Ortschaften, die ganz oder teilweise unter Wasser stünden. Angaben über Tote oder Verletzte gibt es noch nicht.

Überflutung Zentrum von Nowa Kachowka
IMAGO/TASS/Alexei Konovalov
Die Stadt Nowa Kachowka ist vollständig überflutet

Stadt überflutet

Der Staudamm ist der russischen Nachrichtenagentur TASS zufolge auf der Hälfte seiner Länge zerstört. Die Fluten seien unkontrollierbar. Auf Videos in den sozialen Netzwerken war zu sehen, wie Wasser durch die Überreste des Damms strömte. Der Wasserpegel des Flusses stieg binnen weniger Stunden um mehrere Meter. Wie viel Wasser aus dem riesigen Stausee in den nächsten Tagen noch abfließen wird und welche Folgen das hat, ist noch unklar.

In der Stadt Nowa Kachowka, die direkt am Staudamm liegt, riefen die russischen Besatzer den Notstand aus. Das Wasser sei bereits um zwölf Meter angestiegen, sagte der von Russland eingesetzte Bürgermeister Wladimir Leontjew am Dienstag im russischen Staatsfernsehen. „Die Stadt ist überflutet.“ Auch das an den Staudamm angrenzende und völlig zerstörte Wasserkraftwerk stehe unter Wasser.

Beschädiger Damm bei Cherson
AP/Planet Labs PBC
Auch das Wasserkraftwerk wurde völlig zerstört

In der Stadt Cherson leben die Menschen seit Monaten unter russischem Artilleriefeuer. Luftaufnahmen zeigten, dass dort im Stadtteil Korabel von vielen eingeschoßigen Häusern nur noch das Dach aus dem Wasser ragte. Zur Lage am flachen Südufer in russischer Hand gab es kaum Informationen.

Selenskyj: „Ökologische Massenvernichtungswaffe“

Die russischen Truppen sprengten nach den Worten des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj das Kachowka-Wasserkraftwerk von innen heraus. In der Nacht um 2.50 Uhr hätten „russische Terroristen“ eine interne Sprengung des Wasserkraftwerks vorgenommen, erklärte der Präsident auf Telegram.

Selenskyj sieht in der Zerstörung des Damms die Bestätigung für die Notwendigkeit, die russischen Streitkräfte aus der gesamten Ukraine zu vertreiben. „Russische Terroristen. Die Zerstörung des Staudamms des Wasserkraftwerks Kachowka beweist der ganzen Welt nur, dass sie aus jedem Winkel des ukrainischen Landes vertrieben werden müssen“, schrieb Selenskyj auf Telegram. Russland habe eine „ökologische Massenvernichtungswaffe gezündet“. „Das ist die größte menschengemachte Umweltkatastrophe in Europa seit Jahrzehnten“, sagte Selenskyj.

Selenskyj verweist auf russische Kontrolle

Durch die Sprengung des Staudamms gelangten nach Angaben der ukrainischen Führung mindestens 150 Tonnen Maschinenöl in den Fluss Dnipro. 300 weitere Tonnen Öl drohten noch auszulaufen, hieß es am Dienstag am Rande einer von Selenskyj einberufenen Sitzung des nationalen Sicherheitsrats.

Selenskyj wies die vom Kreml verbreitete Behauptung zurück, die Ukraine habe den Damm selbst zerstört und damit eine verheerende Flutwelle verursacht. „Russland kontrolliert den Kachowka-Damm mit dem Wasserkraftwerk seit über einem Jahr“, sagte er nach Angaben seines Präsidialamtes. „Und es ist physisch unmöglich, ihn von außen, durch Beschuss, zu zerstören.“ Der Staudamm sei von russischen Soldaten vermint worden. „Und sie haben ihn gesprengt.“

Einwohnerin watet durch Überflutung in Cherson
AP/Evgeniy Maloletka
Die Behörden wollen Menschen in den betroffenen Gebieten in Sicherheit bringen

US-Medienberichte mit Hinweisen auf Russland

Einem Bericht des Senders NBC zufolge deuten US-Geheimdiensterkenntnisse darauf hin, dass Russland hinter der Zerstörung des Staudamms steckt. Das Weiße Haus ließ am Dienstag wissen, dass man bisher nicht abschließend sagen könne, was die Zerstörung des Staudamms verursacht habe.

Es würden aber Berichte geprüft, wonach die Explosion von Russland verursacht worden sei. Der Sprecher des Weißen Hauses, John Kirby, befürchtet „viele Tote“ und dramatische Auswirkungen auf die Energiesicherheit der Ukraine.

Kreml beschuldigt Ukraine

Der Kreml beschuldigte indes die Ukraine der Zerstörung des Staudamms. „Wir erklären offiziell, dass es sich hier eindeutig um eine vorsätzliche Sabotage der ukrainischen Seite handelt, die auf Befehl (…) des Kiewer Regimes geplant und ausgeführt wurde“, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Dienstag. Beweise für die Anschuldigungen legte er nicht vor. Präsident Wladimir Putin werde über alle Entwicklungen informiert, sagte Peskow.

Auch Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu beschuldigte die Ukraine, den Damm gesprengt zu haben. Damit habe ein russischer Angriff auf die Region nahe Cherson verhindert werden sollen, heißt es in einer Erklärung seines Ministeriums. Gleichzeitig soll dadurch ermöglicht werden, dass die Ukraine „Einheiten und Material von der Front in Cherson in das Gebiet des Offensiveinsatzes“ verlagere. Belege lieferte Schoigu nicht.

Ukraine: Staudamm zerstört

In der Nacht auf Dienstag wurde der Kachowka-Staudamm nahe der Stadt Cherson zerstört. Die Schuld geben sich Russland und die Ukraine gegenseitig. Es werden großflächige Überschwemmungen erwartet und daher startete man auch schon mit Evakuierungen.

Folgen für Gegenoffensive?

Welche Auswirkungen der Dammbruch auf die von der Ukraine angekündigte Gegenoffensive sowie auf die Wasserversorgung der bereits 2014 von Russland annektierten Halbinsel Krim haben könnte, ist noch unklar. Kiew sieht die Sprengung als Versuch, die geplante ukrainische Offensive auszubremsen. Zugleich versicherten die Streitkräfte, sich nicht von der Befreiung besetzter Gebiete abhalten zu lassen. Die Ukraine verfüge über „alle notwendigen Boote und Pontonbrücken, um Wasserhindernisse zu überwinden“. Man habe damit maximal zwei Wochen verloren.

„Die Explosion des Damms hat nicht die Fähigkeit der Ukraine beeinträchtigt, seine eigenen Gebiete von der Besatzung zu befreien“, sagte Selenskyj. Der Militärexperte Markus Reisner vermutet, dass die russischen Besatzer den Staudamm gesprengt haben, um so die geplante ukrainische Gegenoffensive zu behindern. „Die Anlandung amphibischer Kräfte ist nicht möglich.“

Scharfe Kritik aus dem Westen

Scharfe Kritik an Russland kam aus dem Westen: NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hielt Russland vor, Tausende Zivilisten zu gefährden und schwere Umweltschäden in Kauf zu nehmen. „Das ist eine ungeheuerliche Tat, die einmal mehr die Brutalität von Russlands Krieg in der Ukraine demonstriert.“ EU-Ratspräsident Charles Michel zeigte sich schockiert über einen „beispiellosen Angriff“. Der britische Außenminister James Cleverly sprach von einem „Kriegsverbrechen“.

Wehrschütz (ORF) über zerstörten Staudamm

ORF-Korrespondent Christian Wehrschütz spricht unter anderem über den zerstörten Staudamm in der Ukraine und wie bedrohlich die Situation in der Region ist. Außerdem berichtet er, wie sehr Russland militärisch davon profitiert.

Vor dem UNO-Sicherheitsrat wiesen sich Kiew und Moskau gegenseitig die Schuld an der Zerstörung des Damms zu. Der ukrainische UNO-Botschafter Serhij Kislizia sprach von einem „Akt des ökologischen und technologischen Terrorismus“. Der russische UNO-Botschafter Wassili Nebensja warf Kiew hingegen „vorsätzliche Sabotage“ vor.

Nebensja hatte zuvor erklärt, dass Hilfskräfte der UNO nur auf das von Moskau kontrollierte Gebiet gelassen würden, wenn sie über Russland dorthin reisten. Die UNO warnte vor humanitären Folgen für „Hunderttausende Menschen“. Tausende Menschen hätten keinen Zugang zu Wasser, Nahrung und Grundversorgung.

Derzeit keine Gefahr für AKW Saporischschja

Für das nordöstlich gelegene Atomkraftwerk Saporischschja besteht laut Internationaler Atomenergiebehörde (IAEA) nach der Zerstörung des Staudamms vorerst keine unmittelbare Gefahr. In dem von Russland besetzten AKW würden jedoch Maßnahmen zum Weiterbetrieb der Kühlsysteme getroffen, die normalerweise mit dem aufgestauten Wasser gespeist werden, sagte IAEA-Chef Rafael Grossi am Dienstag in Wien.

„IAEA-Experten am Atomkraftwerk Saporischschja beobachten die Situation genau“, teilte Grossis Behörde auf Twitter mit. Wegen des Dammbruchs fällt laut Grossi der Wasserstand in einem Reservoir für die Kühlsysteme, die ein gefährliches Überhitzen der Reaktorkerne und des Atommülls in Saporischschja verhindern. Das Wasser aus dem Reservoir reiche noch für „einige Tage“. Außerdem stehe ein Kühlbecken neben dem AKW-Gelände zur Verfügung, das weiteres Wasser für einige Monate enthalte.

Auch ein Sprecher des russischen Atomkonzerns Rosenergoatom sagte der Agentur Interfax, das AKW sei nicht betroffen. Der ukrainische Atomkonzern Enerhoatom sah den Betrieb des Atomkraftwerks durch die Zerstörung des Staudamms ebenfalls vorerst nicht gefährdet. „Wir schätzen die Lage nicht als kritisch ein, da das AKW Saporischschja über ein eigenes Kühlbecken verfügt, das nicht mit dem Kachowka-Stausee verbunden ist“, sagte Enerhoatom-Leiter Petro Kotin in einem Fernsehinterview.