Menschen werden mit Schlauchbooten in Sicherheit gebracht
AP/Felipe Dana
Kachowka-Staudamm zerstört

Zehntausende von Überflutungen bedroht

Nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms sind ukrainischen Angaben zufolge etwa 42.000 Menschen von Überschwemmungen bedroht. Auch russische Besatzer sprechen von bis zu 40.000 Betroffenen im von ihnen kontrollierten Teil des Gebiets Cherson. 100 Menschen seien eingeschlossen, sieben würden vermisst. Der Dammbruch werde „schwerwiegende und weitreichende Folgen für Tausende“ haben, so auch der UNO-Nothilfekoordinator Martin Griffiths am Dienstag (Ortszeit) vor dem Sicherheitsrat in New York.

Nach vorläufigen Prognosen seien es „zwischen 22.000 und 40.000“ Betroffene, sagte der von Moskau in Cherson eingesetzte Verwaltungschef Wladimir Saldo am Mittwochvormittag im russischen Staatsfernsehen auf die Frage, wie viele Menschen im Katastrophengebiet lebten. Der Besatzungschef der Staudammstadt Nowa Kachowka, Wladimir Leontjew, sagte zudem, dass dort rund 100 Menschen von den Wassermassen eingeschlossen seien und gerettet werden müssten.

Sieben Anrainerinnen und Anrainer werden den Angaben zufolge derzeit vermisst, rund 900 sollen angeblich schon in Sicherheit gebracht worden sein. Leontjew sprach zudem von mehreren komplett oder teilweise überfluteten Orten. „Der Ort Korsunka steht – mit Ausnahme der letzten Straße – komplett unter Wasser“, sagte er im russischen Fernsehen.

Zehntausende von Überflutungen bedroht

Nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms sind ukrainischen Angaben zufolge etwa 42.000 Menschen von Überschwemmungen bedroht. Der Dammbruch werde „schwerwiegende und weitreichende Folgen für Tausende von Menschen“ haben, so auch der UNO-Nothilfekoordinator Martin Griffiths vor dem Sicherheitsrat in New York. Das tatsächliche Ausmaß der Katastrophe werde wohl in den kommenden Tagen sichtbar.

Notstand in Cherson ausgerufen

Einen Tag nach der Zerstörung des Staudamms am Dienstag verhängten die russischen Besatzungsbehörden den Notstand in dem von Russland kontrollierten Teil der Region Cherson, meldete die russische Nachrichtenagentur TASS unter Berufung auf Rettungsdienste.

Mehr als 30.000 Kubikmeter Wasser pro Sekunde strömten aus dem Stausee, so Leontjew. Das Ausmaß der Katastrophe sei riesig. In einem Nationalpark seien Tausende Tiere verendet. In seiner Stadt drohe die Gefahr von Seuchen. Aus Kreisen der Einsatzkräfte berichtete die russische Agentur RIA, ein Friedhof sowie eine Sammel- und eine Desinfektionsstelle für Tierkadaver seien überflutet.

Steigende Wasserstände erwartet

Die ukrainischen Behörden im Gebiet Cherson erwarten indes weiterhin steigende Wasserstände. Bis Donnerstagvormittag werde das Wasser noch um einen Meter ansteigen, sagte der Sprecher der Chersoner Militärverwaltung, Olexander Tolokonnikow, am Mittwoch im ukrainischen Fernsehen. Zugleich sagte er, dass der Staudamm weiter breche, weshalb das Wasser noch steigen könne. Das Wasser fließt aus dem Stausee über die schwer beschädigte Staumauer ab.

In der Großstadt Cherson stieg das Wasser laut Behörden um mehr als zwei Meter, die ersten Etagen von Gebäuden sind überschwemmt. Die Evakuierung der Bewohner laufe, hieß es. Teils waren Helfer in der Region in Booten unterwegs auf der Suche nach Menschen, die womöglich auf Dächern ihrer überschwemmten Häuser ausharren, um gerettet zu werden. In sozialen Netzwerken gab es Videos von Menschen, die verzweifelt auch ihre durchnässten Hunde, Katzen und anderen Haustiere in Sicherheit bringen wollten.

Satellitenaufnahme zeigt die Überflutung entlang des Flusses Dnipro
Satellitenaufnahme zeigt die Überflutung entlang des Flusses Dnipro
APA/AFP/Maxar Technologies APA/AFP/Maxar Technologies
Der Kachowka-Staudamm ist bei einer Explosion großteils zerstört worden

Selenskyj: Hunderttausende ohne Trinkwasser

Hunderttausende Menschen sind zudem laut Angaben des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj durch den Bruch des Staudammes und die Überschwemmungen von der Trinkwasserversorgung abgeschnitten. „Die Zerstörung eines der größten Wasserreservoirs der Ukraine ist absolut vorsätzlich geschehen“, teilte er auf Telegram mit. „Hunderttausende Menschen haben keinen normalen Zugang zu Trinkwasser.“

„Unsere Dienste, alle, die helfen können, sind bereits im Einsatz“, schrieb Selenskyj am Mittwoch im Kurznachrichtendienst Twitter. „Aber wir können nur in dem Gebiet helfen, das von der Ukraine kontrolliert wird.“ Der Großteil der Region steht unter russischer Besatzung, wo die Behörden nun den Ausnahmezustand verhängten. Selenskyj warf den Besatzern vor, sich nicht um die Not der Menschen zu kümmern.

Klymenko: 1.000 Menschen bereits gerettet

Selenskyj sagte, dass nach der Zerstörung des Dammes 80 Städte und Dörfer überflutet werden könnten. Der ukrainische Innenminister Ihor Klymenko sagte im ukrainischen Fernsehen, dass bisher etwa 1.000 Menschen in Sicherheit gebracht und 24 Siedlungen überflutet worden seien. „Die Bewohner sitzen auf den Dächern ihrer Häuser und warten auf ihre Rettung. Das sind russische Verbrechen gegen Menschen, die Natur und das Leben an sich“, schrieb Kuleba auf Telegram.

Er beschuldigte Russland, die südliche Region Cherson, aus der die Menschen gerettet wurden, mit Granaten zu beschießen, und warnte vor den Gefahren, die von Minen ausgehen, die durch den steigenden Wasserspiegel freigelegt werden.

Ukrainische Behörden hatten am Dienstag die Rettung von rund 17.000 Menschen eingeleitet, auf der von Russland besetzten Seite sollten weitere 25.000 Menschen fortgebracht werden. Für Gegenden mit insgesamt mehr als 40.000 Einwohnerinnen und Einwohnern bestehe Überflutungsgefahr, sagte der ukrainische Generalstaatsanwalt Andrij Kostin.

Menschen verlassen das überschwemmte Gebiet
AP/Libkos
Einwohner tragen ihre Habseligkeiten, während sie aus einem überfluteten Viertel in Cherson gebracht werden

Humanitäre Folgen für „Hunderttausende Menschen“

Der in russisch besetztem ukrainischem Gebiet liegende Staudamm war bei einer Explosion in der Nacht auf Dienstag teilweise zerstört worden, große Mengen Wasser traten aus. Die USA warnten vor „womöglich vielen Toten“, die UNO sprach von humanitären Folgen für „Hunderttausende Menschen“. Der Dammbruch werde gravierende Folgen für Menschen „auf beiden Seiten der Front“ haben, so UNO-Nothilfekoordinator Griffiths. Viele Menschen würden „ihre Häuser, Nahrungsmittel, sauberes Wasser und ihre Lebensgrundlage verlieren“.

Der Staudamm ist der russischen Nachrichtenagentur TASS zufolge auf der Hälfte seiner Länge zerstört. Die Fluten seien unkontrollierbar. Videos zeigen, wie Wasser durch die Überreste des Dammes strömte. Der Wasserpegel des Flusses stieg binnen weniger Stunden um mehrere Meter. Wie viel Wasser aus dem riesigen Stausee in den nächsten Tagen noch abfließen wird und welche Folgen das hat, ist noch unklar.

In der Stadt Nowa Kachowka, die direkt am Staudamm liegt, riefen die russischen Besatzer den Notstand aus. Das Wasser sei bereits um zwölf Meter gestiegen, sagte Leontjew am Dienstag im russischen Staatsfernsehen. „Die Stadt ist überflutet.“ Auch das an den Staudamm angrenzende und völlig zerstörte Wasserkraftwerk stehe unter Wasser.

Eine Frau wird von Rettungskräften versorgt
Reuters
Freiwillige des Roten Kreuzes helfen einer älteren Frau bei der Evakuierung von Teilen Chersons

Gegenseitige Schuldzuweisungen

Die Ukraine und Russland machten einander für die Zerstörung des Dammes verantwortlich. Beide Seiten sprachen von einem „Terroranschlag“ und einer beispiellosen Katastrophe für die Umwelt. Kiew warf russischen Truppen vor, das Wasserkraftwerk und den Staudamm vermint und gesprengt zu haben. Moskau wiederum behauptete, die Anlage sei durch ukrainischen Beschuss zerstört worden, und forderte eine internationale Untersuchung.

Die USA und Großbritannien äußerten sich bei der Bewertung des Dammbruchs unterdessen zurückhaltend. In Washington sagte der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats des Weißen Hauses, John Kirby, die USA könnten die Lage noch nicht abschließend bewerten.

„Wir versuchen weiter Informationen zu sammeln und mit den Ukrainern zu sprechen“, sagte er. Er gehe davon aus, dass die Überschwemmungen wahrscheinlich „viele Todesfälle“ mit sich bringen werden.

Sunak: „Größter Angriff auf zivile Infrastruktur“

Britische Geheimdienste rechnen in den kommenden Tagen mit weiteren Folgen. „Die Struktur des Dammes wird sich in den nächsten Tagen voraussichtlich weiter verschlechtern, was zu weiteren Überschwemmungen führen wird“, teilte das britische Verteidigungsministerium am Mittwoch mit. Auf Fotos und Videos habe es den Anschein, dass ein Teil der Staumauer noch steht.

Man könne derzeit „nicht sagen, ob Vorsatz dahintersteckt“, sagte der britische Premierminister Rishi Sunak vor seiner Abreise zu einem Treffen mit US-Präsident Joe Biden. Es sei „zu früh“, um ein „endgültiges Urteil“ zu dem Dammbruch abzugeben, so Sunak weiter.

Ein LKW  bringt Menschen aus den überschwemmtem Gebiet weg
Reuters
Ein Lkw bringt Menschen aus überschwemmtem Gebiet weg

Sunak nannte die Zerstörung des Staudamms den „größten Angriff auf zivile Infrastruktur“ seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Sollte Moskau hierfür verantwortlich sein, wäre das laut dem britischen Premier ein Beleg für „neue Tiefpunkte russischer Aggression“.

Zerstörung ziviler Infrastruktur „Kriegsverbrechen“

Auch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg verurteilte die Zerstörung scharf. Sie gefährde Tausende Zivilisten und verursache schwere Umweltschäden, schrieb er auf Twitter. EU-Ratspräsident Charles Michel schrieb: „Die Zerstörung ziviler Infrastruktur gilt klar als Kriegsverbrechen – und wir werden Russland und seine Stellvertreter zur Verantwortung ziehen.“

Der ukrainische Generalstab bezeichnete die Sprengung des Staudamms am Mittwoch als russisches Kriegsverbrechen. Ziel sei es gewesen, den Vormarsch der ukrainischen Truppen in der Region zu verhindern, teilte der Stab in seinem Morgenbulletin in Kiew mit.

Fachleute vermuten interne Explosion

Militärexperte Markus Reisner vermutet, dass die russischen Besatzer den Staudamm gesprengt haben, um so die geplante ukrainische Gegenoffensive zu behindern. „Die Anlandung amphibischer Kräfte ist nicht möglich“, sagte der Militäranalyst des Bundesheeres am Dienstag im ZDF-„Mittagsmagazin“.

Fachleute des US-Thinktanks Institute for the Study of War (ISW) in Washington gehen angesichts der Beweise und der Argumente davon aus, dass Russland den Staudamm absichtlich zerstört hat. Zugleich wiesen sie darauf hin, dass eine endgültige Bewertung der Verantwortung derzeit nicht möglich sei.

Auch die „New York Times“ („NYT“) zitiert Ingenieur- und Munitionsexperten, die ein strukturelles Versagen oder einen Angriff von außen als mögliche, aber weniger plausible Erklärung erachten. Eine absichtliche Explosion im Inneren des Staudamms habe höchstwahrscheinlich dessen Zusammenbruch verursacht, so die Einschätzung der Fachleute.