Migranten an der Grenze zwischen Polen und Belarus
Reuters/Agnieszka Sadowska
Asylkompromiss

Entsetzen und Erleichterung in EU-Staaten

Die 27 EU-Innenministerinnen und -minister haben sich am Donnerstagabend nach zähen Verhandlungen in einem Kompromiss auf strengere Asylregeln geeinigt. Während die einen darin einen „historischen Schritt“ sehen, sprechen die anderen von einem „historischen Fehler“. Nach der Einigung können die Verhandlungen mit dem EU-Parlament beginnen – dabei könnte es noch zu Änderungen kommen.

Nicht weniger als „historisch“ sei die Einigung der EU-Innenminister, sagten etwa Schwedens Migrationsministerin Maria Malmer Stenergard und die deutsche Innenministerin Nancy Faeser Donnerstagabend. Unter vielen Innenministerinnen und -ministern herrschte in einer ersten Reaktion auf den Kompromiss Erleichterung. Tatsächlich wird seit Jahren um eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) gerungen. Entsprechend hart wurde auch beim Innenministertreffen um Abänderungen aller Art gekämpft.

Am Ende stimmten aber nicht alle dem Kompromiss zu – Ablehnung kam etwa aus Polen und Ungarn. Der Kompromiss sei „inakzeptabel“, sagte der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban. Brüssel wolle Ungarn „gewaltsam in ein Migrantenland verwandeln“, sagte er wohl in Anspielung auf die Tatsache, dass EU-Staaten dem Vorschlag nach zu Solidarität mit Mitgliedsstaaten an den EU-Außengrenzen verpflichtet sein sollen. Konkret sollen sie etwa Asylsuchende aufnehmen oder sich von der Aufnahme freikaufen.

Analyse: Verschärfung der EU-Asylregeln

ORF-Korrespondent Benedict Feichtner berichtet aus Luxemburg, wie die Vorabprüfung von Asylwerbern an der EU-Außengrenze ablaufen soll und wie die Flüchtlinge dann aufgeteilt werden sollen.

Polen hält Kompromiss für „schädlich“

Ein derartiger Mechanismus sei schon einmal „wie ein Kartenhaus zusammengefallen“ und habe sich als „nicht umsetzbar und schädlich“ erwiesen, sagte der polnische Europaminister Szymon Szynkowski vel Sek. Polen habe die größte Flüchtlingskrise nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgreich bewältigt, schrieb der Minister auf Twitter mit Blick auf die Aufnahme von 1,6 Millionen Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine.

Ärger über Vorprüfungen an EU-Außengrenzen

Kritik gab es auch von Politikern unterschiedlichster Lager sowie von Migrationsforscherinnen und -forschern und NGOs. Jene Kritik dreht sich etwa auch um den Vorschlag zu Vorprüfungen von Asylanträgen von Menschen mit geringen Aufnahmechancen an EU-Außengrenzen.

Konkret sollen Migranten und Migrantinnen aus Ländern, die im EU-Schnitt eine Anerkennungsquote von unter 20 Prozent haben, eine Vorprüfung ihres Antrags durchlaufen müssen. Jene Menschen sollen künftig unter haftähnlichen Bedingungen in streng kontrollierte Aufnahmezentren kommen. Dort soll geprüft werden, ob der Antragsteller Chancen auf Asyl hat. Wenn nicht, soll er umgehend zurückgeschickt werden. Dieser Prozess soll binnen maximal sechs Monaten abgeschlossen sein.

Die Mehrheit der Flüchtlinge – etwa aus Syrien, Afghanistan und dem Sudan – sollen weiter das Recht auf ein normales Verfahren haben. Nicht durchsetzen konnte sich Deutschland mit seiner Forderung nach humanitären Ausnahmen von den umstrittenen Grenzverfahren für Familien mit Kindern. Ausnahmen für unbegleitete Minderjährige gibt es hingegen.

EU-Asylregeln werden verschärft

Donnerstagabend haben sich die EU-Staaten auf eine Reform der Asyl- und Migrationsregeln geeinigt. Seit der Flüchtlingskrise 2015 wurde daran gearbeitet.

Deutsche Grüne vor Zerreißprobe

Für die mitregierenden deutschen Grünen wird der von Deutschland getragene Kompromiss wohl zur Zerreißprobe. Der Kompromiss werde dem „Leid an den Außengrenzen nicht gerecht und schafft nicht wirklich mehr Ordnung“, schrieb die Koparteivorsitzende Ricarda Lang am Donnerstagabend auf Twitter. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) betonte in einem Brief, dass ihr die Entscheidung „als Außenministerin, als Grüne und auch persönlich sehr schwergefallen“ sei.

Deutschland hatte sich dafür starkgemacht, einen reinen Transitaufenthalt in einem Drittstaat nicht als Verbindung anzuerkennen, sondern nur zum Beispiel durch im Land lebende Familienangehörige. Diese Forderung wurde aber im Laufe der Verhandlungen verworfen. Der deutsche EU-Parlamentarier Erik Marquart befürchtete auf Twitter, dass auch die Definition von „sicheren Drittstaaten“ noch ausgeweitet werden könnte.

Man habe „offenbar zugelassen, dass für die Anwendung sicherer Drittstaatskonzepte nicht einmal mehr relevant sein soll, ob das Land so eingestuft wird, sondern der Antragsteller selbst beweisen muss, dass das für ihn persönlich nicht sicher war“, so Marquart. So könne man die „Haupttransitländer Türkei, Maghreb, möglicherweise Westlibyen oder Ägypten als sichere Drittstaaten einstufen und somit einen Großteil der Geflüchteten – unabhängig von der Anerkennungsquote – in Grenzverfahren nehmen und ablehnen“.

Zadic hofft auf Ausnahmen für Kinder und Familien

Justizministerin Alma Zadic (Grüne) sprach sich für Ausnahmen für Kinder und Familien bei den geplanten Asylvorprüfungen an der EU-Außengrenze aus. „Es ist noch immer nicht das letzte Wort gesprochen“, sagte sie am Rande eines Treffens der EU-Justizminister in Luxemburg am Freitag. „Das Europäische Parlament wird auch noch einiges zu sagen haben.“ Ein Kompromiss für den gesamten Asyl- und Migrationspakt, der mehrere Regeln vorsieht, soll noch vor der Europawahl 2024 erzielt werden.

Schärfere Kritik kam von ihrer grünen Parteifreundin, der Europamandatarin Monika Vana: Die Einigung entspreche weder den „europäischen Werten“ noch der „Rechtsstaatlichkeit“, meinte diese in einer Aussendung.

Karner will keine Asylbewerber aufnehmen

Mehrere ÖVP-Politiker, darunter Innenminister Gerhard Karner und Kanzler Karl Nehammer, begrüßten die Einigung, forderten aber auch weitere Schritte. Ihnen geht es um einen stärkeren Außengrenzschutz und die Bekämpfung der Schlepperkriminalität. „Um die gescheiterte Asylpolitik der EU in den letzten Jahren wieder zu reparieren, braucht es eine Totalreform“, so Nehammer.

Karner will keine Asylbewerber aus Auffanglagern an der EU-Außengrenze aufnehmen. „Darüber brauchen wir zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt nicht zu diskutieren. Jetzt geht es darum, wie Österreich entlastet wird. Darüber bin ich bereit zu reden, aber nicht in die andere Richtung“, sagte Karner im Interview mit der „Presse“ vom Samstag laut Vorabmeldung. Er hielt weiters das österreichische Veto gegen die Schengen-Beitritte Rumäniens und Bulgariens aufrecht. Zudem sagte er, im Zuge des Asylkompromisses gebe es keinen Verteilungsschlüssel. „Es gibt verpflichtende flexible Solidarität. Wir erwarten, dass nun auch andere Länder mit Österreich solidarisch werden.“

So wie die Vorschläge des Rates jetzt auf dem Tisch liegen, widersprächen sie in vielen Teilen einem fairen und menschenrechtswürdigen Asylverfahren, sagte die SPÖ-EU-Abgeordnete Theresa Bielowski. „Insbesondere die Vorselektierung mit Sonderverfahren an den Außengrenzen ist abzulehnen, da das Recht auf faire rechtsstaatliche Verfahren für alle gelten muss“, so Bielowski.

„ÖVP-Innenminister Karner ist bei seinem zentralen Versprechen, eine Umverteilung von Asylsuchenden zu verhindern, umgefallen. Damit fällt er den Österreichern in den Rücken“, so FPÖ-Chef Herbert Kickl und FPÖ-Sicherheitssprecher Hannes Amesbauer.

Kritik an Aushöhlung von Einzelfallprüfungen

Die österreichische Migrationsforscherin Judith Kohlenberger kritisierte in einer Reaktion auf Twitter unter anderem, dass Einzelfallprüfungen durch Vorprüfungen an den EU-Außengrenzen „massiv ausgehöhlt bzw. verunmöglicht“ würden. „Ja, Menschen aus Tunesien oder Indien haben geringe Anerkennungsquoten, aber Einzelne bekommen Asyl, etwa weil sie einer sexuellen oder religiösen Minderheit angehören“, schrieb sie.

Weiters sei fraglich, ob das „Elend an den Außengrenzen“ und das „Sterben im Mittelmeer“ mit den Plänen ein Ende hätten. „Gebaut werden noch größere, haftähnliche Zentren, wo Menschen für die Dauer der Grenzverfahren festgehalten werden“, so Kohlenberger. Weil die Einigung „ohne Herkunftsstaaten gemacht wurde“, erwartet sie, dass es in den Lagern innerhalb kurzer Zeit „zu einem massiven Rückstau“ an abgelehnten „Bewerbern“, die nicht abgeschoben werden könnten, kommen werde.

„Frontaler Angriff auf die Menschenrechte“

„Die ‚große Einigung‘ ist keine“, kritisierte Lukas Gahleitner-Gertz von der Asylkoordination auf Twitter. „Sie ist in der Rhetorik und in der Praxis wohl menschenverachtender, sie bringt aber keine Lösung. Das bisherige System der Entrechtung wird perpetuiert und potenziell verschlimmert“, schrieb er. „Das ist ein frontaler Angriff auf die Menschenrechte und das Recht auf Asyl“, kritisierte Tareq Alaows von Pro Asyl. „Das ist ein historischer Fehler für Europa und ein trauriger Tag für die Menschenrechte“, sagte er.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International verurteilte den EU-Kompromiss zur Verschärfung der Asylregeln ebenfalls. Die Beschlüsse der EU-Innenministerinnen und -minister seien „ein menschenrechtlicher Tabubruch“, erklärte am Freitag Amnesty-Deutschland-Generalsekretär Markus Beeko.

„Durch die Schnellverfahren an der EU-Außengrenze wird das Menschenrecht auf ein faires Asylverfahren ausgehöhlt“, kritisierte Diakonie-Direktorin Maria Katharina Moser. Das Leid von Menschen auf der Flucht werde sich durch die Einigung in Luxemburg weiter verschärfen, hieß es von Ärzte ohne Grenzen.

Angesichts hoher Asylantragszahlen sowie der bevorstehenden Europawahl sahen EU-Staaten zuletzt dringenden Handlungsbedarf. Seit Monaten versuchen viele, von Nordafrika über das Mittelmeer in die EU zu gelangen. Nach Angaben aus Rom kamen seit Jänner mehr als 50.000 Menschen auf Booten nach Italien. Italien und Spanien sowie Griechenland schlagen immer wieder Alarm. Spätestens seit der Flüchtlingskrise 2015 und 2016 ist klar, dass die geltenden EU-Asylregeln überarbeitet werden müssen.