Der zerstörte Kachowka-Staudamm
AP
Kachowka-Staudamm

Wasser für Sommer soll gerettet werden

Nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms im Kriegsgebiet Cherson im Süden der Ukraine sinkt der Wasserstand im Stausee unaufhörlich. Seit der Katastrophe am Dienstag sei der Stand um fast fünf Meter auf 11,7 Meter Freitagfrüh gesunken, teilte der staatliche ukrainische Wasserkraftwerksbetreiber Ukrhydroenergo in Kiew mit. Sorge bereitet der kommende Sommer: Man will Reserven retten, auch mit Blick auf das AKW Saporischschja.

Ukrhydroenergo wies darauf hin, dass die bisher nicht komplett eingestürzte Staumauer weiter berste. Das Wasser sinke um etwa einen Meter innerhalb von 24 Stunden. Ziel sei es nun, in den oberhalb der Kachowka-Station gelegenen Stauseen das Wasser des Dnipro zu stauen, um Reserven für den Sommer zu haben.

In dem von der Ukraine kontrollierten Teil des Gebiets Cherson sank indes das Hochwasser um 20 Zentimeter im Vergleich zum Vortag, wie der ukrainische Militärgouverneur des Gebiets, Olexandr Prokudin, mitteilte. Der Pegel zeigte am Freitag 5,38 Meter an. 32 Ortschaften und mehr als 3.600 Häuser stünden unter Wasser. Prokudin rief die Menschen auf, ihre überschwemmten Häuser zu verlassen.

Überflutete Häuser
Reuters/Alexander Ermochenko
Die ganze Zerstörung durch die Überflutung ist noch nicht abschätzbar

Ukraine: Russische Angriffe während Hilfsmaßnahmen

Vier Menschen kamen laut ukrainischen Angaben in der Region Cherson infolge der Überschwemmungen ums Leben. 13 würden noch vermisst, teilte Innenminister Ihor Klymenko Freitagmittag auf Telegram mit. 2.412 Menschen seien in Sicherheit gebracht worden.

Die Ukraine kritisierte die russischen Angriffe während der Hilfsmaßnahmen für die von Überschwemmungen getroffene Stadt Cherson. „Wir verurteilen die Bombardierung der Evakuierungszonen aufs Schärfste“, sagte der UNO-Botschafter der Ukraine, Serhij Kyslyzja. Er forderte die russischen Behörden auf, die Angriffe einzustellen und nach der Teilzerstörung des Kachowka-Staudamms einen „vollständigen, sicheren und ungehinderten“ Zugang für Hilfslieferungen zu ermöglichen.

Russlands Präsidialamt warf der Ukraine hingegen vor, nach dem Dammbruch wiederholt auf Flutopfer zu schießen. Dabei seien Zivilistinnen und Zivilisten getötet worden, darunter eine Schwangere. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow bezeichnete die angeblichen Angriffe als barbarisch. Die Angaben lassen sich nicht überprüfen, Belege wurden nicht vorgelegt.

SBU will Beweise für Anschlag Moskaus haben

Die Ukraine beschuldigt russische Truppen, das Wasserkraftwerk vermint und dann in die Luft gesprengt zu haben. Dagegen behauptet Russland, der Staudamm sei durch ukrainischen Beschuss zerstört worden. Experten schließen allerdings auch nicht aus, dass der von Russland seit Langem kontrollierte Staudamm schlecht gewartet und unter dem Druck der Wassermassen zerstört wurde.

Ukrainische Soldaten auf einem Schlauchboot helfen im Überschwemmungsgebiet
APA/AFP/Genya Savilov
In den überschwemmten Gebieten ist das Fortkommen teils nur per Boot möglich

Dem widerspricht ein Bericht der BBC: Demnach analysierte Norsar, das norwegische seismische Institut, seismische Signale von einer Regionalstation in der Bukowina in Rumänien rund 620 Kilometer vom Staudamm entfernt. Die Signale deuteten auf eine Explosion am Dienstag um 2.54 Uhr hin, so die BBC. Laut Norsar fallen Zeitpunkt und Ort mit dem Einsturz des Staudamms zusammen.

„NYT“: Explosion von Satelliten festgehalten

Nach Angaben der „New York Times“ haben kurz vor dem Bruch des Staudamms möglicherweise auch US-Spionagesatelliten eine Explosion festgehalten. Die Satelliten hätten mit Infrarotsensoren eine Wärmesignatur entdeckt, die auf eine größere Explosion hindeutete, sagte der Zeitung zufolge ein US-Regierungsvertreter.

Reuters-Angaben zufolge gehen Analysten des US-Geheimdienstes davon aus, dass Russland hinter der Zerstörung des Damms steckt. Es lägen jedoch keine belastbaren Beweise vor. Der ukrainische Geheimdienst SBU veröffentlichte am Freitag unterdessen eine Tonaufnahme eines Gesprächs, in dem ein russischer Soldat die Tat zugeben soll. Zu hören ist ein Mann, der sagt, eine russische Sabotagegruppe sei verantwortlich für den Anschlag. Ob die Aufnahme echt ist, ist von unabhängiger Seite nicht überprüfbar.

Kiew: Zerstörung wie mit „taktischer Atomwaffe“

Der Sekretär des Rats für nationale Sicherheit und Verteidigung, Olexij Danilow, verglich die Zerstörung des Staudamms angesichts der katastrophalen Folgen mit dem „Einsatz einer taktischen Atomwaffe“. Er machte im ukrainischen Radio Kreml-Chef Wladimir Putin persönlich für das Kriegsverbrechen verantwortlich.

„Solche Entscheidungen werden nur im Kreml getroffen und nur von Putin“, sagte Danilow. Auch die Folgen für Russland seien katastrophal, weil das Land für die Schäden bezahlen müssen werde.

Überflutungszone des Dnipro nach Bruch des Damms in Nowa Kachowka mit Hervorhebung bewohnter Gebiete, gemäß Satellitendatenanalyse der UNO-Agentur UNITAR. Stand der Daten: 7.6.2023, veröffentlicht am 8.6.2023.

Das UNO-Menschenrechtsbüro konnte indes noch nicht beurteilen, ob die Zerstörung des Kachowka-Staudamms ein Kriegsverbrechen ist. „Da die Umstände des Vorfalls nach wie vor unklar sind, ist es verfrüht, die Frage zu prüfen, ob ein Kriegsverbrechen begangen worden sein könnte“, sagte Jeremy Laurence am Freitag in Genf. „Wir bekräftigen unsere Forderung nach einer unabhängigen, unparteiischen, gründlichen und transparenten Untersuchung.“ Nach Angaben von Lawrence wurden alle Anträge, die ukrainischen Gebiete unter russischer Besatzung aufzusuchen, bisher abgelehnt.

AKW Saporischschja: Lage „potenziell gefährlich“

Die Teilzerstörung des Staudamms hat auch Auswirkungen auf das Atomkraftwerk Saporischschja. Das Wasser für die Reaktorkühlung wird langsam zur Mangelware. Die Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) gab vorerst aber Entwarnung: Das AKW pumpe noch Wasser aus dem Stausee. Dennoch bleibe die Lage „unsicher und potenziell gefährlich“.

Das Atomkraftwerk Saporischschja
Reuters/Alexander Ermochenko
Das Atomkraftwerk Saporischschja ist von Kühlwasser abhängig

„Das ukrainische Kernkraftwerk Saporischschja pumpt weiterhin Kühlwasser aus dem Kachowka-Stausee“, hieß es in einer Erklärung der IAEA in der Nacht auf Freitag. Eine Prüfung habe ergeben, dass der Pumpvorgang „auch dann fortgesetzt werden kann, wenn der Pegel unter die Schwelle von 12,7 Metern fällt“, die zuvor als kritisch eingestuft worden war, erklärte die UNO-Behörde und legte als neuen kritischen Wert einen Wasserpegel von „elf Metern oder sogar darunter“ fest.

Nach Dammbruch: Minen als dauerhaftes Problem

Der Bruch des Kachowka-Staudamms führt nach Angaben des Roten Kreuzes dazu, dass durch die Fluten weggeschwemmte Landminen ein jahrzehntelanges Problem für die Zivilbevölkerung in der Südukraine werden können. Die Minen könnten durch die Flut nun auch auf Felder, Straßen und in Gärten in einem riesigen Gebiet transportiert worden sein, sagte Erik Tollefsen, Leiter der Abteilung für Waffenkontamination des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz.

Wasserreserven für AKW als Plan B

Das gebe „uns etwas mehr Zeit, bevor wir möglicherweise auf andere Versorgungsquellen umsteigen müssen“, so IAEA-Chef Rafael Grossi, der nächste Woche das größte AKW Europas im Süden der Ukraine besuchen wird. Wenn der Damm nicht mehr intakt sei, könne das Kraftwerk auf „ein großes Auffangbecken in der Nähe sowie auf kleinere Reserven und Brunnen an Ort und Stelle zurückgreifen, die mehrere Monate lang Kühlwasser liefern können“, sagte Grossi.

Die Reaktoren des von Russland besetzten Atomkraftwerks Saporischschja sind bereits abgeschaltet. Der Brennstoff in den Reaktorkernen und in den Lagerbecken muss allerdings ständig gekühlt werden, um eine Kernschmelze und die Freisetzung von Radioaktivität in die Umwelt zu verhindern.

Satellitenbild vom 5. Juni 2023 zeigt normalen Wasserstand beim Atomkraftwerk Saporischschja
Satellitenbild vom 8. Juni 2023 zeigt niedrigen Wasserstand beim Atomkraftwerk Saporischschja
ESA Copernicus Sentinel 2 ESA Copernicus Sentinel 2
Satellitenbilder vom Atomkraftwerk Saporischschja zeigen die unterschiedlichen Wasserstände vor (5. Juni 2023) und nach (8. Juni 2023) der Teilzerstörung des Kachowka-Staudamms

Russland: Wasserversorgung auf Krim nicht beeinträchtigt

Russland geht indes davon aus, dass die Wasserversorgung der von Russland besetzten Krim-Halbinsel durch die Zerstörung des Staudamms nicht beeinträchtigt wird. Die Wasserreservoirs der Krim seien voll, sagte der russische Vizeministerpräsident Marat Chuschnullin der Nachrichtenagentur RIA zufolge. Die Vorräte reichten für 500 Tage.

Russland hat die Krim 2014 annektiert. Die Halbinsel im Schwarzen Meer wird normalerweise über einen Kanal mit Wasser aus dem Kachowka-Stausee versorgt. Die Ukraine hatte den Kanal nach der Annexion blockiert, was zu einer akuten Wasserknappheit auf der Krim führte. Diese endete, nachdem russische Truppen den Kanal im März 2022 unter ihre Kontrolle gebracht hatten.