´Beschädigtes Begäude und Autos in der Stadt Stepanakert
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Aserbaidschan bestätigt

Waffenruhe in Bergkarabach vereinbart

Nachdem die Ex-Sowjetrepublik Aserbaidschan am Dienstag in der Krisenregion Bergkarabach eine große Militäraktion gestartet hatte, wurde am Mittwoch nach armenischen Angaben eine Waffenruhe vereinbart. Die Behörden der international nicht anerkannten Republik Bergkarabach hätten einen entsprechenden Vorschlag von russischer Seite angenommen, meldete unter anderem die armenische Nachrichtenagentur Armenpress am Mittwoch. Aserbaidschan bestätigte wenig später die Angaben – und will bereits am Donnerstag nun über eine etwaige „Eingliederung“ sprechen.

Die Vereinbarung sei durch in dem Gebiet stationierte russische Soldaten vermittelt worden und gelte seit 13.00 Uhr Ortszeit (11.00 Uhr MESZ), meldete die staatliche aserbaidschanische Nachrichtenagentur Azertac unter Berufung auf das Verteidigungsministerium in Baku. Den armenischen Kämpfern werde die Möglichkeit gegeben, ihre Positionen zu verlassen und sich zu ergeben.

„In der aktuellen Situation sind die Maßnahmen der internationalen Gemeinschaft zur Beendigung des Krieges und zur Lösung der Situation unzureichend“, zitierte zuvor Armenpress aus einer Behördenmitteilung. „Unter Berücksichtigung dessen akzeptieren die Behörden der Republik Arzach (Bergkarabach, Anm.) den Vorschlag des Kommandos des russischen Friedenskontingents bezüglich eines Waffenstillstands.“

Einigung auf Waffenruhe

Nachdem Aserbaidschan am Dienstag in der Krisenregion Bergkarabach eine große Militäraktion gestartet hatte, wurde am Mittwoch eine Waffenruhe vereinbart.

Laut russischer Agentur Interfax soll auch vereinbart worden sein, dass verbliebene Einheiten der armenischen Armee aus Bergkarabach abgezogen werden und Karabach-Kämpfer ihre Waffen abgeben. Kreml-Chef Wladimir Putin sagte nach der Verkündung der Waffenruhe im russischen TV, dass Russland „in engem Kontakt mit den Konfliktparteien“ stehe.

Laut Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan gebe es Anzeichen, wonach die Waffenruhe eingehalten werde. „Die neuesten Informationen, die ich aus Bergkarabach erhalten habe, besagen, dass die Intensität der Kampfhandlungen stark abgenommen hat“, teilte Paschinjan am Nachmittag mit. Er hoffe jedenfalls, „dass die militärische Eskalation nicht weitergeht“, so Paschninjan: Es sei das Wichtigste, dass die Sicherheit der in Bergkarabach lebenden Armenier gewährleistet werde, wenn die aserbaidschanische Armee vorrücke.

„Fragen der Wiedereingliederung“ auf Verhandlungstisch

Wie Armenpress kurz zuvor mitteilte, hätten Vertreter Bergkarabachs einem Treffen mit der aserbaidschanischen Seite zugestimmt. Die Gespräche sollen am Donnerstag in der aserbaidschanischen Stadt Jewlach stattfinden. Aus der aserbaidschanischen Präsidialverwaltung hieß es, nach der Kapitulation der Armenier stünden bei den Gesprächen nun „Fragen der Wiedereingliederung“ auf der Agenda.

Paschinjan sagte in einer Fernsehansprache, dass man „an der Ausarbeitung des Textes der Waffenstillstandserklärung in Bergkarabach“ nicht beteiligt gewesen sei. Armenien, das die Behörden in Bergkarabach unterstützte, habe seit August 2021 keine militärischen Einheiten mehr in der Region stationiert, fügte er hinzu.

„Wir hoffen, dass die militärische Eskalation nicht fortgesetzt wird, denn unter den derzeitigen Bedingungen ist es sehr wichtig, die Stabilität zu gewährleisten und Kampfhandlungen zu beenden“, sagte Paschinjan weiter.

EU stellt Forderungen an Aserbaidschan

Man hoffe, dass die vom aserbaidschanischen Verteidigungsministerium angekündigte Vereinbarung für die Waffenruhe auch umgesetzt werde, hieß es vonseiten der EU. „Wir erwarten ein sofortiges Ende der Kampfhandlungen und wir erwarten auch, dass Aserbaidschan die derzeitigen militärischen Aktivitäten einstellt“, teilte ein Sprecher des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell in Brüssel mit.

Zur Frage nach möglichen EU-Sanktionen gegen Aserbaidschan wegen des Militäreinsatzes sagte der Sprecher, die Europäische Union verfolge die Lage sehr genau, und die Mitgliedsstaaten würden abhängig von den Entwicklungen dort über die nächsten Schritte entscheiden.

Rund zwei Dutzend Tote

Der aserbaidschanische Militäreinsatz hatte nach örtlichen Angaben schon am ersten Tag mehr als zwei Dutzend Menschen in der betroffenen Region das Leben gekostet. Bisher seien 27 Todesopfer bestätigt, darunter zwei Zivilisten, teilte der Menschenrechtsbeauftragte von Bergkarabach, Gegam Stepanjan, am Dienstagabend mit. Darüber hinaus seien in der Konfliktregion mehr als 200 Menschen verletzt worden. Aus 16 Orten seien zudem rund 7.000 Bewohnerinnen und Bewohnern vor dem aserbaidschanischen Beschuss in Sicherheit gebracht worden.

Trotz internationaler Appelle zur Einstellung der Kämpfe setzte Aserbaidschan Mittwochfrüh seine Angriffe zunächst fortgesetzt. Die am Dienstag begonnenen Militärmaßnahmen gingen erfolgreich weiter, teilte Aserbaidschans Verteidigungsministerium in der Früh mit. Militärfahrzeuge, Artillerie- und Flugabwehrraketenanlagen sowie militärische Ausrüstung seien „neutralisiert“ worden.

Armenischen Angaben zufolge wurden auch zivile Infrastrukturobjekte getroffen. „Die Einheiten der Verteidigungskräfte leisten mit Abwehrhandlungen den Streitkräften Aserbaidschans erbitterten Widerstand und fügen dem Feind Verluste zu“, teilte das Verteidigungsministerium der international nicht anerkannten Republik Bergkarabach mit.

Karte von Bergkarabach
Grafik: APA/ORF; Quelle: APA

Moskau: Auch russische Soldaten getötet

Russland meldete indes den Tod mehrerer Angehöriger seiner Friedenstruppe in Bergkarabach. Das Auto mit den Soldaten sei auf dem Weg von einem Beobachtungsposten nahe der Ortschaft Tschanjatag unter Beschuss geraten, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau mit. Russische und aserbaidschanische Ermittler untersuchten den Vorfall, hieß es weiter.

Einziger Zugang seit Monaten blockiert

Das autoritär geführte Aserbaidschan hatte am Dienstag einen breit angelegten Militäreinsatz zur Eroberung Bergkarabachs begonnen. Die Region liegt zwar auf aserbaidschanischem Staatsgebiet, wird aber mehrheitlich von Armeniern bewohnt. Die beiden ehemals sowjetischen Länder kämpfen seit Jahrzehnten um die Region. Die Waffenruhe nach dem letzten Krieg im Jahr 2020, in dem das durch Gas- und Öleinnahmen hochgerüstete Aserbaidschan bereits große Teile Karabachs erobert hatte, wurde immer wieder gebrochen.

Russland gilt traditionell als Schutzmacht Armeniens und hat in der Konfliktregion eigene Soldaten stationiert. Mittlerweile aber braucht Moskau seine Kämpfer in erster Linie für den Angriffskrieg gegen die Ukraine. Beobachter hatten deshalb bereits befürchtet, dass Aserbaidschan diese instabile Lage für ein militärisches Vorgehen nutzen könnte.

Schon vor Beginn des jüngsten Beschusses war die humanitäre Lage in Bergkarabach katastrophal gewesen, weil Aserbaidschan den einzigen Zugang Armeniens in die Exklave, den Latschin-Korridor, blockierte.

Alijew stellte Bedingungen

US-Außenminister Antony Blinken telefonierte laut Ministeriumsangaben am Dienstag mit dem seit 2007 autoritär regierende Präsidenten von Aserbaidschan, Ilham Alijew, und betonte, dass es keine militärische Lösung gebe und der Dialog wieder aufgenommen werden müsse.

Russische Nachrichtenagenturen meldeten unter Berufung auf das aserbaidschanische Präsidialamt, Alijew habe Blinken in einem Telefonat gesagt, sein Land werde den Einsatz erst dann stoppen, wenn die armenischen Kämpfer ihre Waffen niederlegen und sich ergeben.

Rückendeckung für Baku kam hingegen aus der Türkei. Die ebenfalls islamisch geprägte Türkei gilt als Schutzmacht Aserbaidschans, wohingegen das christlich-orthodoxe Armenien traditionell auf die Unterstützung Russlands setzt.

Iran streicht Flüge

Der Iran hat angesichts der jüngsten Eskalation indes seine Flugverbindungen in die Nachbarländer Aserbaidschan und Armenien gestrichen. Das berichtete die iranische Nachrichtenagentur Tasnim unter Berufung auf den Chef der Luftfahrtbehörde.

Die Einreise nach Aserbaidschan ist nach Angaben des Außenministeriums „ausschließlich am Luftweg möglich“. Im Länderhinweis zu Aserbaidschan heißt es seit Mittwoch zudem: „Touristische Reisen in diese Gebiete sind gegenwärtig nicht möglich. Eine konsularische Betreuung in diesen Gebieten ist nicht möglich.“ Für Armenien „wird bis auf Weiteres von Reisen in die Grenzgebiete zu Aserbaidschan abgeraten“.

UNO-Sicherheitsrat einberufen

Wegen der Eskalation in Bergkarabach wurde für Donnerstag eine Dringlichkeitssitzung des UNO-Sicherheitsrates einberufen. Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) schätzte die jüngsten Entwicklungen in der Region als „sehr explosiv und brandgefährlich“ ein.

„Es ist vielleicht etwas zynisch, wenn das genau zu dem Zeitpunkt stattfindet, während die Weltgemeinschaft in New York zusammenkommt und genau daran arbeitet, dass solche Situationen nicht entstehen“, so Schallenberg mit Verweis auf die derzeit laufende UNO-Vollversammlung.

Bundespräsident Alexander Van der Bellen erklärte, im UNO-Headquarter habe sich „große Sorge für die dortige armenische Bevölkerung“, die aber auf aserbaidschanischem Staatsgebiet lebe, breitgemacht. Es sei momentan nur zu hoffen, dass zumindest ein „Fluchtkanal“ nach Armenien offen bleibe.

Proteste in Armeniens Hauptstadt

In Armeniens Hauptstadt Eriwan brachen am Dienstagabend heftige Proteste gegen die eigene Regierung aus, es kam zu Zusammenstößen mit der Polizei. Medien zufolge setzten die Beamten Blendgranaten ein. Die Demonstranten forderten von Paschinjan ein entschiedeneres Vorgehen sowie Unterstützung der armenischen Bewohner Bergkarabachs.