Personal im Al-Schifa-Krankenhaus
Reuters/Mohammed Salem
„Todeszone“

WHO fordert Evakuierung von Al-Schifa-Spital

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat nach einem Besuch des Al-Schifa-Spitals die vollständige Evakuierung des größten Krankenhauses im Gazastreifen gefordert. Man erarbeite Pläne für die sofortige Rettung der verbliebenen Patienten, des Personals und ihrer Familien, schrieb die WHO am Sonntag in einer Erklärung. WHO-Fachleute sprachen von einer „Todeszone“.

Aus dem Al-Schifa-Spital sind nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde zuletzt 31 Frühgeborene gebracht worden. Die Babys würden von „drei Ärzten und zwei Krankenschwestern“ begleitet, sagte der Generaldirektor für die Krankenhäuser im Gazastreifen, Mohammed Zakut, der Nachrichtenagentur AFP am Sonntag. Es seien „Vorbereitungen im Gange“, um die Frühchen über den Grenzübergang Rafah nach Ägypten zu bringen.

Die Lage im Krankenhaus sei „verzweifelt“, hieß es in der WHO-Erklärung zum Besuch der Expertinnen und Experten. 291 Patienten und 25 medizinische Mitarbeiter befänden sich derzeit noch in dem Spital. Die WHO will in den kommenden Tagen mehrere Einsätze organisieren, um die Patienten rasch in das Nasser-Krankenhaus und das Europäische Krankenhaus im Gazastreifen zu bringen, obwohl diese bereits überfüllt seien.

„Die derzeitige Situation ist unerträglich und nicht zu rechtfertigen“, sagte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus auf X (Twitter). Zudem forderte er eine Feuerpause. In dem Spital gebe es kein Wasser, keinen Strom, keine Nahrungsmittel mehr und kaum noch medizinischen Bedarf.

WHO: Spital kann Funktion nicht mehr erfüllen

Das Team an Fachleuten habe am Eingang des Krankenhauses ein Massengrab vorgefunden und sei informiert worden, dass dort mehr als 80 Menschen begraben seien, schrieb die WHO in ihrer Erklärung. Es habe Spuren von Schüssen und Gewehrfeuer gegeben. Die Gänge und das Gelände des Krankenhauses seien voller medizinischer und anderer Abfälle, was das Infektionsrisiko erhöhe. Das Krankenhaus funktioniere im Wesentlichen nicht mehr als medizinische Einrichtung.

Laut dem WHO-Bericht hat der Großteil der im Al-Schifa-Krankenhaus verbliebenen Patientinnen und Patienten komplexe Knochenbrüche oder Amputationen, Verbrennungen, Brust- oder Bauchverletzungen erlitten. 29 Patienten hätten schwere Verletzungen der Wirbelsäule und seien nicht in der Lage, sich ohne medizinische Hilfe zu bewegen. Viele Verletzte litten zudem an schweren Infektionen, da es an Antibiotika mangle und die hygienischen Bedingungen mangelhaft seien.

Bei israelischen Angriffen in der Stadt Chan Junis im südlichen Gazastreifen sind zudem laut Angaben des Nasser-Spitals seit Samstag mindestens 47 Menschen getötet worden. Ein Fotograf berichtete der dpa, in dem Spital seien Leichensäcke aufgereiht gewesen. Ein Bild zeigte, wie ein Vater den Leichnam seines Sohnes im Arm hielt. Die israelische Armee veröffentlichte bisher keine Mitteilung zu den Berichten über Angriffe im Süden des Gazastreifens.

Al-Schifa-Spital umkämpft

Als Reaktion auf den Angriff der Hamas hatte Israel mit Angriffen auf Ziele im Gazastreifen begonnen, inzwischen sind auch Bodentruppen in das Gebiet eingerückt. Das Al-Schifa-Krankenhaus stand Anfang vergangener Woche im Zentrum der Kämpfe, als israelische Streitkräfte das Gelände durchsuchten und eigenen Angaben zufolge Waffen, Munition und Ausrüstung von Hamas-Terroristen fanden.

Israel beschuldigt die Hamas, eine große Kommandozentrale im und unterhalb des Al-Schifa-Krankenhauses eingerichtet zu haben. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sprach explizit von der Entdeckung einer unterirdischen Hamas-Kommandozentrale. Belege dafür gibt es bisher nicht.

Verlassener Operationssaal im Al-Schifa-Krankenhaus
Reuters/Ahmed El Mokhallalati
Laut Israel hat die Hamas eine Kommandozentrale rund um das Al-Schifa-Krankenhaus eingerichtet

Nach israelischen Angaben wurden seit Beginn der Angriffe etwa 1.200 Menschen getötet und etwa 240 Menschen als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Nach Angaben der Hamas wurden seit Beginn des Krieges etwa 12.300 Menschen in dem Palästinensergebiet getötet. Die Angaben können nicht unabhängig überprüft werden.

Bericht: Tote nach Einsätzen in Westjordanland

Auch im Westjordanland sind nach palästinensischen Angaben mindestens zwei Palästinenser nach israelischen Armee-Einsätzen getötet worden. Nach Angaben des palästinensischen Roten Halbmonds wurde in Jenin, einer der Hochburgen bewaffneter Palästinensergruppen im nördlichen Westjordanland, ein 45-jähriger Mann getötet, eine weitere Person sei im Flüchtlingslager Dheische in der Nähe von Bethlehem weiter südlich getötet worden.

Die israelische Armee äußerte sich bisher nicht zu den Angaben. Laut Rotem Halbmond führten israelische Streitkräfte in Städten und Flüchtlingslagern im gesamten Westjordanland insgesamt mindestens fünf nächtliche Einsätze aus. Am Vortag waren fünf Palästinenser bei einem israelischen Luftangriff im Flüchtlingslager Balata nahe Nablus getötet worden.

Netanjahu unter Druck

Netanjahu steht wegen der von der Hamas entführten Geiseln und seiner Kriegsführung zunehmend unter Druck. Zehntausende Teilnehmende eines Protestmarsches für die Geiseln erreichten am Samstag Jerusalem. Sie demonstrierten dort vor dem Amtssitz Netanjahus und forderten von der Regierung einen sofortigen Deal zur Freilassung der Geiseln, die seit sechs Wochen im Gazastreifen festgehalten werden.

Zehntausende Protestierende in Israel

Zehntausende Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines Protestmarsches für die Geiseln in der Gewalt der islamistischen Terrororganisation Hamas haben am Samstag Jerusalem erreicht. Sie wollten dort zum Amtssitz des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu ziehen. Unterdessen verließen zahlreiche Menschen das zuletzt heftig umkämpfte Al-Schifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt.

In Tel Aviv demonstrierten zudem am Samstagabend mehrere hundert Menschen gegen den Gaza-Krieg. Die Demonstration auf der Strandpromenade fand auf Initiative der linksorientierten Chadasch-Partei statt, wie israelische Medien berichteten. Jüdische und arabische Israelis protestierten dabei gemeinsam gegen eine Fortsetzung des Militäreinsatzes im Gazastreifen.

In der Nacht auf Sonntag hatte es zunächst Gerüchte gegeben, dass es eine vorläufige Einigung auf eine Feuerpause zwischen Israel und der Hamas gebe. Bei den Verhandlungen über die Freilassung der von der islamistischen Hamas in den Gazastreifen verschleppten Geiseln stehen nach Angaben der katarischen Regierung nur noch „geringfügige“ Hindernisse einem Abkommen im Weg.