Filmstill aus „Climax“
© Viennale
Viennale

Ein Festival für Entdecker

Am 25. Oktober ist es so weit: Die erste Viennale unter der Leitung von Eva Sangiorgi beginnt. Nach Sichtung des Debütprogramms der neuen Chefin lässt sich sagen: Die Viennale bleibt eher ein breit gestreutes Entdeckerfestival – auch, wenn einzelne Schwerpunkte in die Tiefe gehen.

Sangiorgi präsentierte Dienstagabend gemeinsam mit Michael Loebenstein (Direktor Österreichisches Filmmuseum) und Ernst Kieninger (Direktor Filmarchiv Austria) das Programm der 56. Viennale im Wiener Stadtkino. Anwesend war auch Veronica Kaup-Hasler, die sich auf ihre erste Viennale als Wiener Kulturstadträtin freut: „Mich interessieren die Blicke, die Eva Sangiorgi auf ein cineastisches Filmschaffen jenseits des Mainstream wirft. Das öffnet den Blick in andere Dimensionen von Zeit, durch Filme aus der Vergangenheit, und in andere Welten, durch Filme aus dem außereuropäischen Raum.“

Eva Sangiorgi
ORF.at/Sonia Neufeld
Eva Sangiorgi präsentierte ihr erstes Programm

Die neue Viennale-Chefin, die zuvor in Mexiko-Stadt das internationale Filmfestival Ficunam gegründet und geleitet hat, hat zu ihrem Einstand die Unterscheidung in Spiel- und Dokumentarfilm aufgegeben, wovon sie sich eine Abkehr von überholten Kategorisierungen verspricht. Zur Eröffnung darf man sich auf „Lazzaro Felice“ („Glücklich wie Lazzaro“) von Alice Rohrwacher freuen, wofür die italienische Filmemacherin heuer in Cannes den Preis für das beste Drehbuch erhielt.

Die etwas andere Filterblase

In dem Spielfilm wird eine Truppe von Landarbeiterinnen und Landarbeitern märchenhaft der Zeit entrissen. Es sind die 90er Jahre, in denen sie sklavenähnlich ausgebeutet werden, ohne es zu wissen – weil ihnen der Zugang zum aktuellen Zeitgeschehen abhanden gekommen ist. Sie leben als Leibeigene im feudalen Atlantis Italiens. Mitten unter ihnen Lazzaro, der eine, der ohne Sünde ist. Dann ein Schnitt, und die Protagonisten finden sich im Rom der Gegenwart wieder.

Rohrwachers Film folgt einem ordentlichen Spannungsbogen, überzeugt durch grandiose Bilder, in denen Italien wie die Mondoberfläche wirkt, das kleine Dorf wie ein mittelalterlicher Weiler und Rom wie ein indischer Slum in den 70er Jahren. Dazu kommen die Schauspieler, großteils Laien, die mit Bedacht gecasted wurden: Jedes Gesicht erzählt für sich eine Geschichte, noch bevor die Dialoge begonnen haben. Deshalb bleibt man dran – auch wenn der Film gar verrätselt ist, eine Allegorie auf eine Allegorie und dabei Bibel-Meta-Exegese; wer auch immer sich da auskennt, wird seine Freude haben.

Vom Hofmohren zu Wien

Dann geht es Schlag auf Schlag bei der Viennale. Bekannte Größen wie Jean-Luc Godard, Jafar Panahi und der sexuell explizite Berlinale-Gewinner „Touch Me Not“ der Rumänin Adina Pintilie stehen auf dem Programm, ebenso wie Damien Chazelles „First Man“, Yorgos Lanthimos’ „The Favourite“, Alfonso Cuarons „Roma“ und Gaspar Noes „Climax". Dem im Vorjahr verstorbenen Viennale-Langzeitdirektor Hans Hurch erweist dessen langjähriger Freund Gaston Solnicki mit “Introduzione all’oscuro“ die Ehre. Heimische Highlights sind Sudabeh Mortezais in Venedig prämierter „Joy“ oder Markus Schleinzers vom ORF geförderte und bei der Viennale präsentierte Historienbiografie „Angelo“. Darin geht es um Angelo Soliman, den „Hofmohren“ im Wien des 18. Jahrhunderts.

Hier gilt Ähnliches wie für Rohrwachers „Lazzaro Felice“. Eine spannende und gerade heute relevante Geschichte, wo Rassismus eine gesellschaftlich akzeptierte Renaissance feiert, in der Bürgerliche auch in Österreich dem xenophoben rechtsnationalen Lager freie Bahn verschaffen. Auch hier überzeugen der packende Plot und die Schauspielerriege. Und wenn plötzlich Neonröhren auftauchen im 18. Jahrhundert, ist das wohl Kunst und bedeutet irgendetwas.

Auch Trash muss sein

Begleitend gibt es wie übliche etliche Reihen und Spezialprogramme, und auch das Angebot im neuen Festivalzentrum in der Halle 2 des Museumsquartiers wird ausgebaut. Viel zu sehen und tun also beim Wiener Filmfestival. Spannend dürfte auch die B-Filmreihe im Filmmuseum werden: Viennale-Zeit ist schließlich immer auch Zeit für Retrospektiven und Specials. Heuer widmet sich das Filmfestival etwa dem Low-Budget-Kino aus Hollywood, wobei die Zeitspanne von 1935 bis 1959 in den Fokus genommen wird.

Im Filmmuseum wird also bis in den Advent hinein „The B-Film“ wiederbelebt, der den Trash lustvoll auf die Spitze trieb. Allseits bekannten Klassikern wie Ed Woods legendärer „Plan 9 From Outer Space“ kann man sich dabei ebenso hingeben wie Irving Lerners „Der Tod kommt auf leisen Sohlen“ – und natürlich sind obligatorische Double-Features angesetzt. Kuratiert hat die umfangreiche Auswahl Haden Guest.

Diaz-Festspiele

Der philippinische Filmemacher Lav Diaz hat den Trailer zur diesjährigen Viennale gestaltet. Diaz ist außerdem mit seinem fast vierstündigen Musical „Ang Panahon Ng Halimaw“ vertreten. Der Regisseur wurde bereits mehrfach prämiert, u.a. mit dem Goldenen Löwen in Venedig. Im Trailer mit dem Titel „The Boy Who Chose The Earth“ erzählt Diaz die Geschichte eines Buben, der besondere Pläne hat. In der knapp zwei Minuten langen und in Schwarz-Weiß gehaltenen Arbeit erfährt man dabei wenig Konkretes, während Blitz und Donner sowie überschwemmte Straßen eine eigenwillige Stimmung erzeugen. Hoffnung, Staunen und Sehnsucht werden angerissen, während die Auslegung ganz dem Publikum überlassen bleibt.

„Es ist mutmaßlich der kürzeste Film, den Lav Diaz je gedreht hat“, heißt es am Mittwoch in einer Aussendung über den Regisseur, der für seine ausufernden Arbeiten bekannt ist. „Sein filmischer Blick, sein Rhythmus und sein Timing sind einzigartig und originell, mit seinem Kino zeichnet er die Geschichte seines Landes aus der Erfahrung eines Einzelnen nach und hebt sie damit auf eine universelle Ebene“, so Viennale-Direktorin Sangiorgi. „Wir feiern die politische und ästhetische Kraft dieses kleinen großartigen Films, welche sich in diesem besonderen Blick auf die Welt offenbart, der einerseits deren Schönheit veranschaulicht, gleichzeitig aber auch deren Unheil anprangert.“