Filmstill aus „Leave No Trace“
Viennale

Der bittersüße Traum vom Leben im Grünen

Ein Zelt im Wald ist alles, was es zum Leben braucht: Die sattgrüne Idylle in „Leave No Trace“ dient Filmemacherin Debra Granik als Bindeglied zwischen Aussteigerromantik und einem komplexen Vater-Tochter-Drama. Was erst schwermütig und anstrengend klingen mag, ist in seinen stärksten Momenten wie ein belebender, wenn auch melancholischer, filmischer Herbstspaziergang.

Es könnte auf den ersten Blick genauso gut ein Campingausflug sein, doch für Kriegsveteran Will (Ben Foster) und seine Tochter Tom (Thomasin McKenzie) ist der gemäßigte Regenwald im US-Bundesstaat Oregon ein Zuhause. Gemeinsam wird nach Schwammerln gesucht, ein Grill gebastelt – und tarnen im Dickicht geübt.

Denn „Leave No Trace“ – „Hinterlasse keine Spur“ – ist nicht nur ein Grundsatz unter Outdoor-Fans, der unter anderem besagt, dass man hinter sich verlässlich wieder wegräumt. Für Will und Tom ist es gleichzeitig ein Lebensmotto: Der idyllische Wald ist nämlich nur einen Steinwurf vom Zentrum Portlands entfernt – unbeaufsichtigtes Camping, geschweige denn Leben, ist hier streng verboten.

Sattes Grün sorgt für Sehnsucht

Noch bevor man mehr über die Charaktere erfährt, erzeugt Granik mit Bildern gekonnt Sehnsucht und nutzt diese zur Identifikation mit den Figuren: Nahaufnahmen des satten Grüns hinterlassen zeitweise den Eindruck, dass man die Feuchtigkeit des Walds auf dem Kinosessel spüren kann, das Leben in der Wildnis – Stadtnähe inklusive – wird visuell schmackhaft gemacht.

Filmstill aus „Leave No Trace“
Viennale
Tom (McKenzie) macht auf ihrem Weg durch den Pazifischen Nordwesten der USA auch Kontakt mit Bienen

Demgegenüber stellt die New Yorker Filmemacherin das Grau der Stadt, in der Will von der Bürokratie und seiner Vergangenheit eingeholt wird. In regelmäßigen Abständen holt er sich bei der US-Veteranenbehörde Veteran Affairs (VA) Medikamente, die er umgehend an andere im Wald lebende Aussteiger verkauft. Für Tom sind die Ausflüge in den Stadtkern von Portland der einzige Kontakt mit der Zivilisation – selbst um ihre Bildung kümmert sich ihr Vater.

Geordnetes Leben als Herausforderung

Durcheinandergebracht wird das Leben im Naturschutzgebiet als ein Besucher Tom im Gebüsch entdeckt und daraufhin die Parkaufsicht einschaltet. Nur wenig später werden Vater und Tochter von Polizeihunden aufgespürt und müssen damit ihr bisheriges Zuhause hinter sich lassen.

Hinweis

„Leave No Trace“ wird im Rahmen der Viennale noch am 7. November um 15.30 Uhr im Stadtkino im Künstlerhaus gezeigt.

Der Umgang der Behörden mit den beiden Aussteigern ist gleichzeitig der politischste Moment des Films: Granik greift die Debatte über die Behandlung von Schwarzen in den USA auf, ohne diese auch nur mit einem Wort zu erwähnen. Dennoch drängt sich die Frage auf, die Granik auch im Gespräch mit der „New York Times“ selbst stellt: Wie wäre die Polizei wohl verfahren, wenn Will kein weißer Veteran wäre?

Anstatt die beiden zu trennen, wird ihnen ein Neustart in „geordneten“ Verhältnissen ermöglicht – Auslöser für einen Konflikt, der sich durch den Rest des Films zieht. Denn während Tom den Kontakt zu Mitmenschen in einer Gemeinschaft zaghaft aber deutlich zu genießen scheint, ist ihr Vater durch seine Vergangenheit im Kampfgebiet offenbar nicht mehr in der Lage, unter Menschen zu leben.

Auf der ständigen Suche nach dem Zuhause

„Zuhause“ ist schließlich der Begriff, um den Granik einen Konflikt zwischen Tochter und Vater baut, der zunehmend unüberwindbar wird. Die Regisseurin begleitet die beiden, stets mit dokumentarisch angehauchtem Blick, durch verschiedene Stationen im Pazifischen Nordwesten der USA. Landschaft und Gefühlswelt wechseln sich in ihren Extremen ab – am eindrucksvollsten ist „Leave No Trace“, wenn optische Hochs und emotionale Tiefs aufeinandertreffen.

Filmstill aus „Leave No Trace“
Viennale
Für Will (Foster) und Tom führt der Weg aus dem grünen Idyll auch durch den Großstadtdschungel

Dass „Leave No Trace“ berührt, ohne kitschig zu werden (Kulisse ausgenommen), ist aber auch Verdienst von Foster und McKenzie, deren Zusammenspiel vor der Kamera keine Zweifel an der Beziehung der Figuren lässt. Besonders hervorzuheben ist McKenzie, die in ihrer Rolle als (laut Romanvorlage 13-jährige) Tochter mit ihrer emotionalen Bandbreite maßgeblich zur gefühlten Authentizität des Films beiträgt. Für Filmstar Jennifer Lawrence war Graniks „Winter’s Bone“ im Jahr 2010 einst ein Karrieresprungbrett – „Leave No Trace“ könnte denselben Effekt für die in Wirklichkeit 18-jährige Neuseeländerin McKenzie haben.

Ein Stück Herbst im Kinosaal

Letztendlich ist „Leave No Trace“ die filmische Antithese zum klassischen US-Roadmovie: Wald statt Straße, bedachte Gangart statt Küste-zu-Küste in Rekordgeschwindigkeit und, allen voran, nuancierte Emotion statt gefeierter Exzess. Oder: Keine Sommerparty, sondern eben eine leicht wehmütige Wanderung in den ausklingenden Herbst – befreiendes Schniefen, auch im Kinosaal, inklusive.