Filmstill aus „Under the Silver Lake“
Viennale

Die Wahrheit liegt in der Cornflakes-Packung

Ein Hundemörder, unterirdische Tunnel und das dunkle Geheimnis hinter „Smells Like Teen Spirit“: Los Angeles ist in „Under the Silver Lake“ Schauplatz vieler Mysterien. Ausgerechnet ein arbeitsloser Millennial glaubt, eine Antwort auf die großen Rätsel gefunden zu haben. Inmitten zahlreicher schöner, aber namenloser Frauen stellt sich im Zeitalter von „#MeToo“ aber vor allem die Frage: Ist das Kritik, oder kann das weg?

Wie Alfred Hitchcocks „Rear Window“ („Das Fenster zum Hof“) beginnt auch Filmemacher David Robert Mitchell mit dem Blick durch ein Fenster: Es ist die erste von vielen Anspielungen quer durch die Filmgeschichte in „Under the Silver Lake“. Auch sonst erinnern die ersten Minuten stark an Hitchcocks als Meisterwerk gefeierten Voyeurismus-Thriller aus dem Jahr 1954.

So etwa Protagonist Sam („Spider-Man“-Darsteller Andrew Garfield), der in seinem Apartment – Blick in den Innenhof inklusive – kaum weiß, was er mit seiner Freizeit anfangen soll. Kein Gipsbein, sondern das Hollywood-typische Schicksal Arbeitslosigkeit bringt ihn dazu, mit dem Fernglas die ältere Nachbarin zu beobachten, die sich bevorzugt oben ohne um ihre Vögel kümmert.

Ein Leben in Langeweile

Wenn er nicht gerade spechtelt, dann besänftigt Sam seine Mutter, die sich regelmäßig per Telefon nach seiner Arbeit erkundigt, masturbiert zu einem Jahrzehnte alten Playboy-Heft, oder hat Sex, zuerst mit einer, dann mit verschiedenen Frauen. Dass seine Miete überfällig ist und er kurz davor ist, auf die Straße gesetzt zu werden, unterstreicht seinen – euphemistisch ausgedrückt: – Mangel an Motivation. Es ist wohl Andrew Garfield zu vedanken, dass es überhaupt möglich ist, für den Protagonisten eine Form von Sympathie zu entwickeln.

Filmstill aus „Under the Silver Lake“
Viennale
Sam (Andrew Garfield) behält seine Nachbarinnen stets im Auge

Für Erregung in jeder Hinsicht sorgt in Sams Leben nur Sarah (Riley Keough), in Mitchells Film die einzige Frau mit einem Namen. Die unbekannte Schönheit mit ihrem Hund „Coca-Cola“, stets in Weiß gekleidet, verdreht Sam an nur einem einzigen Abend den Kopf – am nächsten Tag ist sie verschwunden, mitsamt dem Inhalt ihrer Wohnung.

Obsession für eine Unbekannte

Sam macht also, was wohl jeder Mann, der die laufende Frauendebatte in den USA bisher ignoriert hat, tun würde: Ohne sie richtig zu kennen steigt er ihr nach und muss sie um jeden Preis retten – auch wenn eigentlich unklar ist, wovor. Seine Besessenheit wird nur noch größer, als sich herausstellt, dass ihr etwas Schreckliches zugestoßen sein muss.

In Silver Lake, jenem Stadtteil von Los Angeles, in dem die Filmstudios der 1930er in letzter Zeit konsequent durch Yogastudios ersetzt wurden, braut sich nach und nach eine immer größere Verschwörung zusammen, der Sam nun auf den Grund gehen will. Unklar ist etwa, welche Rolle ein Hundemörder, von dem am Anfang die Rede ist, mit dem Verschwinden von Sarah zu tun haben könnte.

Frauen nur in der Nebenrolle

Der Protagonist gerät in der Folge an einen Verschwörungstheoretiker, der die Antwort auf alle Fragen auf einer Landkarte in einer Cornflakes-Schachtel vermutet, an die Indie-Band mit dem klingenden Namen Jesus & The Brides of Dracula und an unzählige Frauen. Alle ohne Namen, alle ohne Eigenschaften, alle Models, die in irgendeiner Form Teil der Unterhaltungsindustrie in Kalifornien sind, oder es zumindest gerne wären.

Filmstill aus „Under the Silver Lake“
Viennale
Sarah (Riley Keough) ist Sams Objekt der Begierde – dessen Besessenheit nimmt ungute Ausmaße an

Dass Mitchell hier das System in Hollywood kritisiert, das nach Berichten von Betroffenen vor allem Frauen systematisch ausbeutet, kann man zwar glauben – muss man aber nicht. Denn anstatt jedem Po in leinwandfüllender Großaufnahme etwas entgegenzusetzen, belohnt Mitchell seinen Protagonisten auch noch für sein Verhalten, mit dem er oft sämtliche Grenzen des respektvollen Miteinanders überschreitet. Bei den Frauen kommt er wenig nachvollziehbar (abgesehen davon, dass er von Garfield verkörpert wird) nämlich extrem gut an.

Wenn sich die Popkultur als Lüge entpuppt

Sein Trip quer durch das Stadtgebiet von Los Angeles führt Sam in der Folge nicht nur auf zahlreiche Partys, sondern auch in ein unterirdisches Tunnelsystem. Und dann gibt es anderer Stelle noch einen Songwriter, der alle Hits der letzten Jahrzehnte für sich reklamiert – unter anderem „Smells Like Teen Spirit“, das nicht auf einer Gitarre, sondern auf einem Piano entstanden sein soll. So viel zur Rebellion des Grunge in den 1990ern.

Hinweis

„Under the Silver Lake“ ist im Rahmen der Viennale noch am 8. November um 21.00 in der Wiener Urania zu sehen.

Je mehr Handlungsstränge Regisseur Mitchell anreißt, desto eher wirkt es, als wäre eine befriedigende Lösung in weiter Ferne – trotz Überlänge von knapp zweieinhalb Stunden. Aber auch das gehört wohl zu einer Hommage an den Film Noir dazu: Der „Red Herring“, ein Handlungsstrang, der vom eigentlichen Geschehen ablenken soll, war nicht nur in Hitchcocks Filmen beliebtes Stilmittel.

„Under the Silver Lake“ kommt auch optisch in der stets überzogen wirkenden Farbpracht des klassischen Hollywoodkinos daher, kaum noch benutzte Einstellungen und Überblendungen inklusive. Demgegenüber steht ein Soundtrack von Chiptune-Musiker Disasterpeace, der nicht nur für die akustische Untermalung für Mitchells „It Follows“ sorgte, das 2014 in Cannes für Begeisterung sorgte, sondern auch für Computerspiele wie „FEZ“.

„American Pie“ im Stile Hitchcocks

Mitchells erster Film wirkt nach dem Überraschungserfolg „It Follows“ vor allem so, als hätte sich der Filmemacher austoben wollen – und im Gegensatz zu seinen Figuren im Film auch finanziell die Möglichkeit dazu gehabt. Streckenweise wirkt das Ergebnis so, als hätte man Hitchcock damit beauftragt „American Pie“ oder „Scary Movie“ zu drehen – oder die Wayans-Brüder gebeten, eine Mischung aus David-Lynch- und Hitchcock-Film zu machen.

Der Optik, Akustik und Garfields Umsetzung seiner Rolle ist es zu verdanken, dass trotz vieler offener Baustellen am Ende nicht das Gefühl bleibt, knapp zweieinhalb Stunden in einem Kinosaal zur Gänze verschwendet zu haben. Um cleverer gesellschaftlicher Kommentar zu sein, mangelt es „Under the Silver Lake“ in erster Linie am Kommentar selbst – nur mit dem Finger auf den Status Quo zu zeigen und damit letztlich selbst mitzumachen reicht nicht.