Szene aus „Martin Eden“
© Viennale
„Martin Eden“

Die Tragödie eines Aufsteigers

Zum Finale zeigt Eva Sangiorgi die ambitionierteste italienische Produktion des Jahres: Regisseur Pietro Marcello verlegt Jack Londons tragischen Entwicklungsroman über den Emporkömmling „Martin Eden“ ins politisch gebeutelte Nachkriegsitalien.

Er ist ein Mann, der Frauen gefällt, einer, der an jedem Finger eine hat, in jedem Hafen fünf, wenn er will, Kellnerinnen, Mädchen am Strand. Seinen leuchtenden Augen, seinem offenen Lachen widersteht keine. Sie erobern ihn, und er genießt. Es ist ein Leben nach einfachen Regeln, das Martin Eden führt. Er arbeitet, er gibt sein Geld aus, er arbeitet wieder. Bis er dann – durch einen Zufall – eine andere Welt kennenlernt. Und alles wird anders.

Jack Londons „Martin Eden“, sein großer, teils autobiografischer Roman aus dem Jahr 1909, wurde mehrfach verfilmt, fürs Fernsehen, für die Bühne, sogar als Graphic Novel adaptiert. Es ist die Geschichte eines ruppigen, aber weltgewandten jungen Mannes, der ein Mädchen aus einer gebildeten Familie kennenlernt und – um sich ihrer würdig zu erweisen – zum Schriftsteller wird. Es ist der Entwicklungsroman eines Autodidakten und seine Tragödie. Nun, in einer Neuverfilmung, ist „Martin Eden“ der Abschluss der Viennale, 110 Jahre nach Ersterscheinung des Originalstoffs.

Szene aus „Martin Eden“
© Viennale
Er kann jede haben: Martin Eden (Luca Marinelli) und Elena Orsini (Jessica Cressy)

Clash der Kulturen

Der italienische Regisseur Pietro Marcello („Bella e perduta – Eine Reise durch Italien“, 2015) holt die Geschichte nach Neapel in die 1950er, 1960er und 1970er Jahre, da arbeitet Martin Eden (gespielt von Luca Marinelli) im Hafen und rettet eines Morgens am Pier einen Burschen vor einem betrunkenen Schläger. Der junge Mann nimmt ihn zum Dank mit nach Hause; es ist Arturo Orsini, jüngster Spross einer wohlhabenden Familie.

Die Orsinis sind Bourgeoisie, die sich selbst als liberal empfindet: Hier wird Klavier gespielt, es wird politisiert, und das alles mit Personal und im Palazzo, Papa hat ja immer noch die Fabrik. Martin, der Hafenarbeiter, kommt hier mit seinem sonst unschlagbaren Charme nicht mehr durch – und verliebt sich Hals über Kopf in Arturos ältere Schwester Elena Orsini (Jessica Cressy), die Tochter des Hauses. Sie lächelt ihn vielsagend an, spielt ihm Schubert vor und erzählt ihm von Literatur. Es ist ein Clash der Kulturen.

Schreibend nachdenken lernen

Martin will dazugehören, er will mehr, er will diese Frau lieben, und er will schreiben. Er liest italienische Grammatik, kauft sich eine Schreibmaschine und Bücher, gibt seinen Beruf auf und widmet sich mit unbedingter Leidenschaft nur noch dem Schreiben. Elena ermutigt ihn, während ihre Familie sich milde über ihn lustig macht. Martins Entschlossenheit beeindruckt Elena, doch dass er den ihm von Papa angebotenen lukrativen Buchhalterposten im Familienunternehmen nicht annehmen will, disqualifiziert ihn als Ehemann.

Parallel entwickelt sich in seinem Schreiben auch die Gewohnheit des immer klareren gesellschaftskritischen Denkens. Klassenunterschiede und die zwangsweise Zugehörigkeit zu einer Schicht sind für Martin unerträglich. Die Politik der linken Parteien ist ihm entweder zu dogmatisch oder zu unentschlossen. Und als nach tausend Absagen Martins Arbeiterklasseliteratur auf einmal Mode wird, empfindet er nach dem ersten Hochgefühl nur noch Ekel. Die, die ihn zuvor als ungehobelt ablehnten, gieren jetzt nach seiner Gegenwart.

Autobiografisch gemeint

Das Transponieren von Jack Londons Erzählung aus dem Jahrhundertwende-Oakland ins Italien des 20. Jahrhunderts, in das Land der unentwegten politischen Umbrüche, passt zum Stoff. Die Bruchlinien zwischen Hacklern und intellektuellen Linken, zwischen Individualismus und Kollektivismus, den Anarchisten, den Bürgerlichen, den Sozialisten und den Kommunisten sind authentisch und beziehen sich immer wieder auf konkrete politische Konflikte und Perioden. Dabei setzt der Film immer wieder desorientierende historische und geografische Sprünge, was freilich von der Erzählung ablenkt.

Szene aus „Martin Eden“
© Viennale
Regisseur Marcello verlegte Jack Londons Erzählung ins Italien des 20. Jahrhunderts

Unterfüttert ist „Martin Eden“ dabei mit dokumentarischen Bildern aus der jeweiligen Zeit, die in den rauen 35-Millimeter-Filmbildern keine Fremdkörper bleiben, sondern die Erzählung in der Wirklichkeit verankern. Martins Naivität, die ihm erst seinen unbedingten Aufstiegswillen erlaubt, stammt dafür spürbar aus dem 19. Jahrhundert – aber auch wieder nicht ganz: Regisseur Marcello betont gerne, als Filmemacher ebenfalls Autodidakt gewesen zu sein, sein Martin Eden ist – wie schon bei Jack London – zumindest partiell auch autobiografisch gemeint.

Filmhinweis

„Martin Eden" wird auf der Viennale am 6.11. um 19.30 Uhr (Abschlussgala) und um 23.00 Uhr im Gartenbaukino gezeigt, in Anwesenheit von Regisseur Pietro Marcello.

Der Film kommt im Frühjahr 2020 ins Kino.

Ein Cousin von „Lazzaro Felice“

Was als Bildungsroman begonnen hat, wird im Laufe des Films zu einem immer drastischeren Beispiel dafür, wie Ehrgeiz und der zwanghafte Wunsch nach Aufstieg einen Menschen in seiner Identität zugrunde richten kann. Dabei wird Martin, zu Beginn sanftäugiger Verliebter mit gewaltigem Sex Appeal, zu einer schrillen, zunehmend unangenehmen Figur, ein personifizierter Wutschrei gegen die Unmöglichkeit sozial gerechten Glücks für das Individuum. Für seinen Darsteller Marinelli gab es dafür in Venedig die Coppa Volpi, den Preis für den besten Schauspieler.

Auf eigentümliche Weise wirkt dieser Martin Eden wie der ehrgeizige Cousin von „Lazzaro Felice“, dem glückseligen Wiederauferstandenen aus Alice Rohrwachers proletarischer Heiligenlegende von 2018, mit der Direktorin Sangiorgi ihre erste Viennale im Vorjahr eröffnet hat. Ein gutes Ende nimmt keiner von beiden. Zumindest die Viennale 2019 hat mit „Martin Eden“ immerhin ein würdiges Finale gefunden.